Feminismus und Literatur

Ironische Weiblichkeit und neue literarische Themen

Eine junge Frau sitzt auf einer Parkbank und liest ein Buch.
Lange galt: Frauen lesen, sind aber als Schriftstellerinnnen unterrepräsentiert. Inzwischen gibt es auch queere und feministische Literaturkanons. © Unsplash / thought catalog
Theresia Enzensberger und Katja Lange-Müller im Gespräch mit Joachim Scholl · 04.12.2018
Der klassische Literaturkanon war lange ziemlich männlich. Hat die feministische Bewegung der letzten 50 Jahre daran etwas verändert? Darüber diskutieren die Schriftstellerinnen Katja Lange-Müller und Theresia Enzensberger.
Scholl: War das bei Ihnen auch so, Frau Lange-Müller, Schulstoff, weibliche Literatur Fehlanzeige?
Lange-Müller: Ja, das kann ich leider, obwohl ich ja in der DDR sozialisiert worden bin und man da irgendwie früher die Pille hatte und früher die Abtreibung erlaubt und legal war. Dennoch gab es im Schulstoff, außer Droste-Hülshoff, ehrlich gesagt, wirklich keine Literatur von Frauen.
Scholl: Frauen Enzensberger, Sie sind eine Generation jünger als Katja Lange-Müller, in den 1990er-Jahren zur Schule gegangen, wenn ich richtig gerechnet habe. War da Schulkanon auch immer noch so männlich?
Enzensberger: Ja, da hat sich auch nicht viel geändert. Und ich habe dann erst im Studium eigentlich die für mich aufregenden weiblichen Autorinnen kennengelernt.

Früher hieß es, "Frauen schreiben anders"

Scholl: Nun ist der Name Marcel Reich-Ranicki gerade gefallen, den haben Sie, Frau Lange-Müller ja noch weidlich erlebt, so jene Anthologie "Frauen schreiben anders". Das klingt heute richtig drollig. So ein Buchtitel ist heute unvorstellbar, oder?
Lange-Müller: Ja, anders stimmt ja vielleicht sogar. Aber wenn man das in den Titel setzt, ist es natürlich schon fast eine kleine Denunziation.
Scholl: Da müssen Sie eigentlich lachen, Frau Enzensberger, über so einen Titel, dass sowas mal möglich war.
Enzensberger: Ja, das ist schon irre. Auch manchmal, wenn man sich so diese Talkshows von früher anschaut, was die Leute da gesagt haben zum Teil, das kann man sich heute nicht mehr vorstellen.
Schriftstellerin Theresia Enzensberger
Theresia Enzensbergers Roman "Blaupause" wird oft als feministischer Roman wahrgenommen. Dabei sei das gar nicht intendiert.© Rosanna Graf
Scholl: Ich meine, Reich-Ranicki war ja auch so ein großer Kanoniker, so seine diversen Kanones, die er immer wieder veröffentlicht hat, waren zu seiner Zeit kaum umstritten, was männliche, weibliche Anteile angeht. In diesem Sommer nun gab es eine ordentliche Kontroverse um einen neueren Kanon, den ein Redakteur der "Zeit" veröffentlicht hat. Prompt wurde ein Gegenkanon veröffentlicht mit weiblicher und queerer Gewichtung. Frau Enzensberger, wie triftig und bedeutsam ist so eine Diskussion eigentlich für Sie als Autorin oder für Ihre Generation, interessiert Sie das eigentlich überhaupt noch, solche Kanondebatten?
Enzensberger: Ja. Also ich meine, da geht es ja einfach um Repräsentation, und dann wird oft gerne das Argument gebracht, dass die Frauen es eben nicht so leicht hatten damals zu schreiben, und deswegen haben sie dann auch nicht geschrieben, und dementsprechend gibt es weniger Auswahl. Das halte ich natürlich für falsch. Da muss man nicht mal Germanistik studiert haben, um zu wissen, dass das nicht stimmt. Natürlich wäre es wünschenswert, dass man mehr Perspektiven auch aus verschiedenen Jahrhunderten liest.
Scholl: Sie, Frau Lange-Müller, sind nun schon seit bald 40 Jahren an Deck als Autorin, kann man sagen, haben sich durchgesetzt.
Lange-Müller: Manchmal auch unter Deck!
Scholl: Aber auf jeden Fall immer stabil auf den Planken mit vielen preisgekrönten Büchern auch! Was sagen Sie denn? Ist das am Ende immer wieder so derselbe Mechanismus, so von männlicher Dominanz im literarischen Leben, also wenn es um solche Kanongeschichten geht oder hakt das doch inzwischen? Was würden Sie sagen?
Lange-Müller: Na ja, also das Wort Kanon ist ja erst mal kein so negatives, weil ein Kanon ist ein mindestens zwei-, meist aber mehrstimmiger Gesang.
Scholl: Im Ursprung ja!

Frauen bestimmten den Open-Mic-Wettbewerb

Lange-Müller: Das kann man der Literatur ja nur wünschen. Allerdings dieser ewige Streit um die Priorität, also wessen Werke sind wichtiger oder erfolgreicher, das wird natürlich mit der Zeit fad und langweilig und auch irgendwie ein bisschen gegenstandslos.
Scholl: Ich meine, Sie waren gerade beim Open-Mic-Wettbewerb als Jurorin.
Lange-Müller: Genau.
Scholl: Wie war denn Ihr Eindruck von den Autorinnen dort? Schreiben die wirklich anders heute?
Lange-Müller: Es beginnt ja schon mal damit, dass von den 20, die dann letztlich in die Endrunde geraten sind, 12 Frauen waren und nur acht Männer.
Scholl: Ist ja schon mal gut.
Lange-Müller: Ich glaube, das war zum ersten Mal so, dass die Frauen tatsächlich in der Überzahl waren.
Scholl: Und was würden Sie jetzt sagen, vom Tenor der Texte?
Lange-Müller: Vom Tenor der Texte, das war ziemlich interessant. Also gewonnen haben im Grunde drei Frauen und ein Mann. Also die eine hat den Preis der "FAZ" gekriegt, das waren Gedichte, und die andere war auch eine Dichterin, und Prosaautorin nur eine, Yade Yasemin Önder, eine junge Frau mit türkischen Wurzeln, und der Titel der Prosa, die sie las, hieß "Bulimieminiaturen", was ja schon ziemlich weiblich klingt erst mal. Es geht sehr wohl um Weibliches, aber das auf eine selbstironische Art und respektlos gegenüber den eher unwichtigen männlichen Figuren.

Ein feministisches Buch war nicht der Plan

Scholl: Frau Enzensberger, Sie haben sich ja zunächst als Journalistin einen guten Namen gemacht. Jetzt nach Ihrem ersten Roman, der 2017 erschienen ist, feiert man Sie auch als Schriftstellerin. In dem Buch, da erzählen Sie die Geschichte einer Frau im Bauhaus der 1920er-Jahre, natürlich männlich dominierte Sphäre damals. Was hat Sie daran interessiert? Also für unsere Diskussion würde man sagen, ah ja, na klar, die Emanzipationsgeschichte.
Enzensberger: Ja, das ist interessant, wie das ist. Dieses Buch wird oft als feministisches Buch wahrgenommen, weil es eben unter anderem auch darum geht, wie schwierig es war als Frau, damals im Bauhaus sich durchzusetzen, aber am Ende des Tages habe ich ja nur aus einer weiblichen Perspektive geschrieben und das aufgeschrieben, was einem so widerfährt, wenn man versucht, sich irgendwo durchzusetzen. Das heißt nicht, dass ich was gegen dieses Label habe, also dass ich mich jetzt nicht hingesetzt habe und gesagt habe, Mensch, da müssen wir doch mal was machen, ich muss jetzt irgendwie ein feministisches Buch schreiben, und dann gehe ich doch einfach mal 100 Jahre zurück, dann ist das einfacher oder so. Das war jetzt nicht der Plan.
Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller
Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller wuchs in der DDR auf und erlebte dort als Autorin Gleichberechtigung.© dpa
Scholl: Was hat der Feminismus der letzten Jahrzehnte für die Literatur gebracht? Für die Emanzipation von Frauen? Was hat sich verändert? Das wollen wir jetzt fragen. Sie, Katja Lange-Müller, sind ja in der DDR geboren, aufgewachsen. Wie ist man eigentlich dort schreibenden Frauen begegnet, wie haben Sie das erlebt?
Lange-Müller: Na ja, natürlich erst mal mit der Haltung, dass die vollständig gleichberechtigt sind, und die hatten keinerlei Probleme, an die Verlage heranzutreten. Sie hatten die gleichen Probleme dann nur wie die Männer. Das musste schon alles sozusagen den Sozialismus bejahend und das politische Engagement der Menschen stärkend sein, nicht kritisch, gerne auch ein bisschen putzig. Also es gab da schon auch einige Figuren, die viel geschrieben haben und viel veröffentlicht haben, viel besprochen worden sind. Ich überlege jetzt gerade mal, wie die alle hießen. Das ist mir nicht mehr ganz präsent. Franziska Linkerhand", natürlich Christa Wolf war eine Gallionsfigur. Die war schon eine sehr, sehr wichtige Autorin.
Scholl: Brigitte Reimann.
Lange-Müller: Brigitte Reimann, richtig. Dann gab es noch eine Österreicherin, eine in der DDR lebenden Österreicherin, deren Name mir gerade nicht einfällt. Aber es gab schon doch viele namhafte Autorinnen.
Scholl: Sie haben ab 1979 am Johannes-R.-Becher-Institut studiert, 1984 haben Sie dann die DDR verlassen. Wie war das dann im Westen für Sie? Ich meine, die Frauenbewegung war ja zu dieser Zeit so noch voll im Schwung. Wie haben Sie das wahrgenommen?

Einst waren schon Frauen mit BH verdächtig

Lange-Müller: Absolut, das kann man so sagen. Das hat mich auch überrascht, also dass war sofort korrigiert wurde, wenn man sagte, ich habe Schriftsetzer gelernt, dann hatte man natürlich gefälligst Schriftsetzerin gelernt zu haben. Das war die Zeit, wo Frauen mit BH schon verdächtig waren. Das wurde alles wahrgenommen, und man wurde zurechtgewiesen.
Scholl: Hat Sie das denn beflügelt als Autorin?
Lange-Müller: Wie bitte?
Scholl: Hat Sie das beeinflusst, vielleicht sogar auch beflügelt als Autorin, dass da doch jetzt so eine starke Weiblichkeit da auch in der Öffentlichkeit diskutiert hatte?
Lange-Müller: Ja, das hat mich schwer interessiert und hat mich irgendwie auch amüsiert zunächst, bis ich merkte, dass das doch unter die Epidermis geht und das damit mehr gemeint ist als irgendwelche antimodischen Attitüden oder so. Aber es hat tatsächlich einen Moment gedauert, eh ich anfing mich mit der Ernsthaftigkeit auch dieses Kampfes zu beschäftigen, der im Westen tatsächlich wichtig war.
"Ich bin leider unbewandert, was die Geschichte des Feminismus in der DDR angeht"
Scholl: Wie sehen Sie das, Theresia Enzensberger, sehen Sie sich als Profiteurin eigentlich, jetzt auch als Autorin dieser Streiterinnen von einst?
Enzensberger: Ja, sicher. Also wenn ich so zurückgucke. Ich bin leider schändlich unbewandert, was die Geschichte des Feminismus in der DDR angeht. Aber wenn ich so zurückschaue auf die 70er-, 80er-Jahre in Westdeutschland, muss ich sagen, dass diese Alice-Schwarzer-Geschichte mir nicht so nahe ist. Also ich habe das Gefühl, das ist ja auch sehr divers. Das wird im Nachhinein immer sehr so in eins gepackt, aber da gab es ja auch anarchistischere Ansätze. Also so der Feminismus von Silvia Bovenschen oder Gabriele Goettle ist mir persönlich näher als diese Sache, die sehr publikumswirksam durch die "Emma" dann rausgetragen wurde.

Schreiben junge Frauen über andere Themen?

Scholl: Was, würden Sie sagen, haben diese beiden Debatten für die Literatur, für weibliches Schreiben, wie man es dann immer genannt hat, bewirkt? Gab es da einen Effekt, für Sie auch beide vielleicht? Frau Lange-Müller?
Lange-Müller: Also inwiefern das jetzt essayistisch oder theoretisch eine Rolle gespielt haben mag, interessiert mich weniger, hat mich immer weniger interessiert, mehr die literaturpraktische Anwendung bestimmter Errungenschaften, so möchte ich das mal nennen. Und die ist natürlich bemerkenswert. Ich habe in der letzten Zeit relativ viele Bücher von jüngeren Autorinnen gelesen, und dann merkt man schon einen gewaltigen Sprung. Die Bücher und Texte der jüngeren Autorinnen beschäftigen sich kaum noch mit den sogenannten Mann-Frau-Beziehungskisten oder mit dezidiert weiblicher Identität, sondern auffallend oft mit Lebensentwürfen, dem, was Menschen, logischerweise auch weibliche Menschen, beschäftigt, Zukunft, gesellschaftliche Realität, die Suche nach dem eigenen Weg und den Widerständen, mit denen dieser Weg quasi gepflastert ist. Das rückt ganz stark in den Fokus der Aufmerksamkeit in der Literatur jüngerer Frauen.
Scholl: Wir haben eine jüngere Frau, eine jüngere Autorin hier im Studio. Theresia Enzensberger, würden Sie dem zustimmen, was Katja Lange-Müller hier sagt? Also weniger Identität, weniger Mann–Frau, sondern doch der Fokus auf anderes?
Enzensberger: Das ist dann, finde ich, schon immer wahnsinnig schwierig zu sagen, weil zu den menschlichen Erfahrungen gehört natürlich auch die spezifische Erfahrung, als der Mann, der der Protagonist vielleicht ist. Aber wenn Sie da eine größere Freiheit beobachten, dann freut mich das natürlich erst mal, weil das ist ja schon auch ein Korsett, wenn man immer sich definiert gegenüber dem anderen.
Lange-Müller: Genau das meine ich, dass man sich nicht mehr so sehr in eine widerständige Beziehung zu männlichen Weltentwürfen setzt. Ich sage jetzt einfach mal so ein paar Namen: Nina Bußmann, da geht es um zwei Wissenschaftlerinnen in "Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmmolzen", die sich in Nicaragua sozusagen mit der Weltwirklichkeit herumschlagen. Die eine verschwindet, die andere sucht sie, und beide suchen natürlich eigentlich nach ihrer Rolle in der Welt. So klar muss man das schon definieren.
Enzensberger: Und das ist natürlich dann auch einfach ein freieres Rollenverständnis. Also ich habe gerade eine tolle Amerikanerin gelesen, die heißt Ottessa Moshfegh, die schreibt darüber, die Protagonistin schläft ein Jahr lang, und das ist so eine Art weibliche Ennui, was natürlich auch was ist, wofür es vielleicht so eine Art Freiheit braucht, um überhaupt das aufzugreifen oder das der weiblichen Protagonistin zu erlauben.
Scholl: Das ist ein wunderbarer Buchtipp von Theresia Enzensberger zum Abschluss unseres Gesprächs. Ich habe den Roman auch gelesen, und ich habe mich, ehrlich gesagt, weggeschmissen über diese weibliche Heldin, die einfach sagt, ein Jahr lang steige ich aus und sich dann dermaßen zudröhnt mit Alkohol und Tabletten, alles in New York City. Der Titel lautet: "Mein Jahr der Ruhe und Entspannung". Es ist ein großartiges Buch. Ich danke Ihnen beiden sehr, Katja Lange-Müller aus der Schweiz, schön, dass Sie sich Zeit genommen haben da hoch oben im Gebirge.
Lange-Müller: Ja gerne!
Scholl: Theresia Enzensberger war aus München zugeschaltet. Literatur und Feminismus und über diesen Zusammenhang haben wir uns unterhalten. Danke Ihnen beiden, alles Gute!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema