Falsche und echte Vitamine

Von Udo Pollmer · 29.04.2006
Was wäre die Ernährungswissenschaft ohne Vitamine? Nicht mehr als ein Wurmfortsatz der Medizin, ähnlich wichtig wie Wadenwickel. Grund genug, um einen Blick auf dieses Fundament moderner Wissenschaft zu werfen und seine Tragfähigkeit zu prüfen.
Vor fast zehn Jahren nahm der EU.L.E.n-Spiegel schon einmal ein B-Vitamin unter die Lupe. Damals ging es um die Geschichte vom polierten Reis, der wegen seines geringen Gehaltes an Thiamin für die Beriberi verantwortlich sein soll. Tatsächlich beruht die Erkrankung aber nicht auf einem Vitaminmangel, sondern auf einer Schimmelpilzvergiftung, die durch Fusarien auf Reis ausgelöst wird (vgl. EU.L.E.n-Spiegel 1997/H.4).

Auch wenn das verantwortliche Nervengift Citreoviridin erst 1972 identifiziert wurde, so war längst vorher klar, dass die Vitamintheorie nicht stimmen konnte. Bereits 1911 hatte die Beriberi-Studienkommission in Tokyo berichtet, dass die Krankheit nicht nur beim Konsum von poliertem Reis auftritt, sondern gleichermaßen bei Naturreis. Weil sich später das aus dem Silberhäutchen isolierte und aufkonzentrierte Thiamin als Antidot bei einer Citreoviridinvergiftung erwies, wurde es trotzdem zum Vitamin geadelt. Doch das B1 ist kein Nervenschutzstoff, wie uns Lehrbücher und Werbung weismachen, sondern ein Mittel gegen Mykotoxikosen.
Diese Erkenntnis hat uns dazu veranlasst, eine andere auffällige "Vitaminmangelkrankheit" zu überprüfen: die Pellagra. Das ernüchternde Ergebnis finden Sie auf den folgenden Seiten.

Kaninchen als Kronzeugen

Nicht nur die "wasserlöslichen" Vitamine werfen Fragen auf, sondern auch die "fettlöslichen". So vermeldet das US-amerikanische National Research Council in seinen Recommended Dietary Allowances, dass es glatt 40 Jahre gedauert habe, um die "Lebensnotwendigkeit" von Vitamin E für den Menschen nachzuweisen. Vielleicht hätten sich die Vitaminforscher ein Beispiel an der Pharmaindustrie nehmen sollen. Die schafft es gewöhnlich in viel kürzerer Zeit, weitaus belanglosere Stoffe zu ultimativen Lebensrettern hochzustilisieren.

Aber gibt es etwa gar keine Vitamine? Doch, natürlich. Bloß folgen sie den Gesetzen der Biologie und nicht den Wünschen der Ernährungsexperten. Denn wie viele essenzielle Stoffe ein Lebewesen benötigt, hängt wesentlich von seinem Nahrungsspektrum ab. Für einen Futterspezialisten, der nur eine Speise frisst, sind alle darin enthaltenen Bestandteile potenziell lebensnotwendig. Ein Allesfresser hingegen kommt mit jeder verfügbaren Kost zurecht, weshalb die Inhaltsstoffe seiner jeweiligen Nahrungsmittel nicht besonders essenziell sein können. Insofern will es für den Menschen nicht viel heißen, wenn sich etwa die Tocopherole für Kaninchen als unverzichtbar erweisen. Warum wohl greifen die Vitaminforscher so ungern auf Allesfresser wie Schweine zurück? Ihre Kronzeugen sind stattdessen Hühner, Karnickel, Tauben oder Hunde.

Existenziellen Stoffen begegnet der menschliche Körper mit dem gebotenen Respekt: Ihm genügen davon minimale Mengen, und er bewahrt sie notgedrungen für magere Zeiten auf. Ganz anders verhält es sich mit Substanzen, die wie das Vitamin C durchs Gewebe suppen und die wie die meisten B-Vitamine nicht gespeichert werden. Ihr Vitamincharakter steht a priori in Frage.

Das Fast-Food-Vitamin

Ein typisches Beispiel für ein echtes Vitamin ist das Cobalamin. Hier reicht unserem Organismus ein Hunderttausendstel der Dosis, die für Vitamin C empfohlen wird. Der Aufwand, den er mit dieser geringen Menge treibt, ist beeindruckend: Nach der Freisetzung aus der Nahrung bindet ein eigens dafür produzierter Intrinsic-Faktor das B12 und transportiert es ins Ileum. Dort wird es von speziellen Rezeptoren erkannt, durch die Darmwand ins Blut verfrachtet und schließlich vom Intrinsic-Faktor freigesetzt. Der ganze Vorgang nimmt etwa acht bis zehn Stunden in Anspruch. Nach seinem Gebrauch wird das Vitamin per enterohepatischem Kreislauf wieder recycelt. Dadurch halten die B12-Speicher bis zu 30 Jahre.

Zur Sicherheit unterhält der Körper eine Darmflora, die reichlich Cobalamin produziert. Obwohl wir das Vitamin nicht mehr aus unserem Colon resorbieren, könnten wir den lebenswichtigen Bedarf im Notfall durch den Konsum geringer Mengen an Kot decken. Dies praktizieren nicht nur Pflanzenfresser wie Karnickel, sondern auch Menschenaffen, falls sie sich vegetarisch ernähren. Die Primatologen haben für den schnellen Griff zur frischen Portion Vitaminpaste aus eigener Herstellung einen hübschen Namen parat: "Fast Food". Seitdem der Mensch seinen Hintern mit mehrlagigem Papier pflegt und sich danach auch noch die Hände wäscht, kommt es bei ihm hin und wieder zu einem echten Vitaminmangel - zumindest, wenn er sich an eine strikt pflanzliche Ernährungsweise hält.

Entnommen aus: EU.L.E.n-Spiegel 2006/Heft 1/ S.1-2