Fachverband Fußverkehr Deutschland

"Wir freuen uns über jeden, der nicht mehr Auto fährt"

Fahrradfahrer fahren auf dem Radweg der Warschauer Brücke, Berlin
In großen Städten wird mehr zu Fuß gegangen als Auto gefahren, sagt Roland Stimpel. © imago
Roland Stimpel im Gespräch mit Dieter Kassel · 11.10.2018
Unsere Städte sind "grauenhaft autogerecht" und die Gehwege werden als „Resterampe für alles Mögliche“ missbraucht: Roland Stimpel vom Fachverband Fußverkehr Deutschland fordert mehr Respekt und Schutz für Fußgänger.
Dieter Kassel: Gerade erst ist in der Alten Nationalgalerie in Berlin eine äußerst erfolgreiche Ausstellung über das Wandern zu Ende gegangen. Feuilletonartikel und ganze Romane über das Flanieren gibt es in großer Zahl. Über das Fortbewegungsmittel Fuß, über das Gehen zum Zwecke, günstig und schnell von A nach B zu kommen, wird hingegen wenig diskutiert. Außer heute und morgen in Berlin beim Zweiten Deutschen Fußverkehrskongress, und es gibt Gott sei Dank nicht nur Wandervereine und Spaziergehclubs, sondern es gibt auch den Fachverband Fußverkehr Deutschland. Dort sitzt Roland Stimpel im Vorstand, und Pressesprecher ist er auch. Schönen guten Morgen, Herr Stimpel!
Roland Stimpel: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Ist da nicht was dran, dass wir in unserer Gesellschaft viel über Jogging und Sport reden, wir reden auch viel über kontemplatives Flanieren, aber über die beiden Füße als Fortbewegungsmittel, als möglicher Ersatz für Auto, Bus und Bahn reden wir wenig?

In großen Städten wird zu Fuß gegangen

Stimpel: Reden tun wir wenig drüber, aber machen tun wir alle es doch gar nicht so wenig. In großen Städten wird mehr zu Fuß gegangen als Auto gefahren, als Fahrrad gefahren, als in Bus und Bahn gesessen. Wenn man in diesem Moment zählen würde, wie viele Leute wie unterwegs sind, dann würde man feststellen, keine andere Gruppe ist so viel unterwegs wie die, die auf zwei Beinen sind.
Kassel: Gut, aber die Wahrheit ist doch, dass viele von denen halt auf dem Weg zum U-Bahnhof sind oder auf dem Weg zum S-Bahnhof.
Stimpel: Die sind noch nicht mal mitgezählt. In den amtlichen Statistiken werden nur die gezählt, die den ganzen Weg zu Fuß zurücklegen. Und selbst das sind mehr als die, die was anderes machen. Wenn man die mitzählt, die auch noch gerade mal zur Haltestelle oder zum Parkplatz gehen, dann kommt man in manchen Gegenden sogar auf absolute Mehrheiten von Fußgängern.
Kassel: Nun haben wir es in Deutschland besser als in vielen Städten der USA. Es ist in der Regel technisch ganz gut möglich, im Stadtgebiet zu Fuß zu gehen. Aber es gibt vermutlich dennoch Raum für Verbesserungen, oder?

Bürgersteige als Resterampe

Stimpel: Ja, reichlich. Zum einen bei der Sicherheit. Das betrifft vor allem Überwege und Ampeln. Viele Ampeln sind so schlecht geregelt, dass in Berlin zum Beispiel doppelt so viele Leute bei Grün angefahren werden wie die leichtsinnigen Leute, die bei Rot rübergehen. Liegt einfach daran, Autos, die quer kommen, haben auch Grün. Solche Zustände sind völlig unmöglich. Anderswo fehlen Zebrastreifen oder sie werden nicht berücksichtigt. Und ein anderes Problem haben wir auf den Gehwegen selbst. Die werden als Resterampe für alles Mögliche missbraucht. Da parken Autos, da fahren Fahrräder, da stellen Kneipiers ihre Stühle bis kurz vor die Bordsteinkante. Da wird irgendwelche Stadttechnik einfach dort hingestellt, wo man meint, sie störe am wenigsten. Darum kommen wir in vielen Städten, obwohl wir immer mehr werden, immer schlechter voran. Das ist paradox.
Kassel: Gerade auch in Berlin, aber auch in anderen Städten, in einigen ist es schon vollendet, in anderen hat man Pläne, ähnlich wie in der deutschen Hauptstadt. Es wird ja sehr viel über Verbesserungen im Fahrradverkehr gesprochen. Fahrradschnellstraßen und Ähnliches. Dagegen ist grundsätzlich nichts zu sagen, aber früher gab es mal die autogerechte Stadt, die teilweise auf Kosten der Fußgänger ging. Sehen Sie heute die Gefahr, dass die fahrradgerechte Stadt auf Kosten der Fußgänger geht?
Stimpel: Nein, zunächst mal sind die Städte ja nach wie vor grauenhaft autogerecht. Wir freuen uns über jeden Menschen, der nicht mehr Auto fährt, sondern stattdessen Fahrrad fährt. Und die fahrradgerechte Stadt, wenn sie denn eines Tages kommen würde, wäre auch nicht so schlimm wie die autogerechte Stadt.

Fahrradstraßen muss man überqueren können

Aber natürlich darf man nicht nur auf ein Verkehrsmittel achten. Es gehen ja doppelt so viele Leute zu Fuß wie mit dem Rad fahren, und dabei wird es auch bleiben. Und man muss darauf gucken: Wenn schöne Fahrradschnellstraßen und all so was errichtet wird, dass man da natürlich auch quer rüberkommt. Und man muss auch darauf achten, dass Radfahrer nicht den ganzen Raum nehmen. Ein Teil von ihnen, eine Minderheit, neigt ja dazu, sich von der Straßenmitte bis dicht an die Hauswand auszubreiten. Aber wir haben guten Konsens, zum Beispiel mit dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club, der sagt, nein, auf Bürgersteigen haben Radfahrer nichts verloren. Deswegen glaube ich, da gibt es mehr Harmonie als Streit.
Kassel: Ich glaube, sie haben einen guten Konsens aktuell gerade auch aus Anlass des heutigen Kongresses mit dem Bundesumweltamt, das ja in diesem Zusammenhang gerade heute angekündigt hat, man wolle Maßnahmen ergreifen, um den Anteil der Wege, die in großen Städten zu Fuß zurückgelegt werden, fast zu verdoppeln. Kurios konkrete Zahlen wurden da übrigens genannt: 41 Prozent der Wege sollen es sein. Ich weiß, ich müsste jetzt eigentlich das Umweltbundesamt fragen, aber ich frage jetzt Sie: Wie will man das denn machen?
Stimpel: Das ist gar nicht so abwegig. Die Hälfte aller Wege, die in Städten zurückgelegt werden, sind ja gar nicht so lang. Die sind bis höchstens drei Kilometer lang, und das kann man als normaler Erwachsener in einer halben Stunde zu Fuß zurücklegen. Dabei kommt man nicht nur von A nach B und spart Geld, sondern man tut was für seine Gesundheit, man erlebt was. Man sieht die Stadt, man sieht die Jahreszeiten und das Wetter. Es kommt der Erlebnis- und Genussaspekt dazu. Man kann also gleichzeitig unterwegs sein und was Schönes machen. Und deswegen glauben wir, wenn die Bedingungen besser sind, wenn nicht so viele Störungen und Gefährdungen da sind, dass doch noch deutlich mehr als heute zu Fuß gegangen werden kann.

Paris und Wien machen vieles richtig

Kassel: Kennen Sie da schon positive Beispiele aus dem Ausland? Bei diesem deutschen Fußgängerkongress ist ja auch unter anderem die Wiener Bürgermeisterin dabei, die was erzählen wird. Machen andere es schon besser?
Stimpel: Wien macht es besser, ja, die sind da konsequenter. Da haben Fußgänger wirklich Vorrang. Da gibt es auch schon, muss ich gestehen, eine breitere Basis für die Fußgängerlobby als bei uns. Gerade war ich in Paris, vor drei Wochen. In Paris ist fast die Hälfte allen Verkehrs zu Fuß. Da klappt das schon. Aber das liegt natürlich daran, dass in Paris sehr viele Sachen in der Nähe erreichbar sind und dass alles andere auch gar keinen Spaß macht. Aber das Flanieren in der Stadt des Flaneurs funktioniert nach wie vor, und es funktioniert besser denn je. Die machen auch in Paris – die legen Schnellstraßen an der Seine still, die machen Fußgängerbereiche auch mitten in der Altstadt. Das klappt gut. Man muss es vor allem wollen, politisch.
Kassel: Sie werden es vielleicht ahnen, aber ich könnte gar nicht mehr weiterleben, wenn ich Sie das zum Schluss jetzt nicht frage: Wenn Sie – mir ist klar, alle Wege bis zu einer gewissen Kilometerzahl werden Sie natürlich zu Fuß zurücklegen. Aber wenn es dann doch zu weit wird, welches Verkehrsmittel nutzen Sie dann?
Stimpel: Für die nächste Entfernungsstufe Fahrrad, aber auch Bus und Bahn. Und damit ist eigentlich alles abgedeckt. Ich hab einmal im Monat vielleicht ein Carsharing-Auto, wenn man irgendwas Größeres zum Sperrmüll bringen muss oder so. Aber wenn man in der Stadt wohnt, reicht es auf diese Weise völlig.
Kassel: ... sagt Roland Stimpel. Er sitzt im Vorstand des Fachverbands Fußverkehr Deutschland, und wir haben mit ihm heute geredet, weil heute der zweite Deutsche Fußverkehrskongress in Berlin beginnt. Herr Stimpel, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Stimpel: Vielen Dank, Herr Kassel!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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