Fake News in Indien

Lügen bestimmen den Wahlkampf

22:55 Minuten
Inder tragen auf einer Demonstration Masken mit dem Bild von Indiens Premierminister Narendra Modi.
Was ist echt und was ist Fake? Die 900 Millionen Wahlberechtigten in Indien entscheiden - am 23. Mai werden die Ergebnisse der Parlamentswahl verkündet. © imago | Hindustan Times
Von Benedikt Schulz · 06.05.2019
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Indien gilt weltweit als das Land mit der größten Dichte an "Fake News". Facebook und WhatsApp sind für hunderte Millionen Inder die wichtigsten Nachrichtenquellen. Während der zurzeit laufenden Parlamentswahl, kämpfen die Fakten-Prüfer gegen Windmühlen.
Ein mit wackliger Hand gedrehtes Handyvideo zeigt Indiens Premierminister Narendra Modi, der gefolgt von tausenden Menschen mit kräftigem Schritt die Straße entlang geht. Die Frau, die das Video gedreht hat, ruft begeistert den Namen des Premiers.

Im Podcast der Weltzeit hören Sie mehr Hintergründe aus Indien: Wo Premier Modi groß wurde, wie Frauen in der Ehe aufbegehren und warum Kühe politisch sind.

Die Schlagzeile unter diesem Video lautet: "So bewirbt sich der Löwe für die Wiederwahl." Die Behauptung dahinter: Als Narendra Modi seine Nominierungsunterlagen für die Parlamentswahlen einreichen will, begleiten ihn tausende begeisterte Anhänger. Symbolträchtige Bilder, die vor Kurzem im Netz über Facebook-Posts viral gingen und die zeigen sollen: Der charismatische Premier hat die Wahl bereits so gut wie gewonnen. Das Video ist echt, aber die Botschaft ist getürkt. Sagen die Fact-Checker von Boom.

Indiens wichtigste Faktenprüfer-Organisation

Das Boom-Studio versteckt sich in einem alten Industriekomplex im Stadtteil Worli im Süden von Mumbai. Von außen deutet nicht viel darauf hin, dass hier Indiens derzeit wichtigste Fact-Checking-Organisation arbeitet.
Sie hat aufgedeckt, dass die Aufnahme in Wirklichkeit nicht erst einige Tage alt ist, sondern bereits vor mehreren Monaten gedreht wurde - im August 2018. Und sie zeigt den Premierminister bei der Beerdigung eines Politikers seiner Partei BJP. Darüber hinaus hatte Narendra Modi zum Zeitpunkt des Facebook-Posts seine Nominierungsunterlagen noch gar nicht eingereicht.
Solche und andere bewusst verbreitete Lügen entlarven die Fakten-Prüfer von Boom seit 2017. Gegründet vom ehemaligen Bloomberg-TV-Journalisten Govindraj Ethiraj, geht es der Plattform auch um Kompetenz-Vermittlung. Dazu veröffentlicht sie regelmäßig kurze Videoclips, in denen den Nutzern auch erklärt wird, wie sie Fake News selbst auf die Spur kommen können, erklärt Gründer Ethiraj:
"Sie kennen das sicherlich. Posts, die vielfach geteilt und weitergeleitet werden mit Inhalten wie: Diese Gruppe hat diesen Ärger verursacht, oder diese Menschen wurden von diesen Gruppen attackiert. Also Gerüchte, die für Aufruhr sorgen und den Leuten Angst machen. Anders als in Europa bleibt es hier aber nicht dabei: In Indien sind vergangenes Jahr mehr als 30 Menschen ums Leben gekommen aufgrund von Gerüchten über Kindesentführungen, die über WhatsApp verbreitet wurden. Ein Mob hat die Menschen jeweils gelyncht. Das sind die Auswirkungen, die Fake News in diesem Land haben können."
Whatsapp musste nach diesen Vorfällen im Sommer 2018 in Indien reagieren und schränkte die Weiterleitungsfunktion deutlich ein. Beiträge können seitdem nur noch an fünf Kontakte gleichzeitig weitergeschickt werden.

52 Prozent informieren sich bei WhatsApp und Facebook

Der Einfluss von sozialen Medien bleibt aber riesig. Bei der aktuellen Parlamentswahl ist er so groß wie nie. Weil fast doppelt so viele Inder ein Smartphone haben wie noch vor drei Jahren. Weil das mobile Internet inzwischen auch in ländlichen Regionen verfügbar ist. Und weil laut einer Studie des "Reuters Institute" 68 Prozent der Inder das Smartphone als Nachrichtenquelle nutzen. 52 Prozent informieren sich bei WhatsApp oder Facebook, deutlich mehr als über Fernsehen, Print oder Radio mit unter 30 Prozent. Dieses Nutzerverhalten ist auch Ausdruck einer Krise, die die klassischen Medien in Indien durchmachen.
Indische Studentinnen nutzen ihre Smartphones. Aufgenommen 2015 in Kalkutta, Indien 
Facebook hat in Indien rund 340 Millionen Nutzer.© dpa / picture alliance / Piyal Adhikary
"Die Glaubwürdigkeitskrise ist eines der größten Probleme der indischen Medien."
Naresh Fernandes ist Leitender Redakteur bei "Scroll.in", einem unabhängigen Onlinenachrichten-Magazin aus Mumbai.
"Das passiert gerade überall auf der Welt. Überall gibt es eine anhaltende Kampagne um die Medien zu diskreditieren, angeführt von diesem Trump-Modi-Erdogan-Politikertypus: Die machen nur Fake News: Nur was ich sage, ist die Wahrheit. Das andere große Problem ist, dass viele unserer Medien mehr und mehr zu Lautsprechern der Regierungspartei geworden sind. Sie müssen nur irgendeinen Fernsehsender anmachen und bekommen irgendeinen BJP-Slogan."
Die indischen Medien befänden sich dazu in einer schwierigen finanziellen Lage, sagt Fernandes, kaum eine Zeitung verdiene Geld, auch "Scroll.in" schreibt noch keine schwarzen Zahlen, obwohl es als eines der erfolgreichsten reinen Onlinenachrichtenportale Indiens gilt.

Zeitungen arbeiten mit BJP-Regierung zusammen

Das ist keine neue Entwicklung, sagt die berühmte indische Journalistin Kalpana Sharma. Sharma arbeitet seit über 45 Jahren in der Branche, hat unter anderem beim "Indian Express", bei "The Hindu" und " The Times of India" gearbeitet.
"Als ich bei der 'Times of India', also einer der größten Zeitungen Indiens angefangen habe, da war die Entwicklung schon in vollem Gange", erinnert sich die Journalistin.
Eine Entwicklung, die mit der Privatisierung und Liberalisierung der indischen Wirtschaft zu Beginn der 90er Jahre begonnen habe. Seit dieser Zeit sei Journalismus mehr und mehr zum ökonomischen Wettbewerb geworden, sagt Kalpana Sharma:
"Man hat uns als erfahrenen Journalisten gesagt: Ihr müsst Brand Manager sein. Und wir alle so: Was zur Hölle ist ein Brand Manager? Was ist überhaupt ein Brand? Und der Brand, also die Marke war natürlich die 'Times of India' und man erwartete von uns in erster Linie, dass wir diese Marke verkaufen, das hat man uns ganz ernsthaft erklärt. Und bis heute ist das so: Nachrichten werden vor allem ausgewählt, um die Marke zu verkaufen."
Der alte Mann mit Zeitung trägt einen weißen Bart und einen weißen Turban. Er sitzt vor einem Marktstand mit Obst.
Ein Beispiel des Bedeutungsverlustes: "The Times of India" ist mit einer Auflage von nur noch 2,8 Millionen Exemplaren die größte englischsprachige Tageszeitung Indiens.© dpa / Sebastian Kahnert
Vor allem die Eigentümer von Zeitungen und Fernsehsendern würden immer mehr Einfluss nehmen auf die Inhalte: "Die Medien sind in Privatbesitz. Und viele der Eigentümer sehen einen Vorteil darin 'pro Regierung' zu sein. Sie mischen sich ganz direkt in den redaktionellen Teil ein, weil Medien zum Gewinn des jeweiligen Unternehmens beitragen müssen."
Besonders problematisch daran: Viele Medien, mehr als etwa in Deutschland, sind finanziell abhängig von Anzeigenkunden – und zu den wichtigsten dieser Kunden gehören auch die politischen Parteien, von denen die Regierungspartei BJP wiederum das meiste Geld gibt. Nur ein Beispiel dieser Zusammenarbeit: Mitten während der indischen Parlamentswahl hatte die renommierte "Hindustan Times" auf den ersten vier Seiten großflächige Anzeigen der BJP mit dem Gesicht von Premier Narendra Modi.
"Man sollte annehmen, dass eine freie Presse kritisch gegenüber der Regierung ist. Aber diese Regierung ist clever und sie haben das Narrative gesetzt, dass die Mehrheit der Medien nur über die Fehler der Opposition berichten soll. Anstatt dass sie über die Themen berichtet, die den Menschen wichtig sind. Wir sind in einem Wahljahr, da sollten Journalisten rausgehen und die Leute fragen: Welche Probleme habt ihr? Aber so etwas findet man praktisch gar nicht."

Falsche Botschaft mit verstörendem Prügelvideo

Indien gilt heute weltweit als das Land mit der größten Dichte an Fake News – was natürlich auch an der schieren Größe des Landes und der Zahl seiner Einwohner liegt, aber die Entwicklung vieler klassischer Medien hat mindestens dazu beigetragen. Insbesondere WhatsApp ist in Indien weit verbreitet und gilt als effektivste Plattform für das Verbreiten von Falschinformationen – auch weil man dort, anders als bei Facebook, Beiträge nicht melden kann, sagt der Gründer der Faktencheck-Organisation Boom, Govindraj Ethiraj.
"Deswegen haben wir eine WhatsApp-Helpline eingerichtet über die Menschen uns auf mögliche Falschinformationen aufmerksam machen können, indem sie die entsprechenden Nachrichten an uns weiterleiten. Und da bekommen wir täglich etwa 50 bis 60 ernstzunehmende Hinweise."
Doch selten lässt sich beweisen, wer hinter den Falschnachrichten steckt. Etwa hinter diesem Tweet von einer jungen Inderin, die sich auf ihrem Account als "21 year old Delhi girl Big Modi Fan" beschreibt. Vor wenigen Tagen erst twitterte sie ein verstörendes Video, das zeigt, wie ein Mann zu Tode geprügelt wird. Ihr Text dazu: Mamatas Schläger töten öffentlich BJP-Mitglieder in Westbengalen. Gemeint ist Mamata Banerjee, die Regierungschefin von Westbengalen und als eine der mächtigsten Oppositionspolitikerinnen des Landes eine ernstzunehmende Gefahr für Modis Wiederwahl. Aber sie hat nichts damit zu tun.
Wieder wurde ein existierendes Video mit einer neuen, falschen Botschaft versehen: Die brutale Szene zeigt den tödlichen Ausgang eines Familienstreits, der auch nicht in Westbengalen, sondern in einem ganz anderen indischen Bundesstaat stattfand. Fakten-Checker Jency Jacob, leitender Redakteur bei Boom erklärt, dass sich in vielen Fällen eine direkte Verbindung zu den Parteien nur vermuten lässt:
"Eine Facebookseite, auf der viele Fake News gepostet wurden, wurde aufgrund unserer Recherchen gesperrt. Der Mann, der dahintersteckt, wurde sogar verhaftet. Und gerade eben erst haben wir eine weitere Seite als Fake-News-Quelle öffentlich gemacht. Diese beiden Beispiele hängen jeweils einer der beiden großen Parteien an, dem Kongress und der BJP. Aber: Eine direkte Verbindung zu den Parteien können wir nicht beweisen."
Dazu seien die großen Parteien inzwischen zu schlau. Seiten, die einen direkten Zusammenhang mit Politikern der Partei hätten, würden so gut wie keine widerlegbaren Falschinformationen verbreiten. Zumindest können die Fakten-Checker ziemlich sicher ausschließen, dass die Fake News vom Ausland aus gesteuert werden. Es gebe genug Störenfriede innerhalb Indiens, wie Jacob und Ethiraj von Boom mit gequältem Gesichtsausdruck anmerken. Und das Land ist groß. Allein durch die schiere Menge an Falschnachrichten, die über WhatsApp, Facebook und Twitter gestreut werden ist das ein Kampf gegen Windmühlen.

Lügen aus dem eigenen Weltbild werden geglaubt

Denn auch wenn Fakten-Checker die Falschmeldungen als solche erkennen und ihre Ergebnisse veröffentlichen – der Schaden ist da schon angerichtet, sagt Boom-Gründer Ethiraj.
"Alle einschlägigen Studien zum Thema zeigen, dass Fake News mehr Leute überzeugen als echte Nachrichten. Mehr noch: Diese Studien zeigen auch, dass die Leute eher an die getürkten Nachrichten glauben, selbst wenn man ihnen die Fakten zeigt."
Fakten, die den eigenen Überzeugungen widersprechen, würden eher ausgeblendet. Anders bei Lügen, die aber dem eigenen Weltbild entsprechen. Und doch habe ihre Arbeit spürbare Wirkung, zum einen, weil Anbieter wie Facebook und YouTube mit den Faktenprüfern von Boom zusammenarbeiten und als Fake News entlarvte Einträge markieren.
Zum anderen, ergänzt Redakteur Jacob: "Vor zwei Jahren hätte kein Mainstreammedium das Thema auch nur angefasst. Fake News waren nichts über das man als Journalist berichtet hat. Aber Organisationen wie Boom haben das Thema in den Fokus gerückt, wir haben die Mainstreammedien dazu gezwungen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Und wie haben wir das getan? Wir haben sie an ihrem Ego gepackt. Jedes Mal, wenn die einer Falschmeldung aufgesessen sind, haben wir sie bloßgestellt."
Ein besonders kurioses, wenn auch eher harmloses Beispiel dafür ist das: Vergangenen Herbst sind laut Jacob mindestens zehn größere Medien auf die Ente reingefallen, dass die Rolle des Jack Sparrow aus dem Film "Fluch der Karibik" von der hinduistischen Gottheit Krishna inspiriert sei. Und obwohl längst als Falschmeldung entlarvt, ist das Netz immer noch voll von Artikeln, die sie wiederholen.
"Inzwischen haben mindestens fünf der großen Medienhäuser im Land eigene Faktencheck-Abteilungen eingerichtet. Das nenne ich Wirkung erzielen", freut sich Jacob.
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