Fächerübergreifender Blick

Von Annette Schneider · 24.03.2011
Aby Warburg zählt zu den wichtigsten und innovativsten Kunst- und Kulturwissenschaftlern des frühen 20. Jahrhunderts. Statt der "reinen" Lehre forderte er einen fächerübergreifenden Blick auf Kunst. Nun rekonstruiert eine Ausstellung in der Hamburger Kunsthallle sein Wirken.
Hiermit ist der Beweis geliefert: Eine wissenschaftsgeschichtliche Ausstellung muss nicht trocken sein. Natürlich liegt dies auch am Gegenstand: Aby Warburgs Denken ist nun einmal alles andere als verstaubt. Als einer der ersten ging er um 1900 gegen die Vorstellung der Kunstwissenschaft vor, man brauche Gemälde oder Skulpturen nur aus sich selbst heraus zu erklären, um ihren Sinn zu begreifen.

Warburg forderte, man müsse den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext mitbedenken. So wurde der 1866 als Sohn einer jüdischen Bankiersfamilie in Hamburg geboren Kulturwissenschaftler Mitbegründer des uns heute so selbstverständlichen fächerübergreifenden Forschens.

Kurator Marcus Hurttig: "”Um eben diesen Ansatz zu verwirklichen, muss er natürlich nicht nur die Form analysieren, sondern er muss alle möglichen Quellen, die dem Historiker zur Verfügung stehen, heranziehen. Also sprich: Warburg hat Testamente durchgelesen, Nachlassinventare sich angeschaut, um ein Gefühl zu bekommen, in welchem Kontext, in welcher Situation ein Renaissancegemälde untergebracht war.""
Anschaulich stellt die Ausstellung dies an Warburgs Forschungsschwerpunkt vor: Dem Nachwirken der Antike auf spätere Künstler, vornehmlich der Renaissance. Durch Arbeiten in Florenz, durch den Vergleich antiker Abbildungen mit solchen aus der Renaissance hatte Warburg erkannt: Anders als es Winckelmann einst erklärt hatte, bestanden Antike und Renaissancekunst nicht nur aus Werken "edler Einfalt und stiller Größe". Erste Ergebnisse präsentierte Warburg 1905 auf einem Kongress in Hamburg.

"Der Forschungsbeitrag seines Vortrags 1905 besteht darin, dass er zum ersten mal untersucht, was Dürer in Venedig beeinflusst hat, als er dort war 1494. Anhand der Kunstwerke, die wir kennen, die entstanden in Venedig, konnte er feststellen, dass Dürer vermittelt über Renaissancekünstler Italiens wie Mantegna oder Pouaillolo Antike studiert hat, die wild und leidenschaftlich in ihrer Stillage war."

Warburg illustrierte seine Erkenntnisse mithilfe einer kleinen Ausstellung, die die Kunsthalle nun rekonstruiert und erweitert: So zeigt sie außer den damals ausgestellten Blättern Mantegnas und Dürers auch den Schriftwechsel zwischen Warburg und dem damaligen Kunsthallenleiter Alfred Lichtwark, der dem Projekt vorausging.

Vor allem aber präsentiert sie zahlreiche weitere Blätter, die Warburgs Arbeitsweise verdeutlichen, und vorführen, wie er der "entfesselten" Antike auf die Spur kam: Auf Stichen Mantegnas etwa sieht man ausladende Bewegungen kämpfender Seegötter - daneben, auf Kopien antiker Friese, die gleichen Bewegungen.

Oder: Die Tanzenden von Marcanton Raimondi, der Faltenwurf ihrer Gewänder - sie finden sich wieder auf antiken Vasenbemalungen. Oder Dürer. 1494 kopierte er in Venedig ein Blatt Mantegnas - Orpheus wird von zwei Mänaden des Dionysus erschlagen - ein Bild, das so gar nicht in die klassische Antike-Vorstellung von "edler Einfalt, stiller Größe" passte.

"Und diese Darstellungsweise wurde lange Zeit im 19. Jahrhundert als eine nach dem Leben gezeichnete Komposition angesehen. Das bedeutet ja, das es dafür keine Vorbilder gibt, das es eine einmalige Situation ist. Warburg konnte aber durch sein progressiveres Denken feststellen, dass auch diese Art und Weise, wie jemand erschlagen wird, nach einem antiken Vorbild entstanden ist."

So revidierte Warburg das klassische Antike-Bild. Und für die ursprünglich antiken, durch die Jahrhunderte immer wiederkehrenden Motive prägte er den Begriff der "Pathosformel".

Besonders gelungen ist Hurttigs Idee, die Beispiele für dieses Nachwirken der Antike bis in Warburgs Zeit weiterzuverfolgen: So hängen neben Renaissancezeichnungen tanzender Bacchantinnen Blätter von Otto Greiner und Max Klinger aus den 1890er-Jahren, die diese Tanzenden aufgreifen.

Und am Ende der Ausstellung steht man plötzlich vor einer frühen Fotografie von Manets "Frühstück im Freien" - daneben ein Stich Raimondis aus dem 16. Jahrhundert, mit eben solch einer im Gras lagernden Dreiergruppe, die Manets Bild weltberühmt machte.

"Wo man eben nachweisen kann, dass dieser Vorbereiter des Impressionismus auch ein antikes Motiv eins zu eins übernimmt, für eine verweltlicht Szene dann allerdings. In der Antike war es eine ruhende Göttergruppe."

So macht die Ausstellung Lust auf genaues Sehen, auf historische Vergleiche, darauf, eigene Beispiele zu suchen - Warburgs Methode weiterzudenken.
Und Warburgs berühmte Bibliothek, die in den 20er-Jahren intellektueller Treffpunkt war, und von der kürzlich in der Presse geraunt wurde, sie würde vielleicht aus London nach Hamburg zurückkehren? Marcus Hurttig lächelt milde: Die Engländer wüssten, was sie an der Bibliothek hätten.

Und wo sollte wohl im reichen Hamburg der politische Wille herkommen, Mittel für ein 180.000 Bände fassendes Gebäude zur Verfügung zu stellen, wo hunderte Millionen in den Bau der Elbphilharmonie gehen - und dafür die Museen so wenig Geld erhalten, dass die gerade überlegen müssen, ihre Bibliotheken zu schließen?