Exilliteratur im Querido Verlag

Fluchtpunkt Amsterdam

157:27 Minuten
Die Kalverstraat in Amsterdam um 1933
Die Amsterdamer Kalverstraat um 1933: Viele deutsche Emigranten nahmen Zuflucht in der Hauptstadt der Niederlande, wo der für die Exilliteratur bedeutende Querido Verlag gegründet wurde. © Getty / ullstein bild
Von Kerstin Kilanowski · 02.09.2023
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Als die Nazis die Diktatur errichteten, wurden viele Schriftsteller in Deutschland verfemt: Ihre Bücher wurden verboten und verbrannt. Der 1933 in Amsterdam gegründete Querido Verlag bot ihnen eine Plattform und brachte Weltliteratur hervor.
"Wien, Freitag, 12. Mai 1933 "Die deutsche Literatur auf dem Scheiterhaufen!"
Mehr als 20.000 deutsche Bücher sind gestern in Berlin auf dem Opernplatz VERBRANNT worden. Möbeltransportwagen und Lastautos führten die Bücher vom Studentenhaus in der Oranienburgstraße über die Linden zum Scheiterhaufen, der auf dem Opernplatz errichtet worden war. Ein FACKELZUG von SA und Studenten in Wichs begleitete die todgeweihten Bücher, mehrere tausend Studenten und Jugendliche folgten." (aus: Joseph Roth, Leben und Werk in Bildern, S. 202)
Nur dank der Entschlusskraft und politischen Überzeugung des niederländischen Verlegers Emanuel Querido konnten danach 124 Bücher, die heute größtenteils zur Weltliteratur gehören, erscheinen.

Gründung des Querido Verlags

"Es gehört zu den Dingen, die mir heute noch unbegreiflich sind, über die ich täglich nachdenke, wie war es möglich, dass nicht jeder erkannt hat, dass die Machtübernahme durch Hitler das Ende des freien Verlegens bedeutet. Wir bei Kiepenheuer haben das viel zu spät erkannt, aber ich kann wenigstens sagen, dass es uns am 30. Januar 33 klar war, dass der Verlag überhaupt nicht die Möglichkeit hatte, zu überleben." (Fritz Landshoff)
Schon im Frühjahr 1933, noch vor den öffentlichen Bücherverbrennungen in deutschen Universitätsstädten, war sich Emanuel Querido sicher, dass es in Deutschland mit der Literatur zu Ende ist. Der damals 62-Jährige beschließt, in seinem etablierten Verlag eine Abteilung für Exilliteratur zu gründen. Dazu braucht er einen geeigneten Geschäftspartner mit Kontakten zu deutschen Schriftstellern: Fritz Landshoff, Teilhaber des linksliberalen Berliner Kiepenheuer Verlags.
Nach der Machtübernahme 1933 ließen die Nationalsozialisten die Bücher verfemter Autoren wie Lion Feuchtwanger, Erich Kästner und Sigmund Freud verbrennen.
Nach der Machtübernahme 1933 ließen die Nationalsozialisten die Bücher verfemter Autoren wie Lion Feuchtwanger, Erich Kästner und Sigmund Freud verbrennen.© picture alliance / dpa
Landshoff besucht eine Reihe bekannter, ins Exil geflohener Autoren, um sie für die Mitarbeit im Querido Verlag zu gewinnen. In Paris trifft er auf den jungen Autor Klaus Mann, Sohn von Nobelpreisträger Thomas Mann, mit dem er bereits seit seiner Berliner Zeit bekannt ist. Im Exil werden die beiden zu innigen, lebenslangen Freunden und sich gegenseitig inspirierenden Kollegen. Er möchte eine literarische Zeitschrift für Exilautoren gründen.
Nach seiner erfolgreichen Rundreise zu den exilierten Autoren unterbreitet Fritz Landshoff dem Amsterdamer Verleger Emanuel Querido den Vorschlag, zusammen mit Klaus Mann die Literaturzeitschrift "Die Sammlung" zu gründen. Die erste Ausgabe der Zeitschrift soll zum 1. September 1933 erscheinen. Klaus Mann hat in der Zwischenzeit gefeierte Schriftsteller wie André Gide, Aldous Huxley und seinen Onkel Heinrich Mann als Protektoren gewinnen können.
Mit Heinrich Manns Essaysammlung "Der Hass. Deutsche Zeitgeschichte" und Ernst Tollers Autobiografie "Eine Jugend in Deutschland" setzt der Querido Verlag gleich zu Beginn unübersehbare Pflöcke. Heinrich Mann entblößt in seinem Band "Der Hass" die neuen Machthaber und das deutsche Duckmäusertum. Neben politischen Essays schickt Heinrich Mann auch eine Groteske mit dem Titel "Man muss sich zu helfen wissen" ein. Dort treffen Göring, Goebbels und mehrere Journalisten bei einem Empfang aufeinander. Ein Panoptikum von menschenverachtendem Zynismus der Nazis und opportunistischer Liebedienerei jener, die hoffen, irgendwie davonzukommen.

Vom Leben in Amsterdam

Als Klaus Mann für die sechste Ausgabe der "Sammlung" die Ode "Amsterdam" über seine neue Heimatstadt schreibt, lebt er noch keine zwölf Monate in den Niederlanden. Seine Freundschaften mit Fritz Landshoff und Hermann Kesten, dem früheren Kollegen von Kiepenheuer, geben Halt.
"In Amsterdam mischt sich die Stimmung von Patriziertum mit der des Hafens; beide sind längst zur lebendigen Einheit geworden. Zu der Luft von Behaglichkeit und Solidität kommt die von Abenteuer."

Joseph Roth - Werk und Schicksal eines Heimatlosen
Das Elend des kleinen Mannes, des Heimatlosen, vom Krieg Gezeichneten, das schwere Los der Ostjuden, das zerfallende Habsburger Reich – das ist der Figuren- und Themenkosmos des großen galizischen Romanciers Joseph Roth. Zu seinem 125. Geburtstag erscheinen zwei Neuausgaben.

Der Schriftsteller Joseph Roth spaziert an der Seite einer Frau durch Paris.
© dpa / picture-alliance / Imagno/Austrian Archives
Einer der erfolgreichsten Autoren jener Zeit ist Joseph Roth, dessen Romane im deutschsprachigen Raum sensationelle Auflagen hatten. Ein großartiger Schriftsteller – und ein schwieriger Mensch. Roth hat keine Scheu, bei dem oppositionellen Querido Verlag zu publizieren, aber auch bei der Amsterdamer Konkurrenz Allert de Lange. Beide Verlage setzt er mit ständigen Briefen, mal drohend, mal bittend, unter Druck. Querido veröffentlicht 1934 den ersten im Exil geschriebene Roman "Tarabas". Auflage: 6.000 Stück. Der erfolgsverwöhnte Roth ist andere Zahlen gewohnt.

Irmgard Keun - "Eine schreibende Frau mit Humor, sieh mal an!"
Mit den Romanen "Gilgi, eine von uns" und "Das kunstseidene Mädchen" wurde die junge Irmgard Keun in der späten Weimarer Republik zum Star, floh vor den Nazis ins Exil. In der Nachkriegszeit geißelte sie das Fortleben des deutschen Ungeistes.

© picture alliance / dpa
Zusammen mit Joseph Roth schreibt und trinkt in den Amsterdamer Kneipen eine junge Schriftstellerin, die ebenfalls aus Deutschland geflohen ist. Die Kölnerin Irmgard Keun hatte mit ihren Romanen "Gilgi, eine von uns" und "Das kunstseidene Mädchen" noch vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten einen Überraschungserfolg.

Buchtipp:
Bettina Baltschev: "Hölle und Paradies – Amsterdam, Querido und die deutsche Exilliteratur", Berlin, Berenberg Verlag 2016

Auch Bruno Frank veröffentlicht bei Querido vier Romane. Seinen fünften Exilroman "Die Tochter" kann er 1943 nach dem Überfall der Deutschen auf die Niederlande nur noch im mexikanischen Exilverlag "El Libro Libre" veröffentlichen.
"Aus Amsterdam gelangte die gehetzte Literatur auf Elisabeths Regalen am Ringplatz. Sie setzte ihren Ehrgeiz darein, dass nichts davon fehlte. Aber die Bücher verkauften sich schwer. Dieselbe Welt, die sich die Augen zuhielt vor der deutschen Gefahr – sie begann sich die Ohren zuzuhalten vor der deutschen Sprache, auch dort, wo diese Sprache ein Instrument des Grams und der Auflehnung war." (aus: Bruno Frank, Die Tochter, S. 313)

Bruno Frank, der militant-liberale Gesellschaftslöwe
Bruno Frank, geboren 1887, war ein Mann der Kontraste: Nach außen gab er sich gerne als Lebemann, in seinem Schreiben war er hingegen ein zurückhaltend-besonnener und zunehmend besorgter Autor. Mit seinen frühen Warnungen vor den aufkommenden Nationalsozialisten sollte er Recht behalten.

Mitte der 30er-Jahre wird auch in den noch freien Ländern die Luft kälter und schärfer. Einsamkeit, Armut, keine feste Wohnung sind ständige Begleiter für Menschen ohne prominente, unterstützende Kontakte. Wie etwa Konrad Merz, der eigentlich Kurt Lehmann hieß.
Er ist Berliner Jude aus kleinen Verhältnissen, der sich ein Jura-Studium erarbeitet hatte und 1934 nach Holland fliehen musste. Im Querido Verlag wird 1936 der autobiografischen Roman "Ein Mensch fällt aus Deutschland" veröffentlicht. Der Amsterdamer Antiquar Gerhard Leyerzapf erinnert sich an seine persönlichen Begegnungen mit ihm im Berlin der 80er-Jahre.
"Er war eine interessante Figur, der sich nachher aus dem Migrantenmilieu in Amsterdam ganz zurückgezogen hat. Das beschreibt er in dem Buch, wie es zuging, dass der Eine den Anderen anpumpt, dass man ständig die Wohnung wechseln muss, weil man finanziell nicht auf die Beine kommt. Irgendwann hat ihm das gestunken, dann ist er nach Nordholland und hat beim Bauern gearbeitet."

Nach dem Überfall der Deutschen

Am 10. Mai 1940 besetzen die Deutschen die politisch neutralen Niederlande. Fünf Tage später rücken deutsche Truppen in Amsterdam ein. Konrad Merz wird von Fritz Landshoffs langjährige Sekretärin Jetty Weintraub gewarnt:
"Da habe ich also auf dem Albert-Cuyp-Markt die Sekretärin vom Querido. Die sah mich an, als ob sie eine Leiche vor sich sah und sagte: "Kommse mit!" Und man ging dann immer mit einem Fietse, einem Fahrrad, und unterwegs sagte sie: "Sie müssen sofort verschwinden. Die Gestapo hat die ganze Nacht nach Ihnen gefragt. Ich habe Ihre Identität nicht preisgegeben, nicht um Sie zu retten, sondern um mich zu retten. Denn ich dachte, Sie wären in Amerika." Dann bin ich also verschwunden." (Konrad Merz in der Dlf-Sendung "Emigration ist immer schwierig")
Schwarz-Weiß-Bild derSchriftstellerin Grete Weil vom 21.11.1988
Die Schriftstellerin Grete Weil© picture-alliance / dpa
Auch Grete Weil, Fotografin und Autorin, deutsche Jüdin, fand im letzten Moment in einem Amsterdamer Privathaus ein lebensrettendes Versteck. Sie und ihr Ehemann Edgar hatten bereits ein Visum nach Kuba in der Tasche, aber der Gatte wird einen Tag vor der Ausreise verhaftet und wenige Monate später im KZ Mauthausen ermordet. Grete Weil hat ihre Erinnerung über den nationalsozialistischen Terror erst nach der Befreiung in den Romanen "Ans Ende der Welt" und "Tramhalte Beethovenstraat" literarisch verarbeiten können.
"In tiefem Schlaf der Schlag aufs Herz – die Geräusche. Diesmal schrie Andreas nicht, knipste das Licht an, sah auf die Uhr, es war Punkt zwei; er machte das Licht aus, lief zum Fenster und riss es auf. Unten standen vier Trambahnen mit je einem Anhänger, dahinter bewegte sich eine dunkle Masse, einige hundert Menschen mussten es sein: fahle Gesichter im Schein der blauen Taschenlampen, die von Jungen mit weißen Armbinden gehalten wurden. An den Flanken standen ein paar Uniformierte (Soldaten? Polizisten?) mit großen Schäferhunden an kurzen Leinen." (aus: Grete Weil, Tramhalte Beethovenstraat, S. 30)
Der 69-jährige Emanuel Querido und seine Frau Jane müssen den Verlag 1940 bei Einmarsch der Deutschen sofort schließen. Jetty Weintraub, die Sekretärin, vernichtet noch in derselben Nacht sämtliche Geschäftsunterlagen, um die Autoren des Verlags zu schützen. Fritz Landshoff ist zufällig auf Geschäftsreise in England. Seine Rückreise nach Amsterdam war für den 10. Mai 1940 geplant.
Die Autoren und Mitarbeiter des Querido Verlags sind nun in alle Himmelsrichtungen verstreut. Einige haben den Lebenskampf für immer aufgegeben. Ernst Toller hatte sich schon 1939 in einem New Yorker Hotel in einem Anfall von Depressionen erhängt. Wenige Tage später trinkt sich sein enger Freund Joseph Roth aus Kummer über Tollers Suizid selber zu Tode. Stefan Zweig und seine Frau nehmen sich 1942 im brasilianischen Exil mit einer Überdosis Veronal das Leben. Klaus Mann wird noch bis 1949 durchhalten. Sein Drogenkonsum steigt fatal. In Cannes zieht er mit Schlaftabletten den Schlussstrich.
Das Ehepaar Querido hatte sich nach dem Einmarsch der Deutschen auf seinen Landsitz zurückgezogen. Dann tauchten sie für mehrere Monate in einem Dorf unter, werden an die Deutschen verraten und im KZ Sobibor ermordet.
Emanuel und Jane Querido, beide weit über 70 Jahre alt, gehen denselben Weg wie die Menschen aus Grete Weils Roman "Ans Ende der Welt" – in die Gaskammern nach Sobibor. Hinter dem Ewigen Licht in der heutigen Gedenkstätte "Hollandse Schouwburg" halten schwarze Tafeln die Namen von Tausenden ermordeter Juden fest. Einer davon lautet Querido.

Das Manuskript zum Nachlesen als Download: als PDF / als TXT-Datei

Hinweis: Die Erstsendung war am 9.8.2020
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