Ex-Verfassungsrichter hofft auf "mutige" Entscheidung aus Karlsruhe

08.09.2012
Am 12. September entscheidet Karlsruhe über die Eilanträge gegen die Beschlüsse zu ESM und Fiskalpakt. Der ehemalige Verfassungsrichter Winfried Hassemer hofft, dass das Gericht "mal sagt, die Grenze ist erreicht".
Deutschlandradio Kultur: Noch vier Tage, dann entscheidet das Bundesverfassungsgericht über die Zukunft Europas, oder nicht? Zur Verhandlung stehen am Mittwoch in Karlsruhe der dauerhafte Rettungsschirm ESM und der Fiskalpakt. Sind beide Vorhaben mit dem Grundgesetz vereinbar und ist das Bundesverfassungsgericht mit der Euro-Rettung vereinbar? Hat Karlsruhe zu viel Macht gegenüber Berlin? Antworten auf diese Fragen erhoffen wir uns heute von Prof. Winfried Hassemer, ehemaliger Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts.

Herr Hassemer, hierzulande hat das Bundesverfassungsgericht ein äußerst hohes Ansehen. Bei unseren europäischen Nachbarn ist das nicht unbedingt so, vor allem, wenn es ums Geld geht, um europäische Rettungsschirme, um Solidarität. Ich nenne Ihnen mal ein Beispiel:

Als vor wenigen Wochen wieder einmal über Eurobonds und Schulden-, Krisenbewältigung geredet wurde und deutsche Bedenkenträger sagten, nein, wir müssen mal warten, was Karlsruhe sagt, soll IWF-Chefin Lagarde gesagt haben, Zitat: "Wenn ich noch einmal das Wort Bundesverfassungsgericht höre, dann verlasse ich den Saal." – Verstehen Sie die Aufregung?

Winfried Hassemer: Ich verstehe die Aufregung. Ich finde das Zitat wunderbar. Ich habe es selbst schon gebracht. Aber dem liegt vielleicht doch ein kleines Bisschen eine Täuschung zugrunde. Die will ich gleich mal korrigieren. Es ist nicht so, dass man in Europa mit einem gewissen gedämpften Abscheu auf das Bundesverfassungsgericht blickt. Das machen die Politiker. Und es ist keineswegs so, dass das nur die französischen Politiker sind oder Frau Lagarde ist, sondern das sind die Politiker auch massenhaft in der Bundesrepublik. Die sagen es nur nicht immer.

Was die Reputation des Bundesverfassungsgerichts angeht, tut es mir leid, aber es ist sowohl in Europa als auch in Lateinamerika und Asien hoch geachtet, was seine Gründe hat.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben die Politiker angesprochen, die auch in Deutschland auf das Bundesverfassungsgericht "mit Abscheu", was jetzt das Zitat von Ihnen wäre, gucken. Den Grund könnte man darin sehen, dass es ja einige Denkzettel aus Karlsruhe gab, vor allen Dingen in letzter Zeit. Die Richter erklärten zum Beispiel das Wahlgesetz für unzulänglich, forderten mehr Geld für Asylbewerber, kritisierten die fehlerhafte Berechnung der Hartz-IV-Sätze. – Leben wir in einer Art Richterherrschaft?

Hassemer: In einer gewissen Weise kann man das so sagen. Wir leben nicht in einer unmittelbaren Demokratie, wo es also um die Mehrheiten geht, sondern wir leben in einer konstitutionellen Demokratie, also einer Demokratie, die eine Verfassungsebene hat, die eben vom Bundesverfassungsgericht realisiert wird. Das heißt auf Deutsch: Es gibt Mehrheitsentscheidungen, welche aus Rechtsgründen, von Rechtswegen kassiert werden können, und zwar von einer kleinen Gruppe von Menschen. Und das ist ein strukturelles Problem. Da soll man gar nicht drüber hinweg reden.

Wenn das Bundesverfassungsgericht – wie damals beim Datenschutz beispielsweise – ein einstimmig beschlossenes Gesetz des Bundesrates kassiert, acht Richter, dass das die Politiker nicht freut und dass das die Medien nicht freut, das ist alles völlig klar. Aber es ist die Entscheidung, die man natürlich auch anders treffen könnte, die realisiert, dass es in Deutschland gesetzliches Unrecht gegeben hat – gesetzliches Unrecht!

Ich glaube, man kann auf gesetzliches Unrecht nicht antworten, wenn man sagt: Mehrheit ist immer der Sieger.

Deutschlandradio Kultur: Man hat aber auch manchmal den Eindruck, wenn die Politik sich in Berlin nicht richtig einigen kann, dann bildet man entweder einen Arbeitskreis und verschiebt das Thema oder man sagt, wir gehen mal nach Karlsruhe, dann sollen die das entscheiden. Die Gefahr, dass das Bundesverfassungsgericht in gewisser Weise auch instrumentalisiert wird von der Politik, sehen Sie die auch?

Hassemer: Natürlich. Das Bundesverfassungsgericht muss immer damit rechnen, dass es in Strategien eingebunden wird, die nicht seine eigenen Strategien sind, was grundsätzlich nicht strafbar ist, aber was doch, wie Sie andeuten – und ich finde das ist richtig –, ein Problem sein kann.

Ich bin freilich an dieser Stelle etwas milder als andere Leute, die so etwas zu beurteilen haben. Es gibt Situationen, da ist es zwar nicht ganz den gesetzlichen Übungen entsprechend, zu warten, bis das Bundesverfassungsgericht was entschieden hat, aber es ist vernünftig.

Deutschlandradio Kultur: Aber wir haben nicht immer die Zeit dazu.

Hassemer: Da haben Sie völlig Recht. Das sind alles Gegenargumente, aber ich will nur für den Grundsatz streiten. Es kann vernünftig sein, dass das Bundesverfassungsgericht zuerst einmal sagt, was es zu sagen hat. Wenn alles nach der Zulässigkeit geht, also wenn die Leute sich an das Gesetz halten, kann es vernünftig sein zu sagen, wir lassen die das erst mal machen und machen dann keine zeremonielle Arbeit, die dann hinterher sowieso korrigiert wird. Aber man muss mit diesem Mittel aufpassen. Das ist natürlich klar. Denn wenn man das zur Normalität werden lässt, dann wird das Bundesverfassungsgericht das Parlament. Und das ist absurd.

Deutschlandradio Kultur: Wie fühlen Sie sich denn dabei? Eine andere Entscheidung, zum Beispiel die Homo-Ehe, da gab es einen Streit in der Regierung, ob die Gleichstellung kommt mit der Hetero-Ehe oder nicht. Angela Merkel hat erst mal gesagt, wir warten das ab, warten die nächsten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ab. Werden da einfach jetzt politische Entscheidungen ausgelagert?

Hassemer: Ich habe mich auf diese Entscheidung bezogen und sage: Wenn es weiterhin keine Schäden macht, dass die Regierung wartet, dass Leute nicht das Geld kriegen, das sie eigentlich von Rechtswegen verdient hätten oder so etwas, dann sehe ich darin nur das langfristige Problem, das ich gerade geschildert habe, nämlich dass sich Verwerfungen zwischen Regierung und Bundesverfassungsgericht auftun – soll es nicht sein. Aber wenn es um wenige Wochen geht, dann empfinde ich das vernünftig, wenn das Gericht, was man in diesem Fall erwarten darf, später sowieso darüber zu entscheiden hat.

Deutschlandradio Kultur: Man hat immer das Gefühl, die Verfassungsrichter beurteilen nach Recht und Gesetz und gucken, ob es der Verfassungslage gerecht ist. Trotzdem sind die Entscheidungen, die sie machen, nicht unpolitisch, sondern sie haben auch eine eminente Wirkung nach außen. Sind sich eigentlich diese Verfassungsrichter dieser Geschichte auch bewusst? Oder, man könnte auch andersrum fragen, vielleicht sind sie sogar stolz darauf, dass sie sagen, wir können ein bisschen am Rad der Geschichte drehen, weil wir tatsächlich Wort sprechen, das wirklich gewaltig ist, und der Politik auch noch mal die Leviten lesen und sagen, so müsst ihr dann anders verhandeln.

Hassemer: Ob einer im Geheimen stolz drauf ist, weiß ich nicht. Sagen würde er es jedenfalls nicht. Davon können wir mal ausgehen. Ich habe es auch bisher noch nie gehört.

Ich glaube andererseits, dass die Richter das alle sehr genau wissen, dass – und jetzt muss ich ein bisschen präziser werden – ihre Entscheidungen politische Folgen haben. Die Unterscheidung ist für mich sehr wichtig. Natürlich haben die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts politische Folgen. Auf der anderen Seite ist dann aber die Frage eine ganz andere. Sind es denn politische Entscheidungen?

Deutschlandradio Kultur: Letztendlich sind es politische Entscheidungen. Wenn beispielsweise nächste Woche das Bundesverfassungsgericht sagt, nein, den ESM wird es nicht geben, dann ist das eine verheerende Entscheidung möglicherweise für manche Politiker. Und insofern sind es politische Entscheidungen.

Hassemer: Ich bestreite, dass das deshalb schon eine politische Entscheidung wäre. Eine politische Entscheidung ist eine, ich will gleich ein Beispiel bringen, die mit politischen Maßstäben operiert. Wenn sich das Gericht hier an die Maßstäbe des Grundgesetzes hält und an seine eigene Rechtsprechung in Bezug auf Demokratie, in Bezug auf Haushaltshoheit und was weiß ich alles, bestreite ich, dass das eine politische Entscheidung ist.

Beispiel: Das Gericht hat immer wieder zu entscheiden gehabt, auch in letzter Zeit, über die Frage der Überhangmandate. Die Überhangmandate kann man auf zweierlei Weise betrachten – und ich habe selbst mitgewirkt bei einer solchen Entscheidung. Man kann sagen: Bitte keine Überhangmandate, weil ich der Partei X angehöre und die kriegt sowieso keine. Oder man kann sagen: Nein, das wollen wir jetzt mal durchsetzen, das hilft meiner Partei, einer anderen wunderbar auf die Beine. – Das ist eine politische Entscheidung.

Eine rechtliche Entscheidung wäre die zu sagen: Was haben wir denn über Art. 38 GG und die Allgemeinheit der Wahl? Was ist denn unsere Tradition? – Natürlich hat das am Ende Konsequenzen im Bereich der Politik, aber ich finde diese Unterscheidung wichtig. Und ich wehre mich dagegen, dass das Gericht in demselben Topf herumrührt, in dem die Politiker auch herumrühren. – Tut es nicht, wenn es klug ist, es ist nicht immer klug, aber wenn es klug ist.

Deutschlandradio Kultur: Aber nächste Woche, wenn wir mal den ESM und den Fiskalpakt ansprechen, entscheidet ja das Gericht schon irgendwo über die Zukunft Europas. Wenn das Gericht den ESM nicht billigt, dann ist der Geschichte.

Hassemer: Genau. Das Gericht entscheidet auch über die Zukunft Europas. Es entscheidet auch über die Ausübung der Demokratie in der Bundesrepublik, ganz genauso wie es über die Zukunft der NPD entscheiden würde, wenn es die NPD verbieten würde. Aber es wird daraus noch keine politische Entscheidung.

Deutschlandradio Kultur: Es sind die Auswirkungen.

Hassemer: Genau. Die Auswirkungen sind politischer Natur. Auch die Entscheidung über die Pendlerpauschale war für viele Leute ganz wichtig. Aber ich wehre mich dagegen zu sagen, das ist schon deshalb eine politische Entscheidung. Es ist eine juristische Entscheidung mit politischen Konsequenzen.

Deutschlandradio Kultur: Wenn wir aber jetzt davon ausgehen, dass Europa schneller zusammenwächst und -wachsen muss, weil die Märkte sie dazu zwingen und die politische Landschaft heute eine andere ist als in den 1950er- oder 40er-Jahren, als man über das Grundgesetz geredet und debattiert hat, ist da nicht dann ein Webfehler drin, dass man sagen müsste: Ja, Leute, wenn wir also eine neue Perspektive für Europa, für was auch immer haben wollen, ist eigentlich der Bremser das Bundesverfassungsgericht. Oder sagen Sie, nein, Grundrechte sind Grundrechte und dann müssen wir die aber auch übertragen, das ist dann die Aufgabe?

Hassemer: Ich glaube, dass das Problem, das Sie beschreiben, und es ist ein Problem, von einem Gericht gewissermaßen nur in seinen täglichen Maßstäben gelöst werden kann.

Auf Deutsch: Ich glaube, dass man Europa heute anders ansieht als vor 30 Jahren, weil Europa anders ist. Und die Konsequenz für das Gericht muss sein, dass das einfließt in das, was das Gericht zu entscheiden hat in Bezug auf seine juristischen grundrechtlichen Maßstäbe. Was heißt eigentlich Demokratie in Europa? Was heißt eigentlich Mitsprache der einzelnen Länder? Was heißt eigentlich, dass die einzelnen Staaten in Europa und nicht das gesamte Europa diejenigen sind, die über die Verträge am Ende entscheiden? – Das ändert sich natürlich immer.

Und es ist die Kunst der Juristen, glaube ich, das nicht zu behandeln wie so ein Klipp-Klapp-Schema, sondern sich davon überzeugen zu lassen, das zu einem Argument zu machen, zu einem juristischen Argument und daraus ein weises Urteil. So stelle ich mir das vor. Und ich glaube, so geht es auch.

Deutschlandradio Kultur: Diese weisen Urteile werden ja von ganz Europa beäugt, denn scheinbar hat das Bundesverfassungsgericht in Europa eine einzigartige Stellung. Das hat auch der ehemalige Präsident Hans-Jürgen Papier öfter gesagt. Erstens, würden Sie bestätigen, dass das Verfassungsgericht in Europa eine einzigartige Stellung hat von der Kompetenzfülle? Und ist das nicht auch kontraproduktiv jetzt bei der Euro-Rettung?

Hassemer: Erste Frage: Das Gericht hat eine solche Stellung von der Kompetenzfülle. Und ich will noch besonders erwähnen, dass zu den Kompetenzen die Chance jedes Bürgers und jeder Bürgerin gehört, vor Gericht vorstellig zu werden mit der Behauptung, ich bin in meinen Grundrechten verletzt. Das darf man überhaupt nicht unterschätzen. Das gibt es nicht bei sehr vielen Gerichten, diese Möglichkeit der Individualklage, aber das Bundesverfassungsgericht hat sie.

Und ich habe auf unseren Reisen in verschiedene Kulturen immer wieder festgestellt, dass es Kulturen gibt, die sagen, wir wollen das nicht. Das ist gewissermaßen zu gefährlich, wenn da jeder kommen kann. Ich glaube, das ist ganz falsch gedacht. Und ich glaube auch, um es kurz zu sagen, die Kompetenz des Gerichts ist hoch.

Zweite Frage: Führt das zu Verwerfungen? Natürlich. Natürlich führt das zu Verwerfungen. Wenn es so wäre, dass das Gericht nur zu beurteilen hat, wie ein Gesetz gewissermaßen im Nachhinein zu beurteilen ist und würde nicht von den Grundrechten her denken müssen, sondern allgemein staatsmännisch in diese Richtung argumentieren müssen, das ginge sehr viel schneller. Und es wäre auch wahrscheinlich weniger gefährlich, weil man besser voraussagen kann, was das Gericht tun wird.

Deutschlandradio Kultur: Ihre heutigen Kollegen quasi verhandeln jetzt gerade über den Eilantrag, über die entsprechende Klage gegen ESM und Fiskalpakt. Eilanträge werden relativ selten verhandelt. Was lässt sich daraus ableiten?

Hassemer: Eigentlich nichts. Der Eilantrag, das ist der Witz der Sache, stellt eigentlich gar nicht auf die juristische Seite ab. Es ist nur so, dass kein Mist verhandelt werden muss. Also, wenn das unzulässig ist beispielsweise, ist das schnell zu Ende, auch mit Eilantrag. Sondern der Eilantrag denkt von den Fakten her. Der fragt: Nehmen wir mal an, das ist jetzt gar nicht verfassungswidrig, wir aber halten es für verfassungswidrig. Was folgt daraus? Und das, finde ich, ist ein sehr kluger Zugang. Wie man, das ist ja auch Ihre Frage, wie man hier sehen kann in der Entscheidung, mit der der Zweite Senat zurzeit beschäftigt ist, sind die Grenzen zwischen einem klugen Eilantrag und einer Vorwegnahme der Entscheidung in der Sache manchmal fließend.

Deutschlandradio Kultur: Jetzt können wir nicht in die Glaskugel schauen, um rauszubekommen, was da am Mittwoch entschieden wird. Aber interessanterweise gibt es ja nicht unbedeutende Politiker, auch wie Finanzminister Wolfgang Schäuble. Der sagt, er geht fest davon aus, dass die Verfassungsrichter die Klagen gegen den Rettungsschirm ablehnen werden. Für Leute, die jetzt nicht in der Gerichtsbarkeit drin sind, ist das Gefühl doch da, dass eigentlich ne Vorentscheidung gefallen ist, wenn selbst jemand wie Finanzminister Schäuble sich so weit rauslehnt vor einem Richterentschluss. Ärgert das die Leute oder ist es tatsächlich die Lage, wie Sie sie auch sehen?

Hassemer: Die Lage sehe ich nicht so, weil ich das nicht so genau weiß wie Herr Schäuble, was der Senat machen wird. Das muss ich natürlich sagen. Aber es ist in keiner Weise behindernd oder – ich finde – auch nur überraschend. Es ist nur das Ergebnis einer Fehlinterpretation.

Deutschlandradio Kultur: Kein Versuch der Beeinflussung, Leute, in die Richtung müsst ihr gehen?

Hassemer: Nein, so dünnhäutig sind die Richter nicht – nein, nein. Herr Schäuble ist Verfahrensbeteiligter. Und er ist Finanzminister. Und er redet genau wie ein verfahrensbeteiligter Finanzminister. Er sagt nämlich: Das, was wir gemacht haben, ist in Ordnung. Und davon gehen wir mal aus. Das werden die auch tun.

Wenn Sie mit Herrn Gauweiler reden, der redet genau dasselbe, nur es ist ein "nicht" darin. Er ist genau der gegenteiligen Überzeugung. Und das ist in Ordnung.

Deutschlandradio Kultur: Ist es auch in Ordnung, wenn Elmar Brok, CDU-Europaabgeordneter, sagt: Wenn die dem nicht zustimmen, dann haben wir den Crash?

Hassemer: Vielleicht bin ich besonders hartleibig, ich weiß nicht, aber ich kann mich über so etwas nicht aufregen, weil jeder vernünftige Mensch in der Republik sieht: Was ist denn das für einer? Das ist einer, der macht für seine Sache Reklame. Und da greift er hoch. Und der andere greift niedrig. Und der eine macht’s staatsmännisch und der andere greift zu einer Beleidigung. Wenn es den Rahmen der Beleidigung nicht überschreitet, würde ich sagen, soll er reden, was er will. Wir sind in einem freien Land mit klugen Leuten. Die werden sich schon nicht ins Bockshorn jagen lassen – und die Richter sowieso nicht.

Deutschlandradio Kultur: Nun gibt es aber sehr, sehr viele Kläger, man spricht auch von der größten Verfassungsbeschwerde der Geschichte. Über 37.000 Menschen haben sich da jetzt schon versammelt. Trotzdem gehen die meisten Experten bisher davon aus, dass das Gericht unter Auflagen das Ganze billigen wird.

Hassemer: Also, diese Prognose ist eine – sagen wir mal – simple Prognose. Sie besteht in dem Satz, das Gericht wird es nicht ganz anders machen, als es das bisher gemacht hat. Diese Prognosen sind nicht ungefährlich. Das hängt nämlich davon ab, was dem Gericht alles einfällt. Und ich bin mir sicher, dass das Gericht die Grenzen testen wird, die es nach seiner bisherigen Rechtsprechung hat, um in diesem Fall eine vernünftige und sich selbst entsprechende Entscheidung zu finden.

Also, ich will damit sagen, das Gericht wird nicht von Vornherein sagen, die Leute kommen nicht in den Beratungsraum, und sagen, also, Leute, hört mal zu, wir haben diese Klage, es ist doch klar, was wir machen – gucken Sie sich die bisherige Rechtsprechung an. – So läuft das nicht. So läuft das nicht!

Es läuft mit einem Votum, mit einem ausführlich begründeten Votum des Berichterstatters geht es los. Und dann wird argumentiert. Dann wird ausgetestet. Dann wird gestritten. Und man muss noch eins dabei sehen: Politiker sagen vorher schon, was sie denken, das haben Sie ja auch gerade zitiert, und was da richtig und was falsch ist. Richter tun das nicht, jedenfalls nicht dann, wenn sie gut beraten sind. Und ich habe das auch in diesem Fall nicht gesehen, dass ein Richter irgendwie angedeutet hat, was sie machen werden. Und auch das bedeutet: Die Prognosen sind gefährlich. Denn man wird erwarten dürfen oder hoffen dürfen, was mich angeht, dass das Gericht mutig ist.

Deutschlandradio Kultur: In welchem Sinne?

Hassemer: In dem Sinne, dass es mal vielleicht etwas entscheidet, was es bisher so noch nicht entschieden hat, dass es mal sagt, die Grenze ist erreicht. Ich weiß es nicht. Das ist auch keine Prognose. Aber es ist möglich. Und jede Prognose, die sagt, die machen das genauso, wie sie es bisher gemacht haben, finde ich nicht gut.

Deutschlandradio Kultur: Aber wenn die Grenze erreicht ist, heißt das, dass wir vielleicht eine neue Grenze brauchen, also ein neues Grundgesetz?

Hassemer: In der Tat, das würde ich sagen, wenn die Grenze der Möglichkeiten erreicht ist, nach Europa offen zu sein. Präzise wird man das sagen können. Wenn diese Grenze erreicht ist, dann muss man über Grenzen, neue Grenzen nachdenken – falls man Europa will, und davon gehe ich einmal aus. Also, ich glaube, das steht politisch jetzt nicht auf dem Bock. Das ist, glaube ich, nicht das Problem. Wenn man Europa will, muss man darüber nachdenken, die Grenzen neu zu definieren.

Deutschlandradio Kultur: Das wäre der eine Weg. Der andere Weg wäre, was andere Leute sagen: Wir müssen die Institutionen in Europa stärker demokratisch legitimieren, damit sie auf ähnlicher Basis wie auf dem Grundgesetz funktionieren – Europäisches Parlament, nicht in Hinterzimmern. Wenn man das deckungsgleich hinbekommt und transparent, ist es auch den Bundesverfassungsrichtern möglicherweise einfacher zu sagen, ja, der Integrationsprozess kann stattfinden, weil eben demokratische Rechte weiterhin gewährleistet werden. – Ist das der andere Weg, der vielleicht genauso oder parallel gemacht und geführt werden kann?

Hassemer: Es ist ein anderer Weg. Ich halte ihn nicht für genauso gut, und zwar aus einem ganz einfachen Grund heraus. Ich glaube, es geht nicht nur um die Demokratisierung Europas, also um die Verstärkung der demokratischen Elemente in Europa, was hingeht bis zu kulturellen Fragen, bis zu der Frage: Verstehen die Leute sich denn, haben wir eine politische Öffentlichkeit in Europa oder haben wir nur die Öffentlichkeit der verschiedenen nationalen Kulturen?

Das ist auf der einen Seite richtig, es geht in Europa darum, eine Demokratisierung zu befördern. Aber, und jetzt kommt mein Aber, das bedeutet nicht, dass man in Deutschland sagen kann, na ja gut, das schaufeln wir jetzt mal nach Brüssel und für Deutschland war es das. – Das, glaube ich, entspricht nicht dem Willen des Grundgesetzes. Das wäre am Ende so etwas wie ein europäischer Bundesstaat. So ist es hier nicht, sondern wir müssen uns um Demokratisierung von Europa kümmern. Wir müssen uns aber auch um den Erhalt der Demokratie in der Bundesrepublik kümmern. Da mag es dann gewissermaßen Verschiebungen in Kleinigkeiten geben.

Deutschlandradio Kultur: Zum Beispiel?

Hassemer: Zum Beispiel, dass man sagt etwa, konkretes Beispiel, was das Gericht mal entschieden hatte: Beim europäischen Haftbefehl ist man davon ausgegangen, dass die Rechtskulturen in bestimmten Teilen Europas einander entsprechen. Und da hat man dann gesagt: Ja gut, man darf erwarten, dass, wenn das in Spanien passiert, darum ging es damals, dass das ungefähr das ist, was in Deutschland auch passieren würde. Und dann muss man ungefähr definieren, aber so was kann gehen.

Deutschlandradio Kultur: Dahinter steckt aber, noch mal nachgefragt, doch ein Dilemma, das Sie auch angesprochen haben. Wir haben nationale Parlamente. Wir identifizieren uns stark über die Nation, über die Parlamente, über das Grundgesetz. Auf der anderen Seite erfahren wir täglich, wöchentlich, dass wir uns ökonomisch, politisch, gesellschaftlich nur retten können im Weltgebilde, wenn wir uns stärker auf Europa orientieren.

Also, wir haben nationalstaatliches Denken, wir haben die Herausforderung Europa, dieses Dilemma aufzulösen. Muss das auch verfassungsrechtlich irgendwann angegriffen werden, damit man da weiterkommt, um nicht immer wieder in die gleiche Falle zu gehen?

Hassemer: Das ist verfassungsrechtlich angegriffen und verfassungsrechtlich diskutiert. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sind zahlreich. Also, das ist auf einem guten Wege. Aber vielleicht ist in der derzeitigen Diskussion, und Sie bringen mich darauf, eine Sache unterbelichtet. Was unterbelichtet wird, ist Europa, der Traum von Europa und auch dessen Bedeutung für das Grundgesetz.

Wir diskutieren Europa zurzeit als Schuldenstaat. Wir diskutieren das als ungerecht, was bestimmte Staaten mit dem Geld machen. Wir haben auch betrogen, unsere Schulden haben auch nicht ganz dem entsprochen, was die Verträge damals vorgeschrieben haben. Das steht aber bei uns zurzeit im Vordergrund in unserer Diskussion. Deshalb reden wir ja vermutlich auch miteinander jetzt. Und das ist nicht falsch, aber einseitig.

Wenn Sie sich den Art. 23 des Grundgesetzes mal angucken, in dem es darum geht, dass Europa am Ende so etwas wie auch ein Hafen für Deutschland sein könnte und dass Europa auch ein soziales und ein demokratisches Unternehmen ist und dass es für Deutschland wichtig ist da mitzumachen, dann sehen Sie die andere Seite der Medaille.

Deutschlandradio Kultur: Wir kommen wieder zum Geld, denn wenn wir sagen, wir wollen solidarisch sein, werden wir sofort wieder die Diskussion haben, die wir nächsten Mittwoch zu entscheiden haben.

Hassemer: Genau. Aber es kommt auch darauf an zu sagen: Überlegt euch doch mal, was für euch Europa ist. Europa ist für Deutschland die Rettung gewesen. Und das ist es im Grunde immer noch. Und deshalb ist jetzt die Diskussion. Das ist ja alles in Ordnung, dass wir also unsere demokratischen Instrumente nicht hergeben und dass wir sehen, dass diese Finanzkrise jetzt irgendwann mal ein Ende hat. Aber man muss ja auch den Hintergrund sehen. Und der Hintergrund ist, was Europa angeht, in Deutschland außerordentlich stark. Ich weiß gar nicht, wie ein anderes Land in Europa dann gewissermaßen ähnlich wie Deutschland sagen könnte: Ohne Europa sind wir arm.

Deutschlandradio Kultur: Wenn wir noch mal auf dieses Urteil am kommenden Mittwoch im größeren Rahmen noch mal zu sprechen kommen, fällt mir Folgendes ein: Es gab Karlsruhe und es gab auch Berlin. Die haben sich für die Währungsunion ausgesprochen. Es gab kein Problem zu sagen, ja, dieser Integrationsprozess ist gewollt. Dann ist doch das Problem am nächsten Mittwoch, es geht doch gar nicht anders, als dass man sagt, jetzt können wir doch nicht sagen, dass diese weiteren Schritte dann verfassungswidrig sind. Sonst schmeißen wir das ganze Haus wieder ein, das wir vor neun Jahren gebaut haben.

Also noch mal einfach von der Richtung, weil man es gerne wissen möchte: Das ist doch fast gar nicht vorstellbar, dass irgendein vernünftiger Mensch – Grundgesetz hin oder her, sage ich jetzt mal provokant – diese Entscheidung so trifft, oder?

Hassemer: Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber was Sie jetzt mit mir veranstalten, ist, Sie treten mit mir in eine virtuelle Beratung des Zweiten Senats ein.

Deutschlandradio Kultur: Ja, so stark bin ich nicht.

Hassemer: Das hat mit stark nix zu tun, aber so werden sie diskutieren, genau so.

Deutschlandradio Kultur: Also, sie werden nicht nur auf juristischer Ebene diskutieren, sondern sich auch bewusst sein darüber, dass es um mehr geht bei dieser Entscheidung?

Hassemer: Das ist ja das Juristische. Also, wenn ich von Demokratie spreche oder wenn ich von Sozialstaat spreche oder von föderalen Elementen spreche, das macht alles das Grundgesetz. Das macht alles das Grundgesetz! Und insofern kann man nicht sagen, da gibt’s wieder dieses juristische Geklapper und auf der anderen Seite gibt es die großen Grundsätze und die großen Entwicklungen. Nein, es muss zusammengefügt werden, so wie Sie das eben gemacht haben – wunderbar. Vielleicht werden Sie ja mal Richter im Zweiten Senat.
Winfried Hassemer, Vorsitzender Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, BVG, in Karlsruhe, aufgenommen bei einer Urteilsverkuendung am 18. Juli 2005.
Winfried Hassemer bei einer Urteils-verkündung am 18. Juli 2005.© AP
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