Samstag, 20. April 2024

Archiv

Clarice Lispector: "Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau"
Mystikerin der Moderne

Der Schriftstellerin Clarice Lispector sagte man nach, wie Marlene Dietrich auszusehen und wie Virginia Woolf zu schreiben. Die 1920 in der Ukraine geborene Autorin gilt als herausragende Vertreterin der brasilianischen Moderne. Im deutschsprachigen Raum ist sie noch zu entdecken.

Von Thomas Palzer | 25.11.2019
Ein schwarzweiss Porträt der brasilianischen Schriftstellerin Clarice Lispector, ca. 1960.
Clarice Lispector - eine der wichtigsten Autorinnen Südamerikas (Privat / Matthes & Seitz)
In Brasilien und ganz Lateinamerika wird die russisch-jüdische Autorin Clarice Lispector gebührend gewürdigt. Man nennt sie liebevoll beim Vornamen, und ihr Porträt ziert sogar Briefmarken. Luxuseigentumswohnungen werden mit ihrem Namen beworben. In der U-Bahn kann man ihre Werke an Automaten erstehen. Jeder hat eine Anekdote über sie parat, ähnlich wie das in Argentinien mit Borges der Fall ist. Und hat jemand keine Anekdote parat, will er zumindest 1977 zu ihrer Beerdigung gegangen sein.
Die Tochter russischer Emigranten, nach einer Odyssee von der Ukraine über Hamburg nach Lateinamerika gekommen, wächst im jüdischen Viertel der nordbrasilianischen Hafenstadt Recife auf. Nachdem sie als 13-Jährige mit Hermann Hesses "Steppenwolf" Bekanntschaft gemacht und zur Literatur gefunden hat, veröffentlicht sie zehn Jahre später, mit 23, ihr erstes Buch - einen Roman unter dem Titel "Nahe dem wilden Herzen", der die Geschichte von Joana erzählt, einem jungen Mädchen, das nach dem frühen Tod des Vaters, der unglücklichen Kindheit bei der Tante und der Einsamkeit im Internat gegen die Konvention einer stinknormalen Ehe rebelliert und schließlich seinen eigenen Weg findet.
Ruhm und Rezeption
Der Roman legt das komplexe Innenleben Joanas offen, indem er sich auf deren Reflexionen und komplizierten Gefühle konzentriert.
"Woran hatte sie gedacht? Ah, der Tod würde sie mit ihrer Kindheit verbinden. Der Tod würde sie mit ihrer Kindheit verbinden."
In Brasilien wurde das Buch bald als bedeutendster Roman gefeiert, den je eine Frau in portugiesischer Sprache verfasst hat. Außerhalb Brasiliens allerdings ist der Name Lispector noch weitgehend unbekannt. Der amerikanische Literaturwissenschaftler und Biograph Lispectors, Benjamin Moser, vermutet, dass ihre feinsinnige und formal anspruchsvolle Prosa schwer zu vermitteln sei. Dabei wäre die mehrdeutige und in Teilen kafkaeske Welt der Lispector, die als Ikone der feministischen Literaturwissenschaft gilt, ein erholsames und anspruchsvolles Antidot zu all dem Belanglosen, was heute den Buchmarkt überschwemmt.
Immerhin aber hat der Frankfurter Schöffling Verlag 2013 und 2017 zwei Romane von Lispector publiziert. Nun ist im Münchner Penguin-Verlag der erste Band von Lispectors "Sämtlichen Erzählungen" erschienen. Titel: "Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau", herausgegeben von Benjamin Moser.
Die Allgegenwart einer kafkaesken Welt
Lispector erzählt in diesen Geschichten vom Alltag, beispielsweise davon, wie eine Frau im Café sitzt und auf eine Verabredung wartet; oder von einer anderen, die mit unklaren Absichten durch den Zoo streift; sie erzählt von einer weiteren, die beschlossen hat, die Flucht aus einer fad gewordenen Ehe anzutreten und fortzugehen. Der Ton ist frisch und ungewöhnlich. Ohne kompliziert zu klingen, schafft sie es, die äußerste Komplexität innerer Konflikte in scheinbar einfache Sätze zu kleiden.
"Jimmy ging mit erhobenem Haupt, die Nase in die Luft gereckt, und wenn wir die Straße überquerten, fasste er mich am Arm, vertraulich und mit großer Selbstverständlichkeit. Mich verwirrte das. Wie sehr ich schon damals von Jimmys Vorstellungen durchdrungen war und vor allem von seinem hellen Lächeln, sieht man daran, dass ich mir diese Verwirrung vorwarf, Ich hielt mich, zu meiner Unzufriedenheit, für allzu weit entwickelt, weit weg vom ursprünglichen Modell – dem Tier. War es nicht sinnlos, wegen eines Armes rot zu werden; oder gar wegen eines Ärmels?"
In allen Erzählungen Lispectors ist der Tod gegenwärtig, wenn auch unsichtbar und unaufdringlich. Noch in der harmlosesten Szene wird aufgezeigt, dass hinter der Banalität des Alltäglichen eine komplexe Wirklichkeit wartet – eine, die zwischen sich und den zahllosen Möglichkeiten, die sie fortwährend von sich abspaltet, mehrdeutig und unübersichtlich geworden ist. Aus der Erzählung "Die Henne und das Ei".
"Morgens in der Küche sehe ich auf dem Tisch das Ei.
Ich erblicke das Ei mit einem einzigen Blick. Auf der Stelle merke ich, dass man ein Ei nicht dauerhaft ansehen kann. Ein Ei anzusehen, hält nie bis in die Gegenwart: kaum sehe ich ein Ei an, wird daraus, dass man ein Ei schon vor drei Jahrtausenden angesehen hat. Sobald man ein Ei ansieht, ist es die Erinnerung an ein Ei."
Expedition in unbekanntes Gelände
Lispector ist eine gottlose Mystikerin, die über die Gabe verfügt, bei aller Entzauberung der Welt einen existentiellen, der Welt immanenten Zauber aufzuspüren.
Schon bei ihrer Geburt wird Lispector mit dem Tod konfrontiert. In der vom Bürgerkrieg versehrten Ukraine herrscht nach dem Ersten Weltkrieg eine schlimme Hungersnot. Zehn Jahre später stirbt ihre Mutter als Opfer einer Vergewaltigung an der Syphilis im nordbrasilianischen Recife.
Die Lektüre der Erzählungen gleicht, wie ein brasilianischer Kritiker einmal konstatiert, einer Expedition in unbekanntes Gelände – einer Expedition in die Unwirklichkeit dessen, was wir Wirklichkeit nennen. Diese Unwirklichkeit des Wirklichen in den 40 Geschichten fühlbar zu machen, anschaulich, nacherlebbar – in den komplizierten Gedanken der jeweiligen Protagonistinnen –, darin liegt die große Kunst dieser Autorin.
Clarice Lispector "Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau"
Sämtliche Erzählungen I.
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby
Penguin Verlag, München, 416 Seiten, 24 Euro