Alte und seltene Bücher

Fingerspitzenberührung mit der Ewigkeit

Antiquar Jörn Günther präsentiert auf der Stuttgarter Antiquariatsmesse 2004 das Corbet-Stundenbuch, eine illuminierte Handschrift auf Pergament. Es ist um 1325 bis 1330 in England entstanden und wird für 650.000 Euro angeboten.
Antiquar Jörn Günther präsentiert auf der Stuttgarter Antiquariatsmesse 2004 das Corbet-Stundenbuch, eine illuminierte Handschrift auf Pergament. Es ist um 1325 bis 1330 in England entstanden und wird für 650.000 Euro angeboten. © dpa / picture alliance / Norbert Försterling
Von Andreas Schäfer · 02.10.2015
Je mehr Bücher elektronisch verfügbar werden, desto auratischer wirkt das Original, desto begehrenswerter wird offenbar das Buch als Objekt. Der Markt für hochpreisige Kunstbücher, für alte Handschriften oder Frühdrucke aus dem 16. Jahrhundert boomt. Was macht die Faszination dieser Bücher aus?
Jörn Günther: "Das ist ja das Schönste. Die Schatzsuche. Das ist das, was mich motiviert. Sachen ans Tageslicht zu bringen, die Jahrhunderte verschollen waren. Da gibt es Fantastisches. Da arbeite ich teilweise Jahrzehnte dran, um den Schatz dann zu heben."
Jürgen Seuss: "Du brauchst einen Leibniz im Original... Einen Pufendorf brauchst du im Original... Einen Wieland brauchst du im Original."
Diese Geschichte handelt von alten und seltenen Büchern, von mittelalterlichen Handschriften, Erstausgaben aus dem 18. Jahrhundert oder aufwändig hergestellten Kunstbüchern − und von der Begeisterung für sie.
Jörn Günther: "Diese Handschrift ist ein Unikat. Und ist zuletzt 1505 bei Isabella aufgetaucht und war dann 500 Jahre verschollen."
Jürgen Seuss: "Und plötzlich sind Sie mittendrin in dem Betrieb. Sie riechen das, Sie fühlen das... Ist das nicht 'ne tolle Sache... Das ist die Erstausgabe... Das kriegst du mit dem Internet nicht, das kriegst du auch mit dem Wischer... kriegst du diese ganzen Gefühle nicht."
Da haben wir es! Das Zauber- oder Schreckenswort, das quasi automatisch zu Beginn einer Geschichte über Bücher, auch über alte und seltene Bücher, fallen muss. Denn das Internet wirbelt bekanntlich den Buchhandel mächtig durcheinander. Online-Händler wie Amazon bedrohen die Buchläden, der steigende Absatz von E-Books stellt die klassischen Verlage vor große Herausforderungen. Eher abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit vollziehen sich dagegen die Veränderungen auf dem kleinen Spezialmarkt für antiquarische und seltene Bücher – obwohl sie genauso einschneidend sind. Der Online-Handel über Plattformen wie ZVAB, das "Zentralverzeichnis antiquarischer Bücher", oder Abebooks haben zu einer Preistransparenz und damit zu einem katastrophalen Preisverfall geführt, weil kaum jemand mehr bereit ist, für ein Buch beim Antiquariat um die Ecke mehr zu zahlen als für das günstigste Angebot im Internet. Abgesehen davon, dass gedruckte Bücher ohnehin immer weniger gekauft werden.
Achim Lederle: "Das Problem ist, dass junge Leute immer weniger gedruckte Bücher kaufen. Das macht dem klassischen Antiquariatshandel extrem zu schaffen. Deswegen machen viele Antiquariate dicht, vor allem Präsenzantiquariate können sich die Miete nicht mehr leisten und schließen."
Günstige antiquarische Bücher werden immer wertloser. Das ist die eine Seite. Andererseits löst die Digitalisierung zunehmend eine Sehnsucht nach dem gut Gemachten, nach dem Edlen und Seltenen aus. Je mehr Bücher elektronisch verfügbar werden, desto auratischer wirkt das Original, desto begehrenswerter wird offenbar das Buch als Objekt.
Achim Lederle: "Die Szene boomt. In Deutschland, aber auch in den USA. Das sehen Sie daran, wenn Sie mal auf die Buchmessen gehen, gerade in Leipzig, einen Riesenbereich: Buchkunst."
Das sagt Achim Lederle, der moderne Pressendrucke sammelt − aufwändig illustrierte Kunst-Bücher aus edlen Materialien wie mit Intarsien versehenes Leder oder handgeschöpftes Papier. Aber auch das Interesse für hochpreisige alte Bücher, für Handschriften oder frühe Drucke aus dem 16. Jahrhundert ist gestiegen. Im Januar 2014 kam das legendäre Rothschild-Gebetbuch, eine mit Miniaturmalereien versehene Handschrift, bei Sothebys in New York für den Rekordpreis von 13,6 Millionen Dollar unter den Hammer und gilt damals als das bislang teuerste Stundenbuch.
Für den Antiquar Jörn Günther, der im allerhöchsten Preissegment handelt, stellt sich die Situation so dar: "Es ist einfacher, ein Buch für 300.000 Euro zu verkaufen als eines für 35.000."
Auch wenn diese Zahlen absurd anmuten – wer jemals ein mittelalterliches Stundenbuch oder eine mit Miniaturen versehene Bibel in den Händen gehalten hat, wird die Faszination verstehen. Altes Wissen auf kostbarem Papier. Die Ehrfurcht vor der Ausdauer des Schreibers vermischt sich mit der Bewunderung für die Malerei und der Faszination angesichts noch immer strahlender Farben zu dem rätselhaften Eindruck, ein Stück Ewigkeit zwischen den Fingern zu halten. Oder was sonst macht die Aura seltener Bücher aus?
Im Auktionshaus: "Der Erste nach so langer Zeit"
"Wer den Moment schnell zu benutzen weiß, ist ein Genie der Klugheit."
(Johann Kaspar Lavater)
Harald Damaschke: "Hier sind noch weitere Räumlichkeiten der Alten Kunst und hier werden die Gemälde bearbeitet, Grafik und Handzeichnungen. Das ist hier links, hier sind wir zu dritt und bearbeiten die Bücher, die dann auf der Buchauktion versteigert werden und auch die Autographen und Handschriften."
Eine efeuumrankte, verwunschene Villa in Berlin-Grunewald mit sympathisch verblichenen Tapeten und Dielen, die bei jedem Schritt knarzen. Hier steht in einem kleinen Erdgeschossraum Harald Damaschke, Ende 30, blonde Locken, ruhige, hanseatische Art – während im benachbarten Saal gerade Fotos versteigert werden.
Harald Damaschke: "Ich arbeite in dem Berliner Auktionshaus Galerie Gerda Bassenge in der Buchabteilung und bin dort zuständig für die Katalogisierung und die Bewertung der Bücher, die wir versteigern zweimal im Jahr."
Die Auktionshäuser sind sozusagen die neuen Antiquariate. Denn während Antiquariate schließen, geht es den Auktionshäusern wirtschaftlich gut. Sie können sich auf hochpreisige seltene Bücher konzentrieren. Die Galerie Gerda Bassenge ist in Berlin alt eingesessen und versteigert seit 1963 Kunst und Bücher.
Unterdessen gleitet der Blick Harald Damaschkes in seinem kleinen Büro die Fächer eines Regals hinauf. Er zieht ein Büchlein heraus, und man merkt gleich: Liebe geht durch die Hände. Zumindest was die Liebe zu alten Büchern angeht. Er dreht und wendet das Buch vorsichtig, betrachtet den Rückenschild und die Kapitale, bevor er es aufschlägt:
"Das ist ein kleines Bändchen, das ich vor kurzem bearbeitet habe. Der Titel lautet 'Vermischte unphysiognomische Regeln zur Selbst und Menschenkenntnis.' Das ist von Johann Kaspar Lavater, und er hat hier auch tatsächlich eigenhändig seinen Namen unter diesen Titel gesetzt. Und er hat auch hier auf dem Vorsatzpapier eine Widmung."
Das Besondere an dem Bändchen: Es enthält noch Einträge der späteren Besitzer, so dass sich die Geschichte des Bandes vom Ende des 18. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts nachvollziehen lässt. Neben dem bläulichen Büttenpapier und dem zeitgenössischen Einband sind es vor allem diese handschriftlichen Eintragungen, die das Buch für Sammler interessant machen. Auf der nächsten Auktion wird es mit 400 bis 500 Euro angesetzt. Johann Kaspar Lavater, der Schweizer Pfarrer und aufklärerische Schriftsteller, der darin Tipps zur Lebensführung gibt, ist natürlich kein Goethe. Eine Erstausgabe von Johann Wolfgang von Goethe ist für den klassischen Bibliophilen offenbar noch immer das A und O.
Harald Damaschke: "Der Erstdruck von Goethes 'Werther' erzielt auf einer Auktion ungefähr 12.- bis 15.000 Euro, wenn man wirklich den wertvollen Erstdruck vorliegen hat. Ich denke, der Zweit- oder Drittdruck, das liegt dann unter tausend Euro."
Aber was ist das Faszinierende? Was ist es, das ihn an alten Büchern so anzieht?
Harald Damaschke: "Manchmal kommt es vor, dass ein Buch, das hunderte Jahre alt ist, und das man dann aufschlägt, und die Seiten kleben noch ganz leicht zusammen von der Druckerschwärze. Da hat man das Gefühl, das Buch stand drei-, vierhundert Jahre im Regal und wurde vielleicht ein-, zweimal durchgeblättert, und man ist der Erste nach so langer Zeit."
Er blättert.
Harald Damaschke: "Wer schreibt, was er mündlich sagen sollte und nicht sagen darf, was er schreibt, gleicht einem Wolf im Schafspelze oder einem Schaf in der Wolfshaut."
Der Sammler: "Aus dem Original die Zeit riechen"
"Die Jünglinge und die Alten versammelten sich am Fuß eines Hügels, der in sanften Stufen wie ein Amphitheater sich erhob, oben mit hohen Bäumen bekränzt, hinter welchen die aufgehende Sonne hervor brach."
(Christoph Martin Wieland)
Stellt man sich so nicht das Haus eines Büchersammlers vor? An einer Durchgangsstraße in einem Ort nördlich von Frankfurt am Main gelegen, von außen eher unscheinbar und mit verwitterten Fensterläden – aber innen eine gediegene Wunderkammer des Weltwissens. Deckenhohe Bücherregale in jedem Zimmer, Bücherstapel in den Fluren und Nischen.
Jürgen Seuss: "Zum Beispiel habe ich hier an der Seite etwas mehr als eine Handbibliothek zum Expressionismus. Hier habe ich dann ein bisschen die russische Literatur, und hier auch wieder Expressionismus, bis weit in die 20er-Jahre hinein. Dort ist die Büchergilde, da sind die Nachschlagewerke, dann gehen wir mal weiter, das hört ja nicht auf, das ist ja furchtbar und überall sind die Bücher zu zweit oder zu dritt ..."
Die Schaufensterpuppe, die im Wohnzimmer von Jürgen Seuss an einem Bistrotisch sitzt, will allerdings nicht recht zum klassischen Bibliophilen passen. Und die Wut, die den ehemaligen Verleger, Professor für Buchgestaltung und Büchersammler antreibt, erst recht nicht:
"Dieser alte Bibliotheksgedanke, den wir ja aus der Aufklärung haben, das gibt's heut alles nicht mehr. Ist weg. Wie ausgestorben. Warum? Weil wir ein Scheißsystem von Internet haben."
Jürgen Seuss, 1935 im Osten Deutschlands geboren, siedelte 1959 in den Westen über. Er war über zwei Jahrzehnte Hersteller bei der Büchergilde Gutenberg, bevor er eine Professur an der Hochschule für Gestaltung in Hamburg bekam. Er sammelt wie besessen Bücher, aber er sieht sich nicht als Sammler:
"Ich bin einmal Leser, intensiv und ganz begierig, um zu erfahren, was andere zu bestimmten Dingen erzählen und mitteilen. Dahinter verbirgt sich aber die Sehnsucht nach Wahrheit, auf Deutsch gesagt, nach Erkenntnis. Das ist eine ganz andere Geschichte, als in der S-Bahn ein Buch zu lesen."
Die Frage, die ihn vor allem interessiert hat, war die nach dem Zustandekommen des Faschismus:
"Was hat uns dann dazu geführt, diesen verdammten Scheiß-Faschismus zu haben, ein Volk, das rumschwätzt von Schiller, von Goethe, von Kant und Schopenhauer und ... lauter große Worte. Was hat denn Herr Goethe bewirkt? Hier für die Birne. Was haben denn all die großen Patrioten der bürgerlichen Welt bewirkt? Null."
Jürgen Seuss las sich rückwärts durch die Jahrhunderte, fand Ursachen und Anfänge für den Faschismus im Pietismus und dem 30-jährigen Krieg. Das Ungewöhnliche an seiner Lektüre: Er las nur Originalausgaben.
"Ich muss aus dem Original, ich muss aus dem Original die Zeit riechen. Ich darf nicht dem gedruckten Wort im Jahr 2010 glauben."
Nur über die Erst- oder Originalausgabe hat er das Gefühl, der Wahrheit eines Textes und der Lebenswirklichkeit eines Autors nahe zu kommen – und damit hinter die Vorstellungen zu gelangen, die wir uns über die Literaturgeschichte von Autoren gemacht haben. Die Originalausgabe ist für ihn quasi der Garant dafür, dem echten Autor zu begegnen.
Auch Goethe ist für Jürgen Seuss ein Bezugspunkt. Aber eben nicht als Säulenheiliger, sondern als idealisiertes Monument, das die ihm wichtigeren Autoren verdeckt. Zum Beispiel die Aufklärer Johann Christoph Gottsched oder Christoph Martin Wieland:
"Die, von den Grazien selbst mit Schwesterarmen umschlungen, von gleicher Liebe der Musen beseelt, zur Dame ihrer Gedanken die freundliche Weisheit gewählt, die glücklicher macht und Witz und Empfindung vermählt, und schönen Seelen, sich selbst, und bessern Zeiten gesungen."
Jürgen Seuss: "Das heißt, ich kann jetzt sagen, du nimmst mal das jetzt raus, und das ist doch jetzt etwas merkwürdig Schönes. Das sind 'Die Grazien' von Wieland, einen Zentimeter stark. Leder. Da sage ich mir: Das gehört zum Boudoir. Aha. Wenn du dich ausgezogen hast, willst nochmal ein bisschen was lesen. Deine Fantasie geht ... Du fasst das an. Das kriegst du im Internet nicht, das kriegst du auch mit dem Wischer ... kriegst du diese ganzen Gefühle nicht."
Der Schatzsucher: Ausgrabung als Lebensthema
"Richter Got, herre ubir alle kraft,
Vogt, himilschir herrschaft,
Ob allin kreften swebit din kraft:"
(Rudolf von Ems)
Jörn Günther: "Die sind natürlich auch ganz andere Preise gewöhnt, das muss man auch sagen. Für drei Millionen in der zeitgenössischen Kunst kriegen sie einen mir unbekannten Künstler, der sich noch nicht bewährt hat oder sich vielleicht für zwei Jahre bewährt hat, bei uns bekommen sie dann die absolute Museums-Top-Qualität."
Kunstsammler sind erstaunt, wenn sie von den vergleichsweise moderaten Preisen seltener Bücher hören. Nur dass die Bücher, über die der Antiquar Jörn Günther spricht, nicht wenige, sondern Hunderttausende und manchmal sogar mehrere Millionen Euro kosten:
"Wir haben jetzt Bibeln bei uns im Angebot. Die günstigste, eine Taschenbibel, kostet vielleicht 180.000 Euro, die teuerste, die ich zur Zeit habe, kostet vier Millionen Euro."
Jörn Günther handelt im allerhöchsten Preissegment. Illuminierte Handschriften. Weltkarten aus dem 15. Jahrhundert, das Gebetsbuch Karls V. Günther spürt sie in verstaubten Adelsbibliotheken oder an anderen geheimnisvollen Orten auf, kauft sie, bereitet sie wissenschaftlich auf – und verkauft sie wieder. An anonym bleibende Superreiche, an das Königshaus von Katar oder an Bibliotheken wie die Bayerische Staatsbibliothek und die Bibliothèque Nationale in Paris. Jetzt sitzt er im Untergeschoss seines edlen Antiquariats in der Basler Altstadt:
"Das ist ja das Schönste. Die Schatzsuche. Das ist das, was mich motiviert. Sachen ans Tageslicht zu bringen, die Jahrhunderte verschollen waren. Da gibt es Fantastisches. Da arbeite ich teilweise Jahrzehnte dran, um den Schatz zu heben."
Der riesige, von eleganten Charles Eames-Stühlen umgebene Tisch im Untergeschoss ist leer. In den deckenhohen Regalen stehen zwar mehrere tausend Bücher, aber das sind keine Buchschätze, sondern das Handwerkszeug des Bücherfinders: Bücher zur Geschichte der Buchmalerei oder Auktionskataloge. Die wertvollen Bücher sind unsichtbar, versteckt im Tresor. Die Atmosphäre in diesem Raum ist seltsam. Man fühlt sich dem Geheimnis alter Bücher sehr nah – und gleichzeitig entrückt. Was ganz gut passt. Denn nach Walter Benjamin gehört genau dieses Phänomen zum Wesen auratischer Dinge. Im "Passagen-Werk" schreibt Benjamin:
"Die Aura ist Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft."
(Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, in derselbe: Gesammelte Schriften Band V, Frankfurt am Main, S.560)
Jörn Günther: "Ich habe schon immer Bücher gemocht. Ich habe immer schon viel gelesen und mich für Kunst interessiert und bei uns im Garten Ausgrabungen gemacht. Das Suchen hat mir immer Freude gemacht. Mein Vater, muss ich dazu sagen, war schon immer Sammler, hat aber was ganz anderes gesammelt. Und ist durch Zufall auf so eine mittelalterliche Handschrift gestoßen und hat die erworben, da war ich 14 Jahre alt, brachte die nach Hause. Vier Geschwister. 'Kinder guckt mal, was ich heute erworben habe', großer Esszimmertisch, und da schlug ich diese Handschrift auf, und da war für mich klar – zack – das mache ich in meinem Leben. Dann kam halt raus, das war eine Weltchronik des Rudolf von Ems, was später auch mein Promotionsthema war, und ich durfte diese Handschrift eben in meinem Kinderzimmer haben."
"Schöpfung. Die erste Welt
Noh anevanges nie began –
Geschuf Got himil und erde
Beidu nah ir werde
Mit sinir gotlichin kraft."
Was macht den Unterschied zwischen einem Buch für 100.000 und einem für 500.000 Euro aus? Beispielsweise die Feinheit und der Zustand der Miniaturen.
Jörn Günther: "Die Qualität der Malerei. Und das muss man einfach sehen. Man kann ein Stück weit sehen lernen. Aber teilweise ist es angeboren."
Zuletzt hat Jörn Günther ein Buch entdeckt, das 500 Jahre lang verschollen war: Das "Compendium" des Königs Juan II. von Spanien. Die in rotes Leder eingebundene, mit prächtigen Mond- und Sonnenzyklen illustrierte Handschrift war zuletzt im Jahr 1505 nachgewiesen. Und wo hat er diese Schrift wiederentdeckt? Jörn Günther lächelt diskret.
Die amerikanischen Reisetagebücher Alexander von Humboldts in der Staatsbibliothek in Berlin
Die amerikanischen Reisetagebücher Alexander von Humboldts in der Staatsbibliothek in Berlin© dpa / picture alliance/ Britta Pedersen
Die Restauratorin: Gefährdete Seiten stabilisieren
"Ich ging allein, ohne alle Waffe, dem Strande nach. Zufällig bückte ich mich um den Glimmer im Sande... und sah neben mir frische Tigertritte, gewaltige, leicht erkennbare Tatzen. Ich blickte mechanisch der Spur nach – und etwa 30 Schritt von mir entfernt, vor mir rechts sah ich einen gewaltigen Tiger im Schatten einer Sauzahecke liegen. Ich war wie bei aller großer Gefahr in einer völligen Ergebung. Dem Schicksal mich überlassend." (Alexander von Humboldt)
Zurück in Berlin. Im Erdgeschoss der Staatsbibliothek Unter den Linden sind die Räume der Buchrestaurierung untergebracht: Klimazellen, Befeuchtungskammern, Räume mit Absaugvorrichtungen für chemische Substanzen, Wasserbäder, Papierpressen, Unterdrucktische.
Julia Bispinck-Rossbacher: "Ein anderer Punkt ist: empfindliche Malschichten, bei Miniaturen zum Beispiel. Wir haben jetzt ein großes Digitalisierungsprojekt gehabt zur Digitalisierung islamischer Miniaturhandschriften, und da gibt es verschiedene Schadensfälle, zum Beispiel Kupferfraß in den Rahmen, bei der Blattgestaltung, das bricht an der Stelle auf, und da muss man sehr gut aufpassen."
Julia Bispinck-Rossbacher leitet die Restaurierungswerkstätten. Zusammen mit ihren zwölf Mitarbeitern kümmert sie sich um den kostbaren Bestand. Sobald Bücher oder Autographen vom Schimmel befreit, geglättet, entsäuert oder schlicht am Auseinanderfallen gehindert werden müssen, kommen sie in die Abteilung Bestandserhaltung. In einem Raum mit hohen Arbeitstischen herrscht die Stille einer Kopistenwerkstatt. Auf einem der Tische liegen einzelne Seiten der neuesten Bibliotheks-Errungenschaft: die legendären "Amerikanischen Reisetagebücher" von Alexander von Humboldt, die er auf seiner fünfjährigen Reise durch Amerika ab 1799 verfasst und mit Illustrationen versehen hat. Neun in Leder gebundene Bände, 4000 Seiten, die für zwölf Millionen Euro von den Erben Humboldts in den Besitz der Staatsbibliothek übergingen. Ein Jahrhundertkauf!
Julia Bispinck-Rossbacher: "Das ist jetzt also aus den Amerikanischen Reisetagebüchern, einzelne Seiten, die haben wir nicht rausgelöst, die waren lose, die sind zu den Reisetagebüchern dazu; da gibt es zu jedem Reisetagebuch eine Mappe mit einzelnen Seiten, die aus welchem Grund auch immer, mal irgendwann rausgetrennt wurden, und da werden jetzt Risse stabilisiert. Aber eben auch sehr, sehr zurückhaltend. Nur eben da, wo eine Gefährdung ist. Das ist ein Japanpapier, da können Sie das mal sehen, das ist wirklich ein Hauch von Nichts da über den Riss gelegt. Und jetzt trocknet das, mit einem Gewicht und einem Löschkarton."
Ein Hauch von Nichts, das die Lektüre nicht behindert. Wenn die kleine, bräunliche Schrift mit dem langen, dynamisch nach vorn kippenden Lauf die Entfernung nicht zu klein zum Entziffern wäre. Aber man wird die Schrift lesen können, wenn man die Seiten nach der Restaurierung wieder in die Hand nehmen kann.
Julia Bispinck-Rossbacher: "Das ist ja eben das Besondere bei Büchern im Vergleich zu anderen musealen Objekten. Bücher haben eine Funktion, die muss man aufschlagen können. Das alte Kleid von der Königin Luise wird keiner mehr tragen und die Schleppe hinter sich herziehen. Aber die Bücher haben eine Funktion, nämlich das Aufschlagen- und Lesen-Können, und das muss es nach der Restaurierung natürlich auch bieten."
"Ich wandte mich behend um und ging langsam rückwärts, dem Ufer zu, langsam, ich zwang mich... aber die Furcht vor der furchtbaren Katze spannte mich mächtig an. Als ich mich einmal umsah, wo der Fluss einen Busen macht, hatte der Tiger seinen Platz verlassen. So war ich bis heute dem Tigerrachen entronnen!"
(Alexander von Humboldt)
Entzünden und berühren
Nein. Es ist nicht nur so, dass wir uns mit alten Büchern oder Handschriften aus der Gegenwart verabschieden und in die gemütliche Kostümwelt einer immer schon bedeutsamen Vergangenheit abtauchen. Das alte Papier, der unmittelbare Eindruck einer Handschrift, der zur Illusion führt, die Zeit anfassen zu können – das alles ist ja gegenwärtig und entzündet und berührt uns im Heute.
Dem Tigerrachen entronnen! Wir selbst setzen die Geschichte heldenhaft fort − oder könnten es zumindest. Auch daran erinnert eine alte Schrift, solange sie in unseren Händen liegt.
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