Felix Bohr: "Die Kriegsverbrecherlobby"

Gehätschelte Massenmörder

Herbert Kappler wird in den Gerichtssaal geführt.
Der NS-Kriegsverbrecher Herbert Kappler bei seinem Prozess in Rom 1947. © Suhrkamp/dpa
Von Marko Martin · 03.12.2018
Wie aus NS-Tätern plötzlich "Kriegsverurteilte" wurden: Felix Bohrs Studie "Die Kriegsverbrecherlobby" spürt einem bislang unterschätzten Skandalon der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte nach.
Es hat sich eingebürgert, die sogenannte "Vergangenheitsaufarbeitung" der alten Bundesrepublik in Phasen einzuteilen, diese jedoch in mehr oder minder ahistorischen Schlagworten zu beschreiben: Von der "Adenauer-Restauration" über den "Aufbruch von ´68" und "die Zäsur der sozialliberalen Koalition" bis zum vermeintlichen "Befreiungsschlag" der Weizsäcker-Rede vom 8. Mai 1985.
Dazwischen das als kurzen peinlichen Rückfall erinnerte "Bitburg", bei dem Kanzler Kohl und der damalige US-Präsident Ronald Reagan einen Soldatenfriedhof besucht hatten, auf dem sich auch die Gräber von SS-Leuten befanden. Einer solch linearen Geschichtsauffassung widerspricht das Buch "Die Kriegsverbrecherlobby" des 1982 geborenen Historikers Felix Bohr.

Spät aufgedecktes Skandalon

Anhand erstmals zugänglicher Dokumente des Auswärtigen Amtes, des Bundesarchivs sowie des BND und des Verfassungsschutzes beschreibt Bohr detailliert, wie alle Bundesregierungen bis 1989 sich für NS-Kriegsverbrecher einsetzten, die in Italien und den Niederlanden rechtkräftig verurteilt worden waren.
Dass es sich dabei "nur" um fünf, späterhin drei Fälle handelte, nimmt dem Skandalon nichts von seiner Brisanz: SS-Obersturmbannführer Herbert Kappler war für das Massaker in den römischen Fosse Ardeatine verantwortlich, und die sogenannten "Vier von Breda" (benannt nach der Stadt ihres Nachkriegs-Gefängnisses) trugen Verantwortung für die Deportation tausender holländischer Juden.
Verstörend, dass selbst ein integrer Antinazi wie Willy Brandt sich offensichtlich genötigt sah, bei Staatsbesuchen "das Los" dieser Leute anzusprechen – in der Hoffnung, dass ihm die deutsche Rechte derlei Engagement danke und weniger gegen seine "Neue Ostpolitik" hetze.

"Kaschierung der Schuld"

Mit den Jahren gingen Politiker und Diplomaten dann diskreter vor, mieden die Öffentlichkeit, insistierten jedoch weiter mit einem Nachdruck, der in Italien und den Niederlanden nur verstören konnte. Obwohl in den 70er- und 80er-Jahren die bis dahin überaus einflussreichen Lobby-Organisationen ehemaliger Wehrmachtsoldaten und SS-Mitglieder kaum noch eine Rolle spielten, hatte sogar die bundesdeutsche Diplomatie deren Vokabular übernommen – und sprach vernebelnd von "Versöhnung" und "Kriegsverurteilten":
"Sie stellte nicht die Taten der Männer in den Mittelpunkt, sondern deren Verurteilung – und leistete damit einer Kaschierung der Schuld Vorschub."
Die letzten zwei der in Breda Einsitzenden wurden schließlich im Januar 1989 entlassen - zu einer Zeit, als zahlreiche ihrer überlebenden Opfer noch immer um Aufmerksamkeit und simple Pensionsansprüche kämpfen mussten.

Verdienstvolle Studie

Felix Bohrs enorm materialreiche Studie ist verdienstvoll – ein Antidot zu gängigen, mitunter allzu selbstgewissen Geschichtserzählungen.
Umso bedauerlicher, dass in seinem unfangreichen Literatur- und Personenregister der Name Ralph Giordano fehlt. Dabei war es dessen 1987 erschienene und damals noch hoch umstrittene Pionierarbeit über "Die zweite Schuld", die das Terrain bereitet hatte für Debatten über bundesdeutsche Aufarbeitungs-Mythen. Es wäre mehr als angemessen gewesen, im Rahmen dieses aktuellen Buches an den großen, tapferen Aufklärer zu erinnern.

Felix Bohr: Die Kriegsverbrecherlobby. Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018
558 Seiten, 28 Euro

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