Faktenreichtum vom Rhetorik-Fachmann

02.08.2010
Der emeritierte Germanistik-Professor wollte die deutsche Sprachgeschichte leicht konsumierbar machen. Das Ergebnis ist ein kurzweiliges Überblickswerk. Auf die Korrektheit aller Einzelheiten sollte man sich aber nicht verlassen.
"Deutsch. Biografie einer Sprache" – das klingt peppiger als "Sprachgeschichte des Deutschen". Und tatsächlich kommt es Karl-Heinz Göttert darauf an, den Stoff aus zwei Jahrtausenden leicht konsumierbar vorzutragen, weshalb der Rhetorik-Fachmann neben Humor auch Flapsigkeit für ein probates Stilmittel hält.

Sein Werk beginnt naturgemäß bei den "germanischen Eltern" des Deutschen und überzeugt bei der Darstellung der mittelalterlichen Sprachentwicklung, angefangen mit der "Admonitio generalis" (789), in der Karl der Große auf verständliche Ausdrucksweise der Priester pochte, bis zu Luthers einflussreichen Bibelübersetzungen ab 1522. Die Sprachwerdung "des" Deutschen, mit der "die" Deutschen ihre politische Identität laut Göttert überhaupt erst gewannen, wird als "Drillingsgeburt" (Nieder-, Ober- und Mitteldeutsch) charakterisiert. In der Hochsprache stecke am Ende "viel Luther, einiges an kaiserlicher Hofkanzlei und eine gute Prise Preußentum".

Als Mittelalter-Experte berücksichtigt Göttert auch Randgebiete. So zeigt er, dass Frauen, von der Bildungssprache Latein ausgeschlossen, in der mystischen Literatur für die "erste Explosion der Innerlichkeit" sorgten und die Mitteilbarkeit von Gefühlen und seelischen Vorgängen massiv erweiterten.

Alphabetisierung, Rittertum, die Erfindung des Prosa-Stils, der Beginn des "Aktenzeitalters" samt seinen Schriftdialekten: Göttert ist in seinem akademischen Element und schreibt mit unakademischer Verve. So flott er jedoch generell formuliert, so sicher sein Zugriff auf das mittelalterliche Textkorpus ist, so knapp und voraussetzungsreich sind seine sprachwissenschaftlichen Bemerkungen, nicht zuletzt zu den Lautverschiebungen.

Überhaupt liest sich das Buch oft wie eine Literatur- und weniger wie eine Sprachgeschichte. Die Kapitel zur Neuzeit – teils chronologisch: "Humanismus", "Aufklärung", "Nationalismus", teils systematisch: "Germanistik", "Stil und Jargon", "Literarische Moderne" – wirken angesichts der Stofffülle immer beliebiger und hektischer. Fehler treten auf. Konrad Dudens Rolle auf der Ersten Orthographischen Konferenz von 1876 wird falsch dargestellt, Feridun Zaimoglu der Bachmann-Preis angeheftet (es war der Preis der Jury), Zitate sind unkorrekt, über das digitale Fortleben des "Grimm" scheint der Autor nicht im Bilde etc.

Dafür kann Göttert zeigen, dass die deutsche Sprache immer schon massiv von Fremdsprachen beeinflusst worden ist – zunächst naturgemäß vom Lateinischen als der Lingua franca des Mittelalters, später massiv vom Französischen – und dass die Reinheits-Fanatiker im Rückblick engstirnig, wenn nicht lächerlich wirken. Die Übermacht des Englischen in der EU, Anglizismen-Flut in deutschen Wörterbüchern, das Ausgreifen des Denglischen im hiesigen Alltag: Göttert sieht's sympathisch gelassen und prophezeit: "Die Zukunft des Deutschen liegt jedenfalls darin, sich in einem vielsprachigen Europa und einem mehrsprachigen Deutschland zu behaupten".

"Deutsch. Biografie einer Sprache" ist ein kurzweiliges, faktenreiches Überblickswerk. Auf die Korrektheit aller Einzelheiten sollte man sich nicht verlassen.

Besprochen von Arno Orzessek

Karl-Heinz Göttert: Deutsch. Biografie einer Sprache
Ullstein Verlag, Berlin 2010
400 Seiten, 19,95 Euro
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