"Fahrgäste bleiben draußen in der Kälte stehen"

Susanne Henckel im Gespräch mit Marcus Pindur · 10.01.2011
Nach dem zweiten harten Winter sei höchste Eile für eine Problemanalyse geboten, sagt die Hauptgeschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Schienenpersonennahverkehr Susanne Henckel. Mit dem Thema befassen sich in Berlin die Verkehrsminister der Länder auf einer Sondersitzung.
Marcus Pindur: In der DDR gab es einen Witz: Wie viele Feinde hat die Reichsbahn? Antwort: Vier – Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Jetzt ist die Deutsche Bahn AG durchaus schneller und komfortabler als die alte Reichsbahn oder auch die alte Bundesbahn, aber eben nicht im Winter, wie jeder unschwer feststellen konnte, der über Weihnachten der Familie einen Besuch abstatten wollte. Woran liegt das? Diese Frage gebe ich direkt weiter an Susanne Henckel, sie ist Hauptgeschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Schienenpersonennahverkehr, die spricht für die Länder und die Verkehrsverbünde. Guten Morgen, Frau Henckel!

Susanne Henckel: Ja, schönen guten Morgen, Herr Pindur!

Pindur: War das Bahn-Chaos vor und während der Weihnachtsfeiertage vermeidbar?

Henckel: Das ist schwer abzuschätzen, es hatte viele Ursachen, Herr Pindur. Wir konnten beobachten, dass gerade im regionalen Nahverkehr es in zahlreichen Regionen Probleme gab. Das lag zum einen an der Infrastruktur, das heißt die Strecken waren nicht zeitig genug geräumt, eingefrorene Weichen waren ein Problem, die Bahnsteige waren nicht geräumt; es lag aber auch an Fahrzeugproblemen.

Pindur: Fahrzeugprobleme heißt, der Bahn steht nicht die richtige Infrastruktur zur Verfügung beziehungsweise sie hat nicht die richtigen Reserven?

Henckel: Genau. Die Infrastruktur ist nicht in dem Zustand, dass, wenn es draußen schneit, die Schneepflüge schnell rauskommen. Gerade die Anzahl der Räummitarbeiter ist in den letzten Jahren massiv gekürzt worden. Das heißt, hier gab es lange Wartezeiten, bis die Strecken frei waren, und bei den Fahrzeugen gab es bei der Bahn, aber auch bei anderen Betreibern verschiedene Probleme.

Pindur: Im Fernverkehr war das ja hauptsächlich in der Reisezeit über die Feiertage ein Problem. Jetzt ist der Urlaub vorbei, die meisten setzen wieder auf den Nahverkehr. In Berlin zum Beispiel gibt es immer noch leicht chaotische Verhältnisse bei der S-Bahn. Die S-Bahn gehört der Deutschen Bahn und man vermutet oder man weiß relativ sicher mittlerweile, dass die Renditewünsche der Deutschen Bahn im Zuge der Privatisierung verhindert haben, dass die S-Bahn richtig gewartet wird. Ist das ein Problem für Sie, die Privatisierung insgesamt?

Henckel: Die Vorgaben sind sicherlich eine der wesentlichen Ursachen für die Probleme, die jetzt sowohl in Berlin als auch im gesamten deutschen Nahverkehr auftauchen. Wir können feststellen, dass diese Vorgaben zu großem Abbau der Wartungskapazitäten geführt haben und genau dieses uns jetzt auch gerade besonders in Berlin auf die Füße fällt.

Pindur: Jetzt wird in Deutschland immer sofort gerne die Systemfrage gestellt und dann wird pauschal die Bahnprivatisierung als schuldig ausgemacht. Sehen Sie das auch so oder betrachten Sie die Bahnprivatisierung als prinzipiell doch eine gute Sache?

Henckel: Nein. Die Bundesarbeitsgemeinschaft BAG-SPNV hat in den vergangenen Jahren an verschiedenen Stellen die daraus resultierenden Probleme aufgezeigt. Die engen Sparkorsette gerade der DB-Infrastrukturgesellschaften DB Netz und DB Station & Service haben, wie bereits geschildert, zu einem großen Abbau von Personalen geführt. Dies hat Konsequenzen, Strecken, Stationen stehen nicht so bereit, wie die Verkehrsunternehmen und die Züge das benötigen. Aber auch bei den eigenen Transportgesellschaften haben diese Vorgaben, die der möglichen Privatisierung vorausgingen, hier zu heftigen Konsequenzen geführt. Auch die Konsequenz, dass die Informationskette zwischen den Verkehrsunternehmen, die auch vielleicht verspätet auf der Strecke unterwegs sind, den DB Netz als Infrastrukturbetreiber und zum Schluss am Ende der Kette an den Bahnhöfen ankommen, funktioniert nicht, und auch das war ein Problem der letzten Tage. Die Fahrgäste bleiben draußen in der Kälte stehen ohne Infos.

Pindur: Wir haben als Beispiel die Berliner S-Bahn genannt, man könnte auch andere Verkehrsverbünde als Beispiel nehmen, wäre es nicht da jetzt langsam mal an der Zeit, dass die Politik, also die Landesregierungen darüber nachdenken, dort, wo es nicht funktioniert mit der Bahn, eben sich um andere Anbieter zu kümmern?

Henckel: Ja es ist nicht nur langsam, sondern es ist höchste Eile geboten. Es ist ganz dringend notwendig nach einem nunmehr zweiten harten Winter hier, dass Bahn, aber auch Bund als Eigentümer mit den Ländern ein Gespräch suchen, dass eine Analyse gemacht wird, wo liegen die Probleme, und dass insbesondere ein großes Programm aufgesetzt wird, um hier Abhilfe zu schaffen.

Pindur: Ein großes Programm hieße, die Bahn müsste mehr investieren?

Henckel: Das hieße, die Bahn müsste sehr zielgerichtet investieren und das Geld muss genau an den Stellen eingesetzt werden. Nur mal als Beispiel: Die Weichenheizungen in Deutschland, jede zweite Weiche ist beheizt, das reicht nicht aus, wir brauchen wieder mehr Kapazitäten auf der Schiene, wir brauchen Überholmöglichkeiten, eine Flexibilität des Netzes, damit nicht jede Verspätung auch gleich wieder Auswirkungen in den Regionalverkehr und in die Region tragen.

Pindur: Ein Privatisierungsprozess eines so großen Monopolbetriebes, der hundert Jahre in staatlicher Hand war, ist sicherlich auch ein Lernprozess. Welche konkreten Lehren, würden Sie denn dem Bahnvorstand empfehlen, soll er daraus ziehen?

Henckel: Als Erstes sollte wie gesagt eine genaue Analyse der jetzigen Situation getroffen werden. Das heißt, hier müssen ehrlich alle Beteiligten an einen Tisch und die Probleme müssen genau benannt werden und es muss nach Ursachen geforscht werden. Ferner, es ist eine große Aufteilung der Infrastrukturen und der Verkehrsunternehmen erfolgt in den vergangenen Jahren. Hier muss überlegt werden, wie kann die Informations- und Kommunikationskette wieder verbessert werden, damit nicht zum Schluss die Fahrgäste diejenigen sind, die unter dieser Aufteilung leiden.

Pindur: Gibt es denn auch Verkehrsverbünde, die besonders gut gewappnet sind, können Sie da auch mal Positivbeispiele nennen?

Henckel: Ja, nachdem wir festgestellt haben, dass es gerade im hohen Norden, in Schleswig-Holstein, und auch in Bayern große Probleme gab, einzelne Regionen gar nicht mehr am Netz, an der Schiene waren, kann man ganz grob sagen, dass es etwas weniger Probleme in der Mitte von Deutschland gab. Das lag auch daran, dass auf vielen Transitstrecken zuerst geräumt wurde, dass zum Teil aber auch Verkehrsunternehmen dort im Einsatz waren, die genügend Kapazitäten hatten, die genug Ersatzfahrzeuge, aber auch zum Beispiel genug Werkstattkapazitäten hatten, Fahrzeuge konnten enteist werden. Und insgesamt hat es dort wesentlich besser funktioniert trotz der gleichen Schneehöhen und auch der gleichen Temperaturen.

Pindur: Frau Henckel, vielen Dank für das Gespräch!

Henckel: Ja, ich bedanke mich auch bei Ihnen!

Pindur: Susanne Henckel, sie ist Hauptgeschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Schienenpersonennahverkehr.