Faszinierend und beunruhigend

13.12.2007
Der Sammelband von Sigrid Weigel, Direktorin des Zentrums für Literatur- und Kulturgeschichte in Berlin, untersucht das Bild des Märtyrers in Literatur, Religion und Geschichte. Der islamistische Selbstmordattentäter erweist sich darin als Wiedergänger einer Figur, die ursprünglich eng mit dem christlichen Kulturkreis assoziiert war.
"Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern" - so lautet der Untertitel des neu erschienenen Buches "Märtyrer-Porträts" von Sigrid Weigel. Die Direktorin des Zentrums für Literatur- und Kulturgeschichte in Berlin hat darin 60 Porträts und Essays versammelt. Jeder der Texte zeigt eine Facette, aus deren Gesamtmenge sich das vielfältig schillernde Bild des Märtyrers in Religion, Kunst und Politik von der Antike bis zur Neuzeit herauskristallisieren lässt. Eine große Anzahl von Mitarbeitern aus unterschiedlichen Disziplinen ist an diesem Projekt beteiligt: Literaturwissenschaftler, Historiker, Religions- und Kulturwissenschaftler, Kunsthistoriker und Philosophen haben Erkenntnisse und Überlegungen beigesteuert. Sie sind mit umfangreichem Bildmaterial ergänzt.

In ihrem Vorwort weist Herausgeberin Weigel darauf hin, dass seit den Anschlägen vom 11. September 2001 sogenannte "Märtyrer-Operationen" international Schule gemacht haben. Mit dem Märtyrer kehre die Religion zurück in die Politik, behauptet sie. Galt einst der "Soldat Gottes", der als mittelalterlicher Kreuzritter Jerusalem von den "Ungläubigen" befreien wollte im Abendland als Märtyrer, so ist es in der arabischen Welt heute der "Heilige Krieger", der für Allah den Dschihad in die Welt trägt. Der islamistische Selbstmordattentäter erweist sich somit als Wiedergänger einer Figur, die ursprünglich eng mit dem christlichen Kulturkreis assoziiert war.

Die üppige Autorenschar rekapituliert und analysiert Motive "klassischer" Märtyrergeschichten. Sie beleuchtet Urszenen des Märtyrertums in der heidnischen Antike. Klassisches Beispiel für den "Opfertod für einen anderen" ist der Mythos von Alkestis. Für den "heroischen Tod" oder "noble death" steht die Geschichte der Lucretia, die nach einer Vergewaltigung durch Freitod die Unschuld ihrer Seele beweist. Quer durch die Jahrhunderte und Kulturen tauchen solche Motive immer wieder auf. Die Verknüpfung von Opfer und Heiligem, Tod und Verehrung, Gewalt und Kult verbindet dabei die drei monotheistischen Religionen und wirkt selbst in säkularisierten Gesellschaften weiter. Gezeigt wird das am Beispiel von Holger Meins und der RAF oder auch anhand des Streites zwischen Hamas und Fatah um die erste palästinensische Selbstmordattentäterin.

Märtyrer haben immer traditionsbildend gewirkt. Ihre Legenden, das zeigt das Buch überzeugend, benötigen immer einen bestimmten Schauplatz, Zuschauer und die Tradierung des Geschehens. In den zumeist knappen, gut lesbaren Aufsätzen des Buches wird der Blick geschärft für die fortwirkenden Prägungen auch der Moderne durch Muster, die einer Kultur sakraler Gewalt und geheiligter Opfer entstammen. So wird erkennbar, dass es eine Verbindung gibt zwischen der Performance der serbischen Künstlerin Marina Abramovic und Mantegnas Renaissance-Gemälde des Heiligen Sebastian. Dass Parallelen aufscheinen zwischen der Hauptfigur im Kinofilm "Breaking the waves" und christlichen Mystikerinnen.

Die "Märtyrer-Porträts" untersuchen anhand von Fallbeispielen die Verbreitung der
Märtyrerbilder und ihre kulturgeschichtliche Wirkung. Faszinierend und beunruhigend sind Märtyrer, eine Herausforderung für Herz und Verstand gerade in einer technologischen, durchrationalisierten Welt.

Rezensiert von Carsten Hueck

Sigrid Weigel (Hrsg.): "Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern."
Wilhelm Fink Verlag, München 2007, 319 Seiten, 29,90 EUR