Familienfreundlicher Strafvollzug

Zu Besuch bei Papa im Gefängnis

Schild zeigt auf die Justizvollzugsanstalt (JVA) Bielefeld - Brackwede
Schild zeigt auf die Justizvollzugsanstalt (JVA) Bielefeld - Brackwede © Imago / teutopress
Von Ita Niehaus · 10.09.2015
Der Schutz von Ehe und Familie endet vor dem Gefängnistor: Geht der Vater in den Knast, leiden auch Mutter und Kind. Einige Anstalten versuchen nun, den Strafvollzug familienorientierter zu gestalten - zwei Besuche in der JVA Bielefeld-Brackwede und in der JVA Meppen.
"Alle Inhaftierten erzählen, dieses Schlüsselgeräusch begleitet sie noch jahrelang..."
In der Justizvollzugsanstalt Meppen im Emsland. Das Gefängnis liegt weit außerhalb der Stadt. Niedrige Gebäude aus rotem Klinker, umgeben von hohem Stacheldrahtzaun. Drinnen: lange Flure mit vergitterten Fenstern und verschlossenen Türen. Gefängnis -seelsorger Roger Gehlen ist auf dem Weg zur Vätergruppe.
Vor gut drei Jahren begann die JVA Meppen mit dem Modellprojekt "Wartezeit." Das Ziel: den Strafvollzug familiensensibel zu gestalten. Mit längeren Besuchszeiten, Vater-Kind-Sonntagen, einem Fahrdienst und einer Vätergruppe. Die Projektphase ist inzwischen erfolgreich beendet. Und es soll weitergehen. Bis die dafür vorgesehene halbe Stelle besetzt ist, leitet der 54 Jahre alte Roger Gehlen die Vätergruppe kommissarisch. Angefangen hat sie einmal als Selbsterfahrungsgruppe. Inzwischen sind Erziehungs - fragen in den Mittelpunkt gerückt: "Sich mit Erziehungsfragen zu beschäftigen, hat auch mit einem Stück Normalisierung zu tun. So schrecklich Haft ist, die Situation hier ist gut in Anführungszeichen. Weil sie Zeit haben, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Und wenn es gut geht draußen, auch positiv umsetzen können."
Die Vätergruppe trifft sich alle zwei Wochen. Nur fünf Männer sind es dieses Mal, in Sweatshirt, Jeans der Jogginghose. So unterschiedlich sie sind, eines haben die Väter gemeinsam: Sie möchten auch hinter Gittern so gut es geht für ihre Töchter und Söhne da sein. Darin bestärkt sie auch Gefängnisseelsorger Gehlen. Denn Vater sein hört nicht am Gefängnistor auf, sagt er. Das Thema heute: ein ganz alltägliches Problem. Stress mit den Kindern, zum Beispiel beim Einkaufen.
"Was würdest du an der Stelle anders machen?"
"Dass ich konsequent bin."
"Was heißt das?"
"Ich bin groß geworden, ich habe alles, egal was ich wollte, bekommen."
"Und du möchtest deiner Tochter eine wichtige Erfahrung mit geben, dass nicht alles geht."
"So sieht´s aus."
Zweimal zwei Stunden Besuch
Die Vätergruppe ist eine Art geschützter Raum. Was hier besprochen wird, darf nicht weiter erzählt werden. Das ist auch Michael wichtig. 43 Jahre alt, groß, kräftig, kurze Haare, ernster, konzentrierter Blick. Zu knapp zweieinhalb Jahren Haft wurde er verurteilt. Warum, will er nicht sagen. Ein Jahr hat er noch vor sich. Früher war Michael selbstständig. Nun verdient seine Frau alleine das Geld. Sie hat zwei Söhne aus erster Ehe und mit Michael eine gemeinsame Tochter. Michael kommt regelmäßig zu den Treffen: "Weil man eben wirklich aus der Familie raus ist. Ich weiß jetzt auch nicht 100 %, wie reagiert die Kleine. Die ist jetzt zweieinhalb Jahre alt. Mir fehlt eine große Entwicklungsphase von ihr. Wie reagier ich? Und da hilft mir eben jetzt diese Vater -gruppe. Das ist leider nur Theorie."
Blick auf das Eingangstor des umzäunten Geländes der Justizvollzugsanstalt Meppen (Landkreis Emsland) am Donnerstag (15.07.2010). Die heutige JVA war früher als Lager IX Versen ein Teil der Emslandlager und wurde 1938 gebaut. 
Blick auf das Eingangstor des umzäunten Geländes der Justizvollzugsanstalt Meppen (Landkreis Emsland) © picture alliance / dpa / Friso Gentsch
Wecken, aufstehen, arbeiten, nachmittags eine Freistunde. Der Gefängnisalltag ist streng geregelt. Zwölf Stunden täglich ist die Zellentür geschlossen. Wenn Michael alleine ist, kreisen seine Gedanken. Er weiß, seine Frau hat es zur Zeit nicht einfach: "Sie strampelt sich draußen ab, dass die Familie zusammen bleibt. Sie geht arbeiten, sie hat draußen mehr auszustehen, als ich hier drinnen. Sie muss mehr kämpfen. Ich muss hier nur an mir selber arbeiten. Und sie muss das, was sonst zu zweit gemacht wird, alleine bewältigen."
Zweimal zwei Stunden Besuch im Monat stehen jedem Häftling in Meppen zu, mehr als in einigen anderen Gefängnissen. In einem großen Raum, an Tischgruppen mit vielen anderen Besuchern, bewacht von Vollzugsbeamten. Besonders beliebt daher bei den Vätern: die vor gut zwei Jahren eingeführten Vater-Kind-Sonntage. Sieben Stunden mit den Kindern gemeinsam spielen, kochen und reden. Seit ein paar Monaten jedoch werden sie nicht mehr angeboten, es fehlt zur Zeit am Personal. Michael vermisst diese ganz besonderen Sonntage mit der Familie: "Das Gefühl der Intimität. Dass man im Kreis seiner Familie wirklich auch da ist. Man fühlt sich immer so leicht beobachtet. Das ist ja auch so. Dann merkt man immer mehr, wenn sie denn Sorgen hat oder sowas, dass sie zur Mutter rennt. Was früher nicht so war. Weil man so langsam den Bezug nicht mehr hat. Das schmerzt."
Familienorientierter Strafvollzug - am Anfang waren da einige Mitarbeiter skeptisch. Spielende und tobende Kinder im Knast? JVA Leiter Per Zeller war gleich überzeugt von dem Konzept: "Das, was sie erfahren und lernen umzusetzen, ist nur im Kontakt mit den Kindern möglich. Zum anderen ist es Teil dieses Angebots, dass man Väter und Kinder auch zusammenbringt. Insofern sind die Vater-Kind-Tage schon ein wichtiger Teil des Gesamtpakets. Und je schneller es uns gelingt, das wieder anzubieten, desto besser."
"Hallo, mein kleiner Engel. Hier ist Papa und möchte Dir gerne etwas vorlesen..... Jeden Abend nimmt Anna ihr LammLamm mit ins Bett. Aber heute ist Lamm Lamm weg. Ohne mein LammLamm kann ich nicht einschlafen.... "
Michael liest seiner Tochter eine Gute-Nacht-Geschichte vor. Er sitzt aber nicht bei ihr am Bett, es ist eine CD. Alle Väter aus der Gruppe haben gemeinsam mit Pastor Gehlen so eine Gute-Nacht-Geschichte aufgenommen. Kein Ersatz für die Vater-Kind-Sonntage. Und dennoch.
"Dass man zumindest verbal anwesend ist. Ich merke es auch bei der Kleinen, wenn ich mit meiner Frau am telefonieren bin. Papa reden. Dass sie kurz noch die Stimme hören will."
"Ich habe bei diesem Gute-Nacht-Geschichten-Projekt gemerkt, wie viel die Väter sich einsetzen, um Kontakt zu ihren Kindern zu haben. Die kommen auch ins Nachdenken. Da ist wirklich der Wille, Beziehungen zu ihren Kindern zu gestalten."
"..drückt LammLamm ganz fest. Wo warst Du denn? Das LammLamm sagt kein Wort. Aber seine Augen glitzern so hell wie die Sternschnuppe. So, mein Kleines. Papa ist fertig und ich hoffe, es hat Dir gefallen. Schlaf gut, mein Engel. Ich bin in Gedanken immer bei Dir und Mama. Gute Nacht."
Familientreffen, Vater-Kind-Treffen, Familien-Sonntage oder Väter- bzw. Müttergruppen
Rund 62.000 Inhaftierte gibt es in Deutschland, die meisten von ihnen sind Männer. Zwei Drittel, so schätzt man, haben Kinder unter 18 Jahren. Um die 100.000 Jungen und Mädchen sollen es sein, die damit leben müssen, dass der Vater oder die Mutter im Gefängnis sitzen. Immer mehr Haftanstalten fangen an, wie die JVA Meppen, die Angehörigen mit im Blick zu haben. Oft in Zusammenarbeit von Gefängnisseelsorge, Straffälligenhilfe und Justiz. In vielen JVA s etwa gibt es inzwischen Langzeitbesuche über mehrere Stunden. In einigen Familientreffen, Vater-Kind-Treffen, Familien-Sonntage oder Väter- bzw. Müttergruppen. Nur wenige jedoch haben bisher umfangreiche Angebote für die ganze Familie. Das ist auch nicht anders in Nordrhein-Westfalen. Deutschlands bevölkerungsreichstes Bundesland hat 36 Gefängnisse und mit insgesamt 16.000 Inhaftierten die meisten Gefangenen bundesweit. Und so gibt es auch hier Vorreiter für familienorientierten Strafvollzug: die Anlaufstelle "Freiräume" der Diakonie für Bielefeld etwa. Kooperationspartner des geschlossenen Vollzugs Bielefeld-Brackwede.
Montagnachmittag. Vor dem Eingang der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Brackwede. Einige Mütter stehen mit ihren Kindern vor den hohen grauen Mauern aus Beton, warten auf Melanie Mohme, Sozialpädagogin bei der Anlaufstelle "Freiräume."
"Melanie, wann soll ich sieabholen?"
"18 Uhr."
"Ich geh dann, Tschüss."
Melanie Mohme, schlank, dunkle Haare, humorvoll blitzende Augen, schaut, ob auch alle da sind und zieht los. Mit acht Mädchen und Jungen, zwischen fünf und dreizehn Jahre alt. Sie sind schon ganz aufgeregt. In nur wenigen Minuten werden sie ihre Väter sehen. Für ganze drei Stunden. Ein, zwei Wochen haben sie ihre Väter nicht gesehen. Für Kinder eine lange Zeit. Doch zunächst müssen sie durch die Sicherheitskontrollen. Wie am Flughafen.
"Wo sind wir hier?"
"Auch Piepraum genannt..."
"Alle Mäntel raus..."
Die jungen Herren, bitte mal.."
420 Männer und 60 Frauen sitzen im geschlossenen Vollzug in Bielefeld-Brackwede. Alles ist vertreten - vom kleinen Diebstahl bis zum Mord.
Die Gefängnisflure sind lang und bedrückend, der Weg zum Besucherraum ist jedoch ein wenig freundlicher geworden. Bunte Kinderbilder hängen an den Wänden, ein kleiner sympathischer Rabe dient als Wegweiser.
"Das entspricht nicht der Lebenswelt von Kindern. Das kennen Kinder nicht, durchsucht zu werden, Sachen abzugeben. Dann auch durch viele Türen, die aufgeschlossen werden. Das war ja auch so ein Aspekt, so ein bisschen die Angst zu nehmen vor diesem fremden Ort hier."

"Ja, das ist Papa"
"Wie geht´s - alles gut?"
Besucherraum mit Kuschelecke
Die Väter haben schon alles vorbereitet, den großen Besucherraum gemütlicher gemacht: mit Kuschelecke, Basteltischen und großer Kaffeetafel mit Jubiläumstorte. Es ist nämlich das 100. Vater-Kind-Treffen. Das Bielefelder Familienprojekt "Freiräume" existiert bereits seit mehr als 8 Jahren. Nach und nach entwickelte Melanie Mohme das Konzept weiter gemeinsam mit ihrem Kollegen Thomas Wendland. Einmal im Monat ist "Ausnahme-Montag." Hinzukommen die Vätergruppe, regelmäßige Familientreffen und Elternkurse. Maximal zehn Väter und ihre Angehörigen können am Projekt teilnehmen. Und inzwischen gibt es das Angebot auch für Mütter im geschlossenen Vollzug.
Völkerball spielen in der Sporthalle. Die 13 Jahre alte Hannah hat keine Lust, sie albert lieber mit ihrem Vater herum und genießt jede Minute.
"Ich mach mit meiner Freundin das kleine Hufeisen."
"Also doch das kleine Hufeisen."
Leon ist erst seit ein paar Monaten in der JVA Bielefeld, macht dort eine Ausbildung zum Koch. Zu sechs Jahren Haft wurde er verurteilt. Steuerbetrug. Sein 17 Jahre alter Sohn hält zwar Kontakt, will ihn aber nicht besuchen.
"Mein Sohn hat gefragt: 'Musste das alles sein, wir haben eigentlich schon gut gelebt?' Meine Tochter sagt auch: 'Du bist ja selber schuld.' Aber sie wartet, sagt sie. Ich kriege von allen in meiner Familie 'ne zweite Chance, Gott sei Dank."
"Ich kam nach Hause und habe gefragt, wo Papa ist. Da hat Mama gesagt, was Sache ist. Und da war ich sehr, sehr traurig, weil ich ja gewohnt war, dass mein Vater und meine Mutter da sind."
Manche Kinder kommen schon seit einigen Jahren regelmäßig zu den Vater-Kind-Treffen, andere wie Hannah erst seit ein paar Monaten. Seitdem ihr Vater in Bielefeld ist, kann sie ihn manchmal sogar zwei Mal in der Woche sehen. Nicht nur zu den regulären Besuchszeiten. Das Projekt "Freiräume" bietet auch einmal im Monat ein Frühstück für die ganze Familie an. Aber am besten gefällt Hannah das Vater-Kind-Treffen: "Man hat mehr Zeit zum Reden. Es ist schöner als sonst. Denn sonst ist das so eintönig. Jetzt ist das so schön geschmückt, bunt. Ich kann meinem Vater alles erzählen. Weil ich weiß, dass er nichts weiter sagt."
"Meine Tochter, die kommt jetzt in die schwierigste Phase rein. Die erzählt mir dies und das, was sie vielleicht auch mit der Mutter nicht besprechen möchte. Sie ist schon so eine kleine Zicke. Mama will mir dies nicht kaufen, das nicht kaufen. Alle in meiner alle Klasse haben das auch. Ja, sage ich, ja, das kenn ich. Habe ich meinen Eltern auch erzählt."
Hannah weiß genau, was sie will. Auch was ihre berufliche Zukunft angeht: Realschulabschluss machen, Fachabitur, und danach Schauspielerin werden. Und - Psychologin. Als zweites Standbein. Ein Tipp von ihrem Vater. Manchmal hat Hannah Zoff mit ihrer Mutter, wünscht sich etwas Rückendeckung. Leon hält sich lieber da raus: "Ich kann ja meine Frau nicht ausspielen. Ich weiß, dass sie das versucht. Man muss dann sagen: 'Ja, ich weiß.' Das ist schwierig."
Auch die beste Freundin weiß nicht, dass der Vater in Haft sitzt
Nicht einfach der Spagat zwischen dem Leben drinnen und draußen. Der Zeit vor der Haft und danach. "Meine Tochter hat 'ne Zeitlang sehr gelitten. Wir haben ein eigenes Haus gehabt, waren in einem kleinen Ort integriert, Kindergarten, Grundschule. Und das war dann natürlich vorbei. Hat man ein paar Freundschaften von den Kindern kaputt gemacht. Durch seine eigene Dummheit."
Die Familie verkaufte das Haus, gab alles auf und zog in eine andere Stadt. Hannah ist vorsichtig geworden. Selbst ihre beste Freundin weiß nicht, dass ihr Vater im Gefängnis ist. Bisher wurde nur wenig darüber geforscht, wie es Kindern und Jugendlichen von inhaftierten Vätern und Müttern geht. Immerhin fast jedes dritte Kind ist durch die familiäre Situation emotional belastet oder verhaltensauffällig, stellten Psychologen bei einer europaweiten Studie fest. Einige Kinder und Jugendlichen ziehen sich zurück, sind traurig oder aufgedreht. Andere werden schlechter in der Schule. Viele fühlen sich hin- und hergerissen zwischen Liebe, Verlustangst, Scham, Wut und Enttäuschung.
"Es ist schon so, dass viele Kinder am Anfang nicht von der Inhaftierung wissen, aber es spüren. Die Mama weint mehr, der Papa ist irgendwie nicht da oder meldet sich nicht. Wenn Kinder so etwas spüren, dann tragen die so ein Bauchweh-Geheimnis mit sich rum und können das nicht einsortieren, was in der Familie passiert."
Oft trauen sich die Eltern nicht, ihren Kindern die Wahrheit zu sagen. Sozialpädagogin Melanie Mohme hält es aber für wichtig, offen darüber zu reden: "Und dann abzuwarten, was Kinder für Fragen haben. Und dann darauf kurz und knapp zu antworten. Zu sagen, was ist ein Gefängnis? Und warum ist mein Vater da? Das reicht dann oft schon den Kindern. Die fragen dann eher weiter, geht es meinem Papa da gut, hat er was zu essen, hat er einen Fernseher? Das sind dann auch eher so Fragen, die Kinder beschäftigen."
Noch ein gemeinsames Photo. Zur Erinnerung. So ein Nachmittag geht immer viel zu schnell vorbei. Hannah drückt ihren Vater ein letztes Mal: "Bis nächste Woche, Papa!... "
"Das hält einem hier am Leben. Man lebt von Besuch zu Besuch, von Vater-Kind-Gruppe zu Vater-Kind-Gruppe. Es gibt hier nichts anderes."
Vielen Ehefrauen und Lebenspartnerinnen der Gefangenen fällt es schwer, über ihre Situation zu sprechen. Mariann, 49 Jahre, Mutter von sieben Kindern, tut es trotzdem. Ihr Mann ist seit fast zwei Jahren inhaftiert. Verstöße gegen die Bundesartenschutzverordnung. Sie strahlt viel Herzlichkeit und Wärme aus, man sieht ihr aber auch an, wie erschöpft sie ist. Von heute auf morgen änderte sich das Leben der ganzen Familie. Mariann musste Hartz 4 beantragen. Denn sie kann nicht arbeiten gehen, ohne die große Familie zu vernachlässigen. Doch das ist nicht das Schlimmste: "Er ist zwar da, aber trotzdem irgendwie weit weg. Es läuft alles anders. Da bin ich dann nur noch. Und Mama, Mama und dieses Trösten."
Am Anfang fiel Mariann in ein tiefes Loch. Doch sie hatte keine Zeit, sich einfach nur die Bettdecke über den Kopf zu ziehen. Es gab viel zu viel zu tun. Behördengänge. Vor allem aber immer wieder Gespräche. Mit ihrem Mann, den Kindern, mit den Lehrern, mit den Freunden der Kinder. Denn Mariann hatte sich entschieden, offen mit der Situation umzugehen. Und das hatte Folgen. Die Kinder bekamen Probleme, in der Schule etwa: "Dann kommt so ein Spruch, meine Mutter hat gesagt, ich darf nicht mehr mit dir spielen, weil dein Vater im Knast ist und so. Wenn man dann mit den Müttern sprechen möchte, ist sofort, boah, na bloß nicht ansprechen. Die hören Knast - warum und weshalb wollen die eigentlich nicht wissen."
Der große Kampf um den Bestand der Beziehung
Sich von ihrem Mann zu trennen, das kam für Mariann trotzdem nie in Frage. Mariann ist sich sicher. Sie werden als Familie gemeinsam auch diese schwierige Zeit über stehen: "Wir lieben uns alle. Der Papa ist der Papa und mein Mann ist mein Mann. Und da halten wir zusammen."
Die meisten Paare, die am Projekt "Freiräume" teilnehmen, so Melanie Mohme, kämpfen um ihre Beziehung und ziehen an einem Strang. Viele Ehen aber zerbrechen, während der Partner im Gefängnis ist. Es fehlt der Austausch, die gemeinsame Zeit. Und es gibt immer wieder Phasen der Überforderung."Gerade ganz am Anfang. Aber wenn das erst mal erfolgt ist, erlebe ich, dass die Frauen sehr starke Frauen auch sind, die ganz viel meistern zuhause, für die Kinder auch ermöglichen."
Das Projekt "Freiräume" hat eine Brückenfunktion zwischen der Welt drinnen und draußen. Melanie Mohme und ihr Kollege Thomas Wendland vermitteln bei Problemen weiter an Beratungsstellen, nutzen ihre Kontakte zu Jugendämtern, bieten Einzelgespräche an. Und sie haben untersuchen lassen, was die Vater-Kind-Treffen bewirken können. Die Besuche helfen Kindern, Müttern und Vätern nicht nur, miteinander in Kontakt zu bleiben. Es tut den Kindern auch gut, zu erleben, dass sie nicht alleine sind mit ihrer Situation. Und: Es entsteht wieder mehr Nähe: "Wir merken es daran, dass Vater und Kind sich dann oft in der Kuschelecke befinden, oder beim Sport am Kickern sind. Diese Zeit für sich gut nutzen. Auch eigene Wünsche äußern, wenn sie lieber basteln wollen oder ein Spiel spielen."
Einige europäische Länder wie etwa Dänemark, Schweden oder die Niederlanden sind viel weiter als Deutschland, was familienfreundlichen Strafvollzug angeht. In Dänemark zum Beispiel gibt es sogar Kinderbeauftragte, die Verbesserungsvorschläge erarbeiten. Die Erfahrungen zeigen: Familienorientierter Strafvollzug lohnt sich auch für die Gesellschaft. Die Rückfallquoten sinken, die Resozialisierungschancen steigen. Das hat auch Robert Dammann, der Leiter der JVA Bielefeld-Brackwede, festgestellt. "Die Väter sehen wir nie wieder. Das ist eine wunderbare Begleiterscheinung dieses Projekt. Weil ich glaube, das haben mir auch viele Väter so gesagt, dass sie so in die Pflicht genommen worden sind, auch bezüglich ihrer Kinder, dass sie alles dransetzen, da nicht eine weitere Enttäuschung zu setzen. Da hilft dieses Projekt 100 Prozent."
Das Land Nordrhein Westfalen will den familienfreundlichen Strafvollzug weiter ausbauen. "Unsere Landesregierung in NRW hat den familienfreundlichen Strafvollzug nun auch gesetzlich normiert. Ich denke, dass dadurch ein Anfang geschaffen wurde, da mehr einzusteigen auf diese Problematik. Und das kriegen wir auch hin."
Eine Woche später im Büro der Diakonie für Bielefeld. Hannah und ihre Mutter haben schlechte Nachrichten. Leon soll in die JVA Detmold verlegt werden. Warum, wissen sie nicht. "Das finde ich doof, weil ich keine Vater-Kind-Gruppe mehr habe und kein Familienfrühstück. Und ich freue mich so darauf ..(Wendland) Wenn so eine Entscheidung erst einmal gefallen ist, ist es schwierig, sie zu revidieren. Weil unser Einfluss ist da auch begrenzt."
Das Modellprojekt "Wartezeit" ist Vorbild auch für andere Anstalten
In der JVA Bielefeld-Brackwede hat sich in den vergangenen acht Jahren viel getan. So wurde zum Beispiel ein extra Besuchszimmer für Kinder eingerichtet. Mit viel Spielzeug, Kuscheldecken und einem gemütlichen Sofa. Und auch die Vollzugsbeamten sind aufgeschlossener geworden. Und dennoch: Melanie Mohme und Thomas Wendland stoßen immer wieder an ihre Grenzen. "Das ist der typische ausschließlich auf den Gefangenen bezogene Blick in der JVA. Das zeigt schon den Stellenwert, den diese Arbeit im Vollzug auch genießt. Wir werden zwar unterstützt in dem, was wir machen. Aber es ist eben noch eine Menge Weg vor uns, um diesen Blick für die Familie wirklich ganz im Vollzug drin zu haben."
Für Hannah kommt nun eine große Umstellung. In der JVA Detmold wird sie ihren Vater nur im Besucherraum sehen können. An einem der Tische, bewacht von Vollzugsbeamten, umgeben von vielen anderen Menschen. Etwas ganz Privates zu besprechen, zu spielen oder zu kuscheln, ist nicht mehr möglich. Familienfreundlichkeit im Vollzugsalltag durchzusetzen - das ist wie das langsame Bohren dicker Bretter. Man braucht nicht nur die Unterstützung der jeweiligen Haftanstalt, so Melanie Mohme, auch die gesetzlichen Voraussetzungen müssen stimmen und die Finanzierung: "Da ist diese exklusive Zeit Vater-Kind schon was Besonderes im geschlossenen Vollzug, muss man immer wieder auch Kompromisse finden. Von daher Mut, sich auf den Weg zu machen, Dinge auszuprobieren. Auch wenn es mal einen Schritt zurück geht, einen Schritt nach vorne zu machen."
Zurück in der Justizvollzugsanstalt Meppen in Niedersachsen. Das Modellprojekt "Wartezeit" soll, so die Niedersächsische Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz, nun auch auf andere Haftanstalten übertragen werden. Die neue Stelle für den familiensensiblen Vollzug in der JVA Meppen wird bald besetzt. Anstaltsleiter Per Zeller will auch im regulären Besuchsbereich mehr auf die Familien zugehen: "Den Kontakt zu Angehörigen stärker suchen, unsere Besuchszeiten flexibilisieren, um insbesondere auch Kindern, die in der Schule sind, und Ehefrauen und Partnerinnen, die berufstätig sind, bessere Chancen zu geben, zu Besuch zu kommen."
Michael hat noch ein Jahr Haft vor sich. Er zählt die Tage, sehnt sich nach dem ganz normalen Alltag mit seiner kleinen Tochter und seiner Frau: "Ich weiß, meine Frau, meine Familie ist da draußen. Und die werden auch noch da sein, wenn ich wieder draußen bin."
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