Eröffnung Literaturfestival Berlin

Eva Menasse warnt vor Radikalisierung von Jubel und Hass

Die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse am 12.03.2018 in Köln auf der Lit.Cologne, dem internationalen Literaturfest in Köln.
Die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse sprach zur Eröffnung des 18. Internationalen Literaturfestivals in Berlin. © dpa/Horst Galuschka
Von Tobias Wenzel · 05.09.2018
Eine niederschmetternde Analyse: Leider habe das Internet nicht, wie gehofft, eine differenzierte Kommunikation gefördert, beklagte die Schriftstellerin Eva Menasse in ihrer Rede zur Eröffnung des Internationalen Literaturfestivals in Berlin.
Man wurde während der Eröffnungsveranstaltung im Haus der Berliner Festspiele an Menschen erinnert, die unter Lebensgefahr über das Meer flüchten, und überhaupt an unsere stürmischen Zeiten. Denn im Großen Saal, der fast bis auf den letzten Platz gefüllt war, war das Schwarz-Weiß-Foto eines tosenden Meeres projiziert. Auch, als Eva Menasse ans Rednerpult trat.

Demokratische Abläufe beschützen

Die österreichische Autorin ließ ihre Rede mit Zitaten von Max Frisch beginnen. Mit Worten, die ihr heute fremd erscheinen, weil Frisch mit ihnen die damaligen Politiker verurteilte, die, wie Menasse es formulierte, "die alten Nazis schützten, die Homosexuellen, die Frauen, die Armen und die Ausländer aber nicht". Ganz anders empfindet Eva Menasse die heutigen Zeiten:
"Die Welt ist zu einem Ort geworden, an dem man sich danach sehnt, demokratische Politiker wie die, die die 'Ehe für alle' eingeführt und der verzweifelten Lage von Bürgerkriegsflüchtlingen mit Empathie begegnet sind, vor Hass und Lächerlichkeit, ja vor dem schieren Verjagtwerden beschützen zu können. Man möchte die Macht haben, demokratische Abläufe und Institutionen wie den Rechtsstaat zu beschützen vor den Anbrandungen der Empörten, die sich mit ihrem geklauten Schlachtruf 'Wir sind das Volk' für ermächtigt halten, das alles zu zerschlagen. Ihre destruktive Kraft greift um sich wie ein Nervengift".

Folgen der Anonymität des Internets erkennen

Und dieses Nervengift verbreitet sich besonders schnell über das Internet. Die Mechanismen der institutionellen Politik, so Eva Menasse, lösen sich gerade "unter dem Druck digitaler Gespenster" auf. Das Internet habe nicht, wie gehofft, differenzierte Kommunikation gefördert, sondern die Radikalisierung von Jubeln und Hassen. Die "Mittellage" gebe es nicht mehr. Die Extreme würden sich verfestigen, eben auch in der Politik. Und im Netz seien die Menschen zu Lemmingen geworden, die, von der digitalen Anonymität geschützt, sich an Shitstorms beteiligen, um bloß nicht ihr Opfer zu werden:
"Ich kritisiere nicht 'das Internet', sondern mache nur wie ein Leierkasten darauf aufmerksam, dass wir seine Folgen auf unsere Psyche, auf unsere Wahrnehmung, auf unser Verhalten genausowenig einschätzen können wie die Folgen von neuen Medikamenten oder von Gentechnik in Medizin und Landwirtschaft. Anders als bei Pharmazie und Gentechnik haben wir aber kein Problembewusstsein dafür."

Redeverbote durch falsch verstandene Rücksichtnahme

Die rechten Hetzer, die lustvoll alles beschimpfen, was – Zitat – "ihnen nicht die Stiefel leckt", unterfordern Eva Menasse intellektuell. Was sie aber am meisten schmerze, sei, dass ihr eigenes Lager, die Liberalen, ihre Liberalität und ihren Humor verlieren, indem sie literarische Säuberung fordern und Denk- und Redeverbote aussprechen. Und zwar, so Menasse, "aus falsch verstandener, aus auf die Spitze getriebener Rücksichtnahme":
"Es ist der altbekannte Unterschied zwischen Arznei und Gift – es kommt auf die Dosierung an. Und diese ist völlig entglitten. Verdiente Wissenschaftler, die als Nazis, Lyriker, die als Sexisten, Sprachforscher, die wegen ihrer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Ressentiment und Vorurteil als Vorurteilsverbreiter diffamiert werden – in den meisten Fällen losgetreten von Studenten, also von jungen Menschen, die intelligent, gut ausgebildet, vernetzt und kreativ in ihren Protestformen sind, aber offenbar unfähig, ihre eigene militante Intoleranz zu erkennen."

Kunstfreiheit wird kleiner

Das sei keine politische Korrektheit mehr, sondern "pseudokorrekte Inquisition". Menasse kritisierte, dass heute kein Unterschied mehr gemacht wird zwischen einem Schauspieler, dem sexueller Missbrauch vorgeworfen wird, und dem Film, in dem er mitgespielt hat – und da wusste man, dass sie an Kevin Spacey dachte. Sie zeigte sich entsetzt darüber, dass das Wort "Bewunderer" in der Nähe des Wortes "Frauen" einigen Menschen nicht mehr vermittelbar sei – und es war klar, dass sie Eugen Gomringers Gedicht meinte, das die Alice-Salomon-Hochschule Berlin nun von ihrer Fassade entfernen lässt. Eva Menasse nannte in ihrer herausragenden Rede allerdings ganz bewusst nicht diese Namen, weil es ihr ums Grundsätzliche ging:
"Ja, ich bin davon überzeugt, dass die Freiheit der Kunst heute kleiner ist als noch vor wenigen Jahren. Das ist eine Entwicklung, die mich bestürzt und alarmiert."
Menasses Analysen waren nicht nur scharfsinnig, sondern, trotz ihres hier und da aufblitzenden Humors, auch niederschmetternd. Und so tat es den Zuhörern sicher gut, dass die Autorin am Ende ihrer Rede etwas Mut machte. Mit von ihr selbst formulierten Regeln:
"Was man für richtig hält, was man in Ruhe begründen kann, muss man sagen, egal, wer applaudiert, wer protestiert, egal, ob es einen Shitstorm gibt. Sagen soll man es, nicht schreien. Schreiben soll man es, nicht twittern."
Es sei – zum Glück, wollte man ergänzen – noch nicht so weit, "dass wir aus Angst verstummen".

18. Internationales Literaturfestival Berlin vom 05. bis 15. September 2018

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