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Flüchtlingspolitik der CDU
"Wir brauchen eine klare Integrationsstrategie"

Der CDU-Politiker Jürgen Rüttgers kritisiert die Debatte seiner Partei zur Flüchtlingspolitik. Von außen gesehen sei es eine Diskussion über Begriffe anstatt über Lösungen, sagte Rüttgers im Deutschlandfunk. Der frühere NRW-Ministerpräsident warb für eine Integrationsstrategie.

Jürgen Rüttgers im Gespräch mit Doris Simon | 14.12.2015
    Der CDU-Politiker Jürgen Rüttgers am 4. September 2015
    Der CDU-Politiker Jürgen Rüttgers am 4. September 2015 (imago / Future Image)
    Als zentrale Elemente nannte Rüttgers den Spracherwerb und die Beschäftigung. So müssten Kinder von Flüchtlingen frühzeitig in den Kitas und Schulen Deutschunterricht erhalten. Auch dürfe es keine bürokratischen Erschwernisse für Praktika geben.
    Rüttgers plädierte dafür, die Migranten rasch aus den Erstunterkünften zu holen und dezentral unterzubringen. "Wer Integration will, muss auch Familien die Möglichkeit geben, hier zu leben", betonte Rüttgers.

    Das komplette Interview zum Nachlesen:
    Doris Simon: Mitgehört hat Jürgen Rüttgers, Bildungsminister unter Helmut Kohl und CDU-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen zwischen 2005 und 2010. Guten Morgen!
    Jürgen Rüttgers: Guten Morgen, Frau Simon!
    Simon: Herr Rüttgers, können Sie denn die Argumente der CDU-internen Merkel-Kritik an der Flüchtlingspolitik nachvollziehen?
    Rüttgers: Ich kann die Argumente nachvollziehen. Ich kann auch die Argumente der Bundeskanzlerin nachvollziehen. Dafür war ich zu lange in der Politik, um nicht zu verstehen, worum es da geht. Allerdings bleibt von außen gesehen der Eindruck, dass die Debatte in den letzten Tagen mehr eine Debatte über Begriffe war statt über Lösungen.
    Simon: Aber Sie selber zum Beispiel haben ja als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen vor 15 Jahren gefordert, man müsse sich stärker um die Integration hier lebender Ausländer kümmern - so sagte man das damals vor 15 Jahren - und um die Bildung von Kindern, kritisiert damals, da brauche man keine indischen Computerexperten. Die standen damals zur Debatte. Verkürzt war das die Debatte Kinder statt Inder. Diese Haltung von Ihnen damals, wir haben gerade genug zu tun mit der Integration derjenigen, die bis jetzt gekommen sind, und mit anderen Aufgaben, da brauchen wir einen Zuwanderungsstopp, das ist aber doch genau die Forderung von vielen Ihrer Parteifreunde heute.
    Rüttgers: Na ja. Nun habe ich das damals so, wie Sie es gerade zitiert haben, nicht gesagt. Das kam woanders her. Aber das ist Vergangenheit. Ich glaube, dass es jetzt ganz wichtig ist, dass man konkret etwas tut. Es gibt schon viele Menschen in Deutschland, die Angst haben über die Frage, was da jetzt auf uns zukommt. Und einer der Punkte - da haben Sie völlig Recht, Frau Simon -, der in den letzten Tagen und Wochen fast gar nicht diskutiert worden ist, ist das Thema Integration. Für mich sind es drei Punkte auch vor dem Hintergrund der Debatte, die jetzt zur Lösung anstehen. Das Erste ist die Bekämpfung der Fluchtursachen. Das hat die Bundeskanzlerin ja gestern Abend noch intensiv und sehr deutlich gesagt. Das Zweite ist die Sicherung der europäischen Außengrenzen und das dritte ist die Integration derjenigen, die zu uns gekommen sind oder noch kommen werden.
    Simon: Aber das Erste und das Zweite sind ja Themen, die die Bundeskanzlerin auf dem Schirm hat. Da gibt es die Gespräche mit der Türkei, da gibt es die Gespräche im Rahmen der EU. Die Integration ist ja das, was Sie jetzt ansprechen. Heißt das, dass der Parteitag Ihrer Partei in der Flüchtlingspolitik nicht die richtigen Fragen diskutiert?
    "Wir brauchen eine klare Integrationsstrategie"
    Rüttgers: Jedenfalls brauchen wir eine klare Integrationsstrategie. Es ist ja auch bereits heute, glaube ich, nicht zu bestreiten, dass viele von den eine Million Zuwanderungen und Zuwanderern, Flüchtlingen, die wir in den letzten Monaten, also in diesem Jahr gehabt haben, auch hier bleiben werden, egal, was jetzt der Rechtsgrund ist, ob es Asyl ist oder ob es die Genfer Flüchtlingskonvention ist. Wir werden sie in unsere Gesellschaft integrieren müssen. Und es darf nach meiner Auffassung nicht der Eindruck erweckt werden - das ist zuerst mal ganz wichtig -, dass alle wieder nachhause gehen. Den Fehler haben wir schon mal gemacht bei den Gastarbeitern in den 60er-Jahren und auch in den 90er-Jahren. Integration geht über zwei Dinge, wir haben da ja eigentlich viel Erfahrung: über Sprache und über Arbeit.
    Simon: Aber es passieren ja genau in diese Richtung Dinge. Sie sagen, es geht über Sprache und Arbeit, aber es gibt natürlich auch noch weitere Vorschläge auch durchaus in Ihrer Partei, was man machen kann, damit Menschen hier Teil unserer Gesellschaft werden können. Reicht Ihnen das nicht, wie das diskutiert wird, oder was fehlt Ihnen da?
    Rüttgers: Na Gott sei Dank passiert viel, vor allen Dingen durch die vielen Ehrenamtlichen, die sich engagieren, um den Flüchtlingen hier bei uns zu helfen. Ich will mal einfach ein paar Punkte aufzählen, damit es konkret wird. Erstens: Wir brauchen sehr frühe Integrationskurse, nicht erst, nachdem die Entscheidungen über ein Bleiberecht oder eine Duldung gefällt worden sind. Zweitens: Wir brauchen Deutschunterricht für Fremdsprachler - so sagen die Bildungspolitiker dazu - in den Kitas, in den Schulen. Wir brauchen drittens nach meiner Auffassung auch Sprachtests für Vierjährige, damit, falls sie nicht altersgemäß Deutsch sprechen mit vier Jahren, sie noch Hilfe bekommen können, bis sie dann in die Schule kommen. Nur dann haben sie eine Chance, auch einen Schulabschluss zu bekommen. Wir brauchen keine Erschwernis - das sehe ich an vielen, vielen Stellen; da braucht man nur die Zeitungen zu lesen - durch Politik oder Behörden, etwa, indem jetzt Praktika erschwert werden - Praktikumsplätze können jetzt ein Einstieg in den Arbeitsmarkt sein -, oder bei der Zeitarbeit. Und ein Punkt, der mir auch sehr am Herzen liegt, ist die dezentrale Unterbringung. Flüchtlinge können nicht monatelang in den Turnhallen oder Zelten bleiben. Und als letzten Punkt: Ich glaube, dass das Thema Familiennachzug bisher nicht richtig gesehen wird. Wer Integration will, der muss auch Flüchtlingen die Möglichkeit geben, mit der Familie hier zu leben.
    Simon: Wenn man sich Ihre Punkte jetzt mal einzeln anschaut, heißt das, dass der Staat - denn es ist ja der Staat; die Freiwilligen tun ja einiges -, dass der Staat nicht genug tut? Ist die Politik nicht willens, oder ist die Politik zu schlecht organisiert?
    "Integration kommt zu kurz"
    Rüttgers: Wir haben ja gerade in den letzten Monaten gemerkt, dass wir staatlicherseits fast so etwas wie ein Staatsversagen hatten, etwa bei der Registrierung der Flüchtlinge, die angekommen sind. Die Behörden sind mit Hochdruck dabei, das aufzuarbeiten. Und da kommen natürlich so Themen wie Integration zu kurz. Das schiebt man dann gerne weg. Das ist aber der Punkt, der für den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland nicht nur mit denjenigen, die zu uns gekommen sind, sondern auch mit denjenigen, die schon lange hier leben, von großer Bedeutung ist. Man muss das Gefühl haben, dass sie Teil unserer Gesellschaft werden können. Und da gibt es neben den angesprochenen konkreten Punkten ja auch noch sehr, sehr schwierige Punkte, wenn Sie etwa an die Frage denken, wie das Verhältnis von Religion und Staat in den verschiedenen Kulturen ist.
    Simon: Aber wenn wir noch mal dabei bleiben. Woran liegt es? Ist keine Bereitschaft da, zum Beispiel in die Bildung, in die Deutschkurse, in die Kita-Ausbildung mehr Geld zu stecken, oder geht das einfach unter?
    Rüttgers: Bereitschaft glaube ich schon. Wenn man fragt, wird man garantiert ein Ja und eine positive Resonanz bekommen. Aber Sie wissen, wie die bürokratischen Mühlen sind. Wenn heute bekannt gegeben wird - und das hat es ja Gott sei Dank schon gegeben -, dass man mehr Lehrer einstellen will, dann weiß jeder von uns, dass das ein bis zwei Jahre dauert, ehe die Planstellen geschaffen und die Stellen besetzt sind. Das ist aber eine Zeit, die wir nicht haben.
    Simon: Und was soll stattdessen passieren?
    Rüttgers: Ja, wir müssen zum Beispiel pensionierte Lehrer wieder einstellen, wieder reaktivieren. Ich glaube, dass da viele gerne bereit sind, für ein paar Stunden wieder Unterricht zu geben. Das bedeutet dann aber übrigens, dass man - und dann wird es ganz kompliziert - das, was die da verdienen, nicht anrechnet auf die Pension.
    Simon: Sehr viele Probleme und Sie sehen vor allem Bedarf an der Integration. Das war der frühere Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers (CDU). Herr Rüttgers, vielen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.