Donnerstag, 28. März 2024

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Neues Nationalmuseum der Abruzzen in l’Aquila
Ein Tropfen auf den heißen Stein

Von Thomas Migge | 19.12.2015
    Auf ihrem Schoß hält sie das Christuskind, dargestellt wie ein junger Erwachsener. Das Kind und die Mutter blicken den Betrachter ernst an. Beide sind in elegante farbige Gewänder gekleidet – typisch für das späte 13. Jahrhundert. Die Madonna von Lettopalena, eine rund 140 cm hohe Holzskulptur, ist für ihr hohes Alter erstaunlich gut erhalten. Sie ist eines der jetzt endlich wieder zu sehenden Hauptwerke des Nationalmuseums der Abruzzen. Insgesamt hundert Meisterwerke dieses Museums, das 2009 bei dem verheerenden Erdbeben schwer zerstört wurde, werden jetzt in den ehemaligen Schlachthöfen von l'Aquila gezeigt. Fabrizio Magani, verantwortlich für die regionalen Kulturgüter der Abruzzen, ist froh darüber:
    "Das ist der wohl wichtigste Ausgangspunkt für eine Wiederbelebung unserer Kulturszene in l'Aquila. Hoffentlich werden wir bald auch die große Festung, in der das Museum bis zur Katastrophe untergebracht war, restaurieren können."
    Vorerst werden nur hundert ausgewählte Kunstwerke des Nationalmuseums aus den Magazinen befreit, in denen sie seit 2009 lagerten – darunter Reste antiker Skulpturen, mittelalterliche Madonnen, Gemälde aus Renaissance und Barock, wie beispielsweise Mattia Pretis Meisterwerk "Christus und die Eheberecherin" . Nach langem logistischen und finanziellen Hin und Her - und das, obwohl direkt nach dem Unglück die Regierung von Silvio Berlusconi auch im Fall des Nationalmuseums schnelle Hilfe versprochen hatte - flossen im vergangenen Jahr endlich die lang ersehnten Finanzmittel. Mit den Geldern aus dem Kulturministerium wurden die Schlachthöfe renoviert und mit modernster Technik erdebensicher gemacht. Das neue - und solange die beschädigte Festung nicht bezugsfertig ist - vorläufige Nationalmuseum der Abruzzen befindet sich beim historischen Zentrum, direkt am mittelalterlichen "Brunnen der 99 Röhren" aus dem 13. Jahrhundert. Massimo Cialente, Bürgermeister von l'Aquila:
    "Das Museum ist eine Sache. Gleichzeitig wird bei dem "Brunnen der 99 Röhren" ein neuer Park des Wassers eingerichtet, und das bedeutet, dass ein guter Teil der Altstadt wieder funktionstüchtig wird."
    Das stimmt - aber trotzdem sehen rund 90 Prozent der historischen Altstadt l'Aquilas immer noch wie eine Art modernes Pompeji aus. Die Schäden des verheerenden Erdbebens sind noch überall sichtbar. Barocke Paläste und Kirchen werden nach wie vor von hölzernen Stützkonstruktionen vor dem Zusammensturz bewahrt. Ein Gang durch den bereits zugänglichen aber immer noch unbewohnten Teil des Zentrums gleicht dem Besuch einer Geisterstadt, in der nur wilde Hunde und Katzen leben, klagt Lucilla Marinetti, Kunsthistorikerin an der städtischen Universität:
    "Wir feiern wieder ein Weihnachten in unserer Gespensterstadt. Es ist schon traurig, dass hier nach dem Beben so wenig passiert ist."
    Und wohl auch weiterhin nichts Wesentliches passieren wird. Für Renzis Kulturminister Dario Franceschini stellt die Hauptstadt der Region Abruzzen keinen kulturpolitischen Notstand mehr dar. Sie fällt nun bürokratisch betrachtet unter "ferner liefen". Das bedeutet, dass das Gros der Kunstschätze des Nationalmuseums der Abruzzen auch weiterhin in Magazinen aufbewahrt werden muss - denn in den Schlachthöfen ist nur für hundert Ausstellungsstücke Platz.