Exilant als juristischer Aufbauhelfer

25.11.2008
Von den Nazis 1933 vertrieben, wurde der jüdische Rechtswissenschaftler Ernst E. Hirsch im türkischen Exil zu einem angesehenen Professor an der Universität Istanbul. Er half dort mit, das Rechtssystem mit aufzubauen und zu modernisieren. In der Türkei wird noch heute mit Respekt von ihm gesprochen, in Deutschland blieb er relativ unbekannt.
1982 wurden die Erinnerungen von Ernst E. Hirsch erstmals publiziert. Das Buch trug den sperrigen Titel: "Aus des Kaisers Zeiten durch die Weimarer Republik in das Land Atatürks". Das war anschaulich formuliert, allerdings fehlte der Hinweise auf das Dritte Reich, obwohl das ja der Grund war, weshalb der jüdische Rechtsgelehrte seiner Heimat den Rücken kehrte. Jetzt, ein Vierteljahrhundert später, gibt es eine gekürzte Neuauflage. Der Sohn Enver Hirsch:

"Die neue Ausgabe befasst sich eigentlich nur noch damit, warum er in die Türkei ging und was er in der Türkei erlebt hat. Das hat natürlich auch den Hintergrund, dass diese erste Biografie 1982 sich nur sehr schlecht verkaufte. In der Türkei ist es ganz anders, da ist die türkische Übersetzung der Autobiografie inzwischen in der zehnten Auflage erschienen."

Das Buch soll nun auch in Deutschland erfolgreich werden. Hoffentlich, denn was Ernst E. Hirsch zwischen zwei Buchdeckel packt, berührt das deutsch-türkische Verhältnis in seinem innersten Kern.

1902 geboren, war er schon mit sehr jungen Jahren Privatdozent an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, bis er 1933 entlassen wurde. Und wie es der Zufall wollte, lag eine mögliche Zukunft in der Türkei, in einem Land, das händeringend um Wissenschaftler warb, weil es die türkischen Universitäten nach westlichem Vorbild zu reformieren suchte.

Mesut Ilgim: "Das war ein Projekt, man kann sagen ohne seinesgleichen, wo man alles einfach weggewischt hat und von null wieder aufgebaut und gestaltet hat. So eine Chance kann man heute, also heutzutage auf der ganzen Welt nicht erwarten, ich halte das nicht für möglich. Das war ein ganz spezifischer Fall, das Unglück eines Landes wurde irgendwie zum Glück eines anderen Landes."

Mesut Ilgim forscht seit einigen Jahren über die deutschen Exilanten in der Türkei. Durch Vermittlung der Züricher Notgemeinschaft Deutschsprachiger Wissenschaftler im Ausland gingen ab 1933 viele Gelehrte und Künstler ins türkische Exil.

Die Türkei hatte das islamische Rechtswesen abgeschafft. Hirsch schildert, wie das gesamte System eine Umgestaltung erfuhr, mit Gesetzen, die zunächst aus der Schweiz, Italien oder Deutschland übernommen wurden. Es war ein wahnwitziges Projekt: Ausgebildete Fachleute fehlten, Richter und Anwälte kannten sich nicht aus, und kein Mensch wusste mit den neuen Gesetzen umzugehen.

Enver Hirsch: "Mein Vater hat ein türkisches Rechtswörterbuch geschaffen, um diese Begriffe mal festzulegen, damit es überhaupt mal eine Fachsprache gab, die es ja vorher nicht gegeben hatte. Er hat außerdem maßgebend mitgewirkt an dem Urheberrechtsgesetz der türkischen Regierung, dass die Türkei der Berner Konvention beitreten konnte und damit international urheberrechtlich auch volle Rechte und Pflichten hatte."

Es war mühevolle, tagtägliche Kleinarbeit, die Rechtsreform auch praktisch mit Leben zu erfüllen. Berichte vom Alltagsleben in Istanbul und Ankara, das große Staunen über ein orientalisch geprägtes Land - das damals in den Städten noch weitaus westlicher geprägt war als heute - geben den Erinnerungen einen ganz unverwechselbaren Ton. Hirsch nimmt Teil an einem unglaublichen Abenteuer. Er steckt mittendrin. Er lebt und arbeitet in einem Land, das sich hastig und unerschrocken von einem Tag auf den nächsten an westlichen Standards orientiert.

Die Türkei war damals keine Demokratie. Doch es war eine Gesellschaft im Wandel, die Ernst E. Hirsch eine Plattform bot, auf der er - jenseits des europäischen Nazi-Terrors - als Mensch und als Rechtsgelehrter ohne inneren Bruch weiterleben konnte. Man wird sensibel und aufmerksam, wenn sich beim Lesen solche Zusammenhänge erschließen. Und so lehren die Erinnerungen auch ganz nebenbei, dass die Türkei zu Europa gehört.

Enver Hirsch: "Wenn ich heute zu Veranstaltungen gehe, und es hier um Integration von Ausländern oder Türken geht und dort türkische Intellektuelle teilnehmen und ich mich als Sohn von Professor Hirsch vorstelle, dann weiß jeder sofort, wer das ist. Also es ist ein Bekanntheitsgrad, den man sich hier für einen Professor in Deutschland nicht vorstellen kann."

In Ankara lernte Hirsch Ernst Reuter kennen, der nach dem Krieg Regierender Bürgermeister von West-Berlin werden wird. Reuter bittet ihn, an die neu geründete Freie Universität zu kommen, die er dann mit aufbauen half. Er lehrte, bis die Achtundsechziger in die Hörsäle kamen, der studentische Klassenkampf entsprach nicht seiner Welt. Enttäuscht zog er sich zurück. Diesmal ging Hirsch ins Innere Exil. Doch davon berichtet er nichts, die Erinnerungen enden mit der Rückkehr nach Deutschland. Der selbstbestimmte aufrechte Gang gehörte zu seiner Persönlichkeit, dieses Bild sollte auch in der Rückschau nicht beschädigt werden.

Rezensiert von Adolf Stock

Ernst E. Hirsch: Als Rechtsgelehrter im Lande Atatürks
Mit einer Einführung von Reiner Möckelmann und einem Vorwort von Jutta Limbach
Gekürzte Neuauflage der Autobiografie von 1982
Berliner Wissenschaftsverlag 2008
252 Seiten, kartoniert, mit 16 Schwarzweißabbildungen
24,00 Euro