"Fensterblicke"

Die Welt vor und hinter der Scheibe

05:21 Minuten
Die Schauspielerin Maya Deren steht in dem US-amerikanischen Avantgardefilm Meshes of the Afternoon an einem Fenster.
Die Schauspielerin und Regisseurin Maya Deren in dem US-amerikanischen Avantgardefilm "Meshes of the Afternoon" von 1943. © picture alliance/dpa/Ronald Grant Archive/Mary Evan
Von Fabian Saul · 01.04.2020
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Die reale Welt spielt sich für uns gerade hauptsächlich vor dem Fenster ab. In der neuen Serie „Fensterblicke“ schauen wir deshalb auf Kunstperspektiven hinter der gläsernen Wand: heute der Kurzfilm „Meshes of the Afternoon“ und “Do The Right Thing”.
Die Filmemacherin Maya Deren dreht 1943 den vielleicht einflussreichsten amerikanischen Avantgardefilm: "Meshes of the Afternoon". Die Protagonistin steht am Fenster, das mehr und mehr zu einer Membran zwischen Traum und Wachzustand wird; ein Labyrinth von sich wiederholenden Bildern, bei dem es immer schwieriger wird zu sagen, was Wirklichkeit ist und was Traum. Maya Deren zeigt, wie im Kino die Bedingungen von Fiktion und Realität zusammenfallen. Die eine hebt die andere nicht auf. Das Medium dafür ist das Fenster.
Im Fenster zeigt sich die Welt als Ausschnitt - gerahmt, eine Projektion auf einem Screen. Vielleicht verweist kein anderer Blick so deutlich auf unser cineastisches Verhältnis zur Welt, stellt die Frage nach der gebauten Wirklichkeit als kollektiver Fiktion.

Wir sehen – hundert andere Fenster

Architektur wiederholt sich dabei ständig, imitiert ihre eigenen Gesten, Haus, Fenster, Fenster, Säule, Wand, Tür, Tür, Straße, Straße, Straße, Stadt für Stadt. Wir schauen aus dem Fenster und sehen: hundert andere Fenster – ein geradezu hypnotischer Effekt.
Wir blicken auf ein Gebäude und werden von seiner Realität überwältigt, akzeptieren es – Normalzustand –, ohne das enorme Potential an Macht, Fiktion und Kapital zu erkennen. Das ist problematisch, denn die Fiktionen der Architektur haben "echte" Konsequenzen, sie schaffen die Lebensrealitäten der Menschen, die in der von ihr geschaffenen Gesellschaft leben.

Szene aus dem Film "Do The Right Thing" von Regisseur Spike Lee aus dem Jahr 1989. Vor einer roten Hauswand sitzen bei glühender Hitze drei Männer unter einem Sonnenschirm.
In "Do The Right Thing" von Regisseur Spike Lee beobachtet ein Radiomoderator aus einem Schaufenster heraus das Geschehen.© imago images/Prod.DB
Brooklyn. 1989. Der heißeste Tag des Jahres. In Spike Lees Film "Do The Right Thing" verdichten sich an einem Tag die Spannungen einer Nachbarschaft. Zwischen Konzepten der Liebe und des Hasses, zwischen Martin Luther King und Malcolm X, zeigt Spike Lee die Probleme von systematischem Rassismus auf.

Auch wir vor dem Bildschirm werden angesprochen

Die Figur, die uns durch diesen heißesten Tag des Jahres führt, ist Mister Señor Love Daddy, der Radiomoderator der Nachbarschaft. Er sitzt hinter einem Schaufenster im Erdgeschoss und moderiert den Tag mit Blick auf die Straße. Immer wieder wechselt er die Perspektiven. Er spricht die Menschen auf der Straße und uns am Bildschirm gleichermaßen an, zeigt uns unsere Trägheit für Veränderungen auf, entlarvt unsere kritiklose Akzeptanz rassistischer Strukturen.
Der Blick aus dem Fenster ist hier ein kritischer Blick, mit gewisser Distanz erkennt er die Struktur der Probleme. Er zeigt uns: Es lohnt sich, die normierte Version von Wirklichkeit, die wir Normalität nennen, zu hinterfragen. Denn eines ist sicher: Die Welt von morgen ist fragiler, als wir oft meinen. Das Fiktive der Realität zu erkennen, wie Maya Deren uns anfangs gezeigt hat, darin liegt dann – mit Spike Lee gedacht – ein radikaler, ein kreativer Kern.
Fiktion meint nicht länger Traum im Sinne von Weltflucht in einen vagen Optimismus, sondern eine kritische Zuwendung. Wacht auf, denn die Realitäten von morgen werden jetzt gedacht und gemacht. Der Mic-drop dazu kommt von Mister Señor Love Daddy selbst.
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