Ost-West-Freizeit am Balaton

Ferien, als ob es die Mauer nicht gäbe

10:14 Minuten
Eine Jugendgruppe in Badesachen in einem Freibad am Balaton auf einem Foto 1984.
Aus Spaß schenkten die Jugendlichen dem westdeutschen Jugendleiter Max Dienel (ganz vorn) eine Trillerpfeife - und sorgten im Freibad am Plattensee für Aufsehen. © Max Dienel
Von Cornelia Saxe · 29.09.2019
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Im Sommer 1984 fuhr eine kirchliche Jugendgruppe Ost gemeinsam mit ihrer Partnergemeinde West an den Balaton in Ungarn. Manche verliebten sich ineinander. 35 Jahre später wecken ein Song und eine Anfrage bei Facebook Erinnerungen.
Vor ein paar Monaten erreicht mich über Facebook eine Nachricht. Jemand fragt, ob ich die bin, in die er bei einer Ost-West-Freizeit in Ungarn verliebt war. Unsere Teenager-Liebe hat ihn Jahrzehnte später zu einem Song inspiriert. Und er möchte, dass ich davon erfahre.
Ausschnitt Song-Text "A Winter's Tale" von Project: Patchwork:
Sitting here, looking out the window, /
I'm walking down memory lane. /
Large snow flakes are silently falling down the cold meadow. /
In my mind I see your face, we were so young / when we fell in love for the very first time.
Ich weiß sofort, wer mir da schreibt. Auch für mich ist dieser Sommer 1984 unvergesslich geblieben, als eine christliche Jugendgruppe aus Ostberlin mit einer Jugendgruppe aus dem westdeutschen Wuppertal gemeinsam am ungarischen Plattensee in den Ferien war. Wir lebten die Utopie, als kämen wir aus einem Land. Obwohl die Wiedervereinigung nur fünf Jahre entfernt lag, schien sie noch unvorstellbar. Doch die Grenzen, die uns damals trennten, verschwanden für zwei Wochen wie von Zauberhand.
Ein oranger VW-Bus mit einer Gruppe junger Leute und der Aufschrift "Baptists on tour" auf einem Foto von 1984
Mit diesem orangen Bulli fuhr die Wuppertaler Jugendgruppe 1984 an den Balaton.© Max Dienel

Austausch von alten Fotos über Whatsapp

We both knew there will be no future for us. /
We had strong feelings - more than words can say. /
Only for two weeks in Hungary. /
Our emotions flew in the face of reason, /
we belonged to a church group of our hometowns /
and spent the holidays together at the lakeside.
Der Song mit dem Titel "A Winter's Tale" auf dem Album "Project: Patchwork" erzählt von den Erinnerungen an diese erste Liebe während eines Urlaubs im Sommer und von einem Paar, das auf Grund der innerdeutschen Grenze keine Zukunft hat. Gerd Albers, der mich auf Facebook kontaktiert, war damals 17 und lebte in Wuppertal. Ich war Ostberlinerin und 16 Jahre alt. Sein Lied berührt mich. 35 Jahre später telefonieren wir lange und schicken uns Schwarz-Weiß-Fotos über Whatsapp. Wir wohnen noch in unseren Heimatstädten Berlin und Wuppertal, aber in einem gänzlich veränderten Land.
Wir sind beide verheiratet. Gerd arbeitet als IT-Ingenieur und macht nebenbei als Gitarrist und Schlagzeuger Musik. Als wir beide zufällig beruflich in Köln zu tun haben, treffen wir uns in einem Café am Hauptbahnhof. Wir sind aufgeregt, zumal ich das Aufnahmegerät dabei habe. Warum war für ihn, den Westler mit Reisefreiheit, diese Freizeit am Balaton anno 1984 so denkwürdig?
Gerd Albers: "In meinem Fall war es das erste Mal in meinem Leben, dass ich das Gefühl hatte, da ist ein weiblicher Mensch und es war völlig egal, ob der aus Ost oder West kommt, der sieht dich nicht als Bubi, als lächerlichen kleinen Jüngling, sondern der sieht dich als jungen Mann."
Er hat diese Geschichte der Sängerin seines Musikprojekts "Project Patchwork" Melanie Mau erzählt. Sie schreibt den Text und singt den Song. Gerd macht dazu die Musik.
Now I know the only thing that counts is to overcome existing boundaries. /
But I know it's difficult to change peoples mind /and clear up misunderstandings. /
But we're worth fighting for – but we had different ways of life.
Gerd Albers: "Was vielleicht bemerkenswert war, wie vollkommen entspannt und normal eigentlich das Miteinander zwischen Ost und West zu dem Zeitpunkt war. Man hat irgendeine Vorstellung, wie verhalten die sich, wie ticken die eigentlich. Letztendlich im Ergebnis kam heraus: genauso wie wir. Genauso normal. Genauso politisch. Genauso kontrovers. Genauso kritisch."
Haus am Balaton in Ungarn auf einem Foto von 1984.
In dem größten der drei Ferienhäuser am Balaton fanden die Bibelarbeiten statt.© Max Dienel

Die größte Sorge des Pastors aus dem Osten

Für mich beginnt mit seinem Lied eine Reise in die Vergangenheit. Ich möchte die wiedertreffen, die diese Begegnung damals ermöglicht haben und herausfinden, was uns damals zusammenschweißte und was trennend blieb. Zuerst fahre ich zu Pastor Werner Piel, der die gemeinsame Reise an den Balaton auf Ost-Seite verantwortet hat. Auch wir haben uns über 30 Jahre nicht gesehen. Er ist inzwischen 82. Neben vielen Gemeinsamkeiten erinnert er sich vor allem an die Unterschiede:
"Wir haben fast die gleichen Lieder gesungen. Die Jugendlichen aus der Bundesrepublik waren etwas erstaunt, so intensive Bibelarbeiten kannten sie nicht. Sie waren eigentlich gewöhnt, Spaß zu haben. Und sie waren also erstaunt: Drei Stunden Bibelarbeit! Das war eine Zumutung für sie, aber sie haben mitgemacht. Und fanden das zum Schluss gar nicht mal so tragisch."
Werner Piel war zu DDR-Zeiten Pastor einer baptistischen Gemeinde in Berlin-Schöneweide. Ich stamme aus einer atheistischen Familie. Als ich 15 bin, nehmen mich die Kinder einer befreundeten Familie in Piels Gemeinde mit. Hier höre ich das erste Mal etwas über Gott und Religion. Anders als in der Schule kann ich mich hier offen mit anderen darüber austauschen, wie sehr ich darunter leide, in einer geteilten Stadt zu leben. Die Besuche der Jugendlichen aus Westdeutschland machen die Gemeinde für mich zusätzlich attraktiv. Piels größte Sorge galt bei diesen Treffen nicht der Überwachung durch die Stasi, sondern:
"Meine Angst war immer, dass sich daraus Liebesbeziehungen entwickeln und ich meine Jugendlichen verliere. Dass die Ausreiseanträge stellen und da war ich immer sehr darauf bedacht. Nur es ließ sich nicht in jedem Fall verhindern. Es ist doch in einigen Fällen passiert, dass die Liebe stärker war. Und in einem Fall gab es dann doch einen Ausreiseantrag."

Die Lässigkeit der Mitreisenden aus dem Westen

Die gemeinsame Freizeit in Ungarn im Sommer 1984 ist der Höhepunkt der regelmäßigen Ost-West-Begegnungen. Zu verdanken sind sie den beiden Jugendleitern. Fast gleichzeitig richten Max Dienel in Wuppertal und Sören Schmidtmann in Ostberlin Anfang der 80er-Jahre ihre Bitte um eine Partnergemeinde an ihre Kirchenverbände. Der Bundesverband der Freikirchen in der Bundesrepublik bringt sie zusammen. Zufällig sind beide Anfang 20 und Medizinstudenten. Sören Schmidtmann arbeitet heute als Lungenarzt in Berlin-Marzahn. Er erinnert sich an die Lässigkeit der Mitreisenden aus dem Westen: "Zum Beispiel hätte ich mich mit meinen Jeans nie auf die Erde gesetzt. Aber die Wuppertaler haben sich überall, wenn's schön war, auf die Erde gesetzt. Das spielte keine Rolle. Ich hatte nur ein oder zwei solche Hosen und ich wusste, die müssen die nächsten Jahre noch halten. Ich hätte mich damit nicht auf den Boden gesetzt."
Und noch etwas fällt ihm ein: "Eine andere Erfahrung war, dass auch die spontane Kreativität bei den westdeutschen Jugendlichen eher ausgeprägt war als bei uns."

Er ist groß, blond und kann gut Gitarre spielen

Einer von ihnen ist Gerd Albers. Er ist groß, blond, kann gut Gitarre spielen und hat eine große Klappe. Wir wohnen mit den anderen in Ungarn in drei Ferienhäusern in gemischten Ost-West-WGs. Die Nachmittage verbringen wir im Freibad am Plattensee. Vormittags geht es bei der Bibelarbeit zum Beispiel um das Leben von Franz von Assisi, der auf Wohlstand verzichtete und in die Armut ging. Die Barmherzigkeit wird auf die Probe gestellt, als der westdeutsche Jugendleiter Max Dienel beim Schwarzgeldtausch für die Gruppe um 300 D-Mark betrogen wird. Als ich ihn in Bayern besuche, erinnert er sich an lange Debatten:
"Da war ganz interessant, dass die Jugendlichen aus der DDR geschlossen sagten: Wir sind hier gemeinsam im Urlaub. Also das sollten wir gemeinsam tragen. Das ist doch ganz klar. Und die Jugendlichen aus Westdeutschland sagten: Nö, das kann doch nicht sein, wenn der so doof ist, sich das Geld da klauen zu lassen, dass wir das jetzt bezahlen sollen. Dann wurde ich rausgeschickt und dann wurde letztlich doch entschieden, dass die Gruppe das trägt."
Dienel lebt inzwischen als leitender Oberarzt einer geriatrischen Klinik in Bayern. Er ist überzeugt, dass die Ernährung durch Industriekost der größte Menschenversuch der Geschichte sei. Ich lese seine verschwörungstheoretisch klingenden Internetseiten zu diesem Thema mit großem Befremden. Dennoch beeindruckt er mich bei unserem Wiedersehen mit seiner Neugier und gewinnenden Herzlichkeit. Von unserer Reise ist ihm ein besonderes Verständnis für Ostdeutsche geblieben:
"Als dann die Wende kam, haben unsere Jugendlichen und ich das viel intensiver erlebt, denk ich, als die Mitmenschen, die so gar keinen Kontakt zur DDR hatten. Es kam ja dann auch sehr schnell so eine Missstimmung auf: Ja, die wollen alle nur Geld haben vom Westen und wir sollen jetzt zahlen. Das waren Sachen, die habe ich und auch unsere Jugendlichen nicht verstanden. Da waren wir gefordert, mal ein bisschen aufzuklären."
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