Eva von Redecker: „Revolution für das Leben“

Die Welt wahren in wilder Verbundenheit

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Das Cover zeigt ein Muster aus abstrakten Schwarz-Weiß-Balken.
Eva von Redeckers neues Buch: ein wichtiger Einwurf, der nicht für die sozialen Bewegungen der Gegenwart lesenswert ist. © Cover: S. Fischer Verlag
Von Katharina Döbler · 24.09.2020
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In "Revolution für das Leben" entwirft die Philosophin Eva von Redecker die Vision einer zukünftigen Gesellschaft. Sie wünscht sich eine Gemeinschaft der Teilenden statt einer Gesellschaft, in der sich die Individuen durch Herrschaft und Eigentum definieren.
Es könnte die neue Bibel intellektuellen Widerstands gegen die Zumutungen des real existierenden Kapitalismus werden - zumindest aber eine ihrer zentralen Schriften: Das neue Buch Eva von Redeckers unternimmt den Versuch, eine umfassende "Philosophie der neuen Protestformen" zu formulieren.
Nun ist es keine leichte Aufgabe, die Ursachen des Klimawandels, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, patriarchale Familienstrukturen, rassistische Unterdrückung und kapitalistische Herrschaft theoretisch konsistent zusammenfassen. Man denke nur an den alten Streit um Haupt- und Nebenwidersprüche, um das, was zuerst kommen soll: Die Revolution oder die Emanzipation.
Eva von Redecker denkt das alles zusammen. Und es lohnt sich, ihrem Weg von Marx über Hannah Arendt, Adorno, Lukács, Foucault und ein paar weiteren der üblichen Verdächtigen in die Gegenwart hinein zu folgen: dorthin, wo sich soziale Bewegungen wie Black Lives Matter oder Fridays for Future entfalten.

Revolution - gedacht als Selbstermächtigung

Wohin die Reise theoretisch wie praktisch gehen soll, hat Redecker bereits in ihrer vor zwei Jahren erschienenen Sozialtheorie radikalen Wandels dargelegt: Revolution. Auch in diesem Buch bildet das Kapitel Revolution Herzstück und Mitte, es ist von den vier Kapiteln davor und danach sogar durch eine eigens eingefügte Graphikseite getrennt.
Revolution wird hier als Selbstermächtigung gedacht, als rebellischer Universalismus, der nicht im gewaltsamen Umsturz sein Ziel hat, sondern darin, die bestehenden Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse durch eine Gemeinschaft der Teilenden zu ersetzen.
"Wenn wir eine Revolution und nicht nur einen spektakulären Zusammenbruch sehen wollen, müssen wir aus den Zwischenräumen des Alten bereits das Neue schaffen."

Beherrschen, verwerten, erschöpfen, zerstören

Das Alte wird in den ersten vier Kapiteln als konsequent zerstörerisch analysiert: Beherrschen (Eigentum), Verwerten (Güter), Erschöpfen (Arbeit) und Zerstören (Leben). Eigentum begegnet uns hier als Feind der Allmende, des Gemeinbesitzes, als uneingeschränktes Herrschaftsrecht, das selbst die Zerstörung dieses Eigentums - an Land, Menschen und Produktionsmitteln -einschließt.
Redecker nennt das "absolute Sachherrschaft" und sieht diese (mit Lukács) auch in der Verdinglichung sozialer Beziehungen und in Geschlechterverhältnissen am Werke. Dabei handelt sie das durchaus nicht nur theoretisch ab: Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie oder den alltäglichen Zwang zu beständiger Effizienz, den wir alle kennen, schildert sie eindrücklich realitätsnah.

Wilde Verbundenheit statt Herrschaftsbeziehungen

Der Begriff, den sie in weiteren vier Kapiteln dagegensetzt, lautet Weltwahrung. Statt Sachherrschaft und Herrschaftsbeziehungen postuliert sie etwas, das sie wilde Verbundenheit nennt: Gemeinschaft, die nicht auf Verwertung und Hierarchien beruht, sondern auf Wahrung natürlicher und sozialer Ressourcen.
Und klar, Platz für Individualismus soll darin auch sein, da hält Redecker es ganz mit Marx und einer seiner schönsten dialektischen Blüten: Der Mensch ist "das Tier, das sich nur in Gemeinschaft vereinzeln kann". In dieser idealen Gemeinschaft sind Leben, Arbeit, Güter und Eigentum unter den Aspekten der Rettung, der Regeneration, des Teilens und des Bewahrens definiert.
Es klingt manchmal, als werde die gute alte Graswurzelrevolution auf der Höhe aktueller Diskurse und unter der drohenden Zerstörung unseres Planeten neu gedacht. Redecker mag mit ihren dialektischen Volten und manchmal überbordenden Metaphern durchaus kritisierbar sein, aber ihr Buch ist ein wichtiger Entwurf – mit dem sich hoffentlich viele, nicht nur die sozialen Bewegungen, auseinandersetzen werden.

Eva von Redecker: "Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020
216 Seiten, 23 Euro

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