Europawahl

"Nationale Interessen werden verteidigt"

Der Plenarsaal im Europaparlament
Abgeordnete im Europaparlament in Straßburg © picture alliance / dpa / Anthony Picore
Moderation: Jörg Degenhardt  · 03.05.2014
Am 25. Mai wird ein neues Europaparlament gewählt, viele nehmen von der Wahl aber bisher wenig Notiz. Passend zur Politikverdrossenheit erscheint jetzt auch noch das Buch "Europas Strippenzieher" der Journalisten Cerstin Gammelin und Raimund Löw.
Jörg Degenhardt: Die Europawahl steht an, in drei Wochen ist es so weit. Auch wenn viele den Termin gar nicht in ihrem Kalender stehen haben, die Abstimmung ist nun mal nicht so populär und Brüssel und Straßburg sind weit weg. Dazu kommt, dass die Politik, die dort gemacht wird, nun nicht gerade den besten Ruf genießt.
Und als wäre das nicht genug, gibt es jetzt auch noch das passende Buch zur allgemein eher gedämpften Europa-Laune, könnte man zumindest meinen: "Europas Strippenzieher" heißt es und befasst sich zu einem großen Teil mit den Krisenjahren 2008 bis 2013. Geschrieben haben es die Journalisten Cerstin Gammelin von der "Süddeutschen Zeitung" und Raimund Löw vom "Österreichischen Rundfunk". Und Frau Gammelin begrüße ich jetzt im Studio in Brüssel, guten Morgen!
Cerstin Gammelin: Schönen guten Morgen!
Degenhardt: "Europas Strippenzieher", der Titel ist ja keine Schmeichelei. Noch deutlicher wird das, wenn ich die österreichische Ausgabe nehme, da ist von Europas Drahtziehern die Rede. Sie haben mit Staatschefs, mit Kommissaren und Beamten gesprochen. Wollten Sie denen mal richtig vors Schienbein treten?
Gammelin: Ja, in erster Linie ging es uns darum mal zu schauen, woran liegt das denn jetzt wirklich, dass die Leute sich abwenden von Europa, und wer trifft wirklich die Entscheidungen in Europa? Diesen beiden Fragen sind wir nachgegangen, und da ich aus Deutschland komme und der Kollege aus Österreich kommt, kann man eben schon am Titel sehen, wie kompliziert die Sache ist, weil, das Buch heißt in Deutschland "Die Strippenzieher", weil in Deutschland dieser Begriff eher mit Leuten verbunden wird, die die Macht haben, die hinter der Kulisse arbeiten, und in Österreich ist dieser Titel überhaupt nicht zu verstehen, da heißt es eben "Die Drahtzieher", weil, das sind in Österreich die Leute, die hinter den Kulissen arbeiten.
Und da sieht man schon mal: zwei Länder, einen Sprache und dennoch derartige Kulturunterschiede. Also, die Frage ist, wie geht es dann erst zu, wenn 28 verschiedene Regierungschefs am Tisch sitzen? Und diesem Problem sind wir halt nachgegangen.
In Brüssel werden vehement nationale Interessen verteidigt
Degenhardt: Die Staats- und Regierungschefs benehmen sich nach Ihrer Einschätzung wie Landesfürsten im 18. Jahrhundert. Hatten Sie etwas anderes erwartet?
Gammelin: Eigentlich schon. Ich bin vor sechs Jahren nach Brüssel gekommen mit einem Grundwissen, das wohl jeder Bundesbürger mehr oder weniger hat, und es war doch schon sehr interessant zu sehen, wie hier wirklich vehement nationale Interessen verteidigt werden. Also, als wir 2008 zum Beispiel den großen Einbruch bei Lehman Brothers hatten, die große Pleite in den USA, da haben doch tatsächlich auch nationale Politiker, auch der damalige Bundesfinanzminister Steinbrück gesagt, das ist ein rein amerikanisches Problem.
Und wenn wir hier in Europa Probleme bekommen, dann muss auch jedes Land einzeln seine Banken retten. Das kann Deutschland sich leisten, das können andere Länder sich weniger leisten. Und man hat eben völlig außer Acht gelassen, dass diese Banken natürlich untereinander vollkommen vernetzt sind. Und weil man das eben nicht beachtet hat, ist es zu diesem großen Crash mit den Banken gekommen.
Degenhardt: Sie konnten für Ihr Buch vertrauliche Protokolle von EU-Gipfeln einsehen. Das war doch gewiss spannend, was hat Sie da am meisten verblüfft?
Gammelin: Es ist schon deswegen sehr spannend, weil man sieht, dass diese 28 Staats- und Regierungschefs, die da in Brüssel um den Tisch sitzen, einfach auch nur Menschen sind. Und das ist jetzt gar nicht despektierlich gemeint, sondern anhand dieser Protokolle ist es einfach auch möglich zu erläutern, dass diese ganze Gipfelpolitik auch irgendwie menschengemacht ist und mit Fehlern behaftet ist und mit gutem Willen behaftet ist, aber eben auch in der Not geboren wurde.
Und es war schon sehr interessant zu sehen, dass, wenn es hart auf hart kommt, die Regierungschefs auch nicht zimperlich sind, dass David Cameron zum Beispiel von Frau Merkel mal mit flapsigen Bemerkungen ruhiggestellt wird, wenn er also fordert, zum Beispiel diesen Euro-Rettungsfonds, der in Deutschland ja auch sehr umstritten ist, nicht nur mit 700 Milliarden zu füllen, sondern mit 2.000 oder 3.000 Milliarden, dann sagt eben Frau Merkel: David, wenn du mit zahlst, dann machen wir das, und damit ist dann Herr Cameron ruhiggestellt. Also, so kleine Begebenheiten, die in den Protokollen niedergeschrieben waren, die machen dieses ganze Projekt Europa einfach erlebbarer.
Merkel ist sehr dominierend
Degenhardt: Sie haben Angela Merkel angesprochen, sie spielt in Ihrem Buch eine wichtige Rolle. Kein Wunder ja auch, Deutschland ist wirtschaftlich das stärkste Land in der Union. Welche Figur gibt sie denn ab im Kreis der Mächtigen? Manchmal hat man so ein bisschen das Gefühl, andere Staatschefs von kleineren Ländern, die haben vielleicht sogar Angst vor ihr?
Gammelin: Ja, Angst würde ich jetzt das vielleicht nicht nennen, aber für viele Regierungschefs ist Frau Merkel schon sehr dominierend. Deutschland hat auch mit 82 Millionen Einwohnern die meisten Einwohner eines Landes in der EU. Das liegt aber auch daran, dass Frau Merkel natürlich schon dreimal zur Kanzlerin gewählt wurde, dass sie Brüssel wie ihre Westentasche oder, sagen wir, wie ihre Handtasche kennt. Und ein zyprischer Regierungschef hat dann mal gesagt: EU-Gipfel ist, wenn Frau Merkel diktiert und 25 mitschreiben. Und dann fragt man sich natürlich, wer sind denn die drei anderen, die da nicht mitschreiben?
Und das ist auch ganz klar, da schreibt natürlich der französische Staatspräsident nicht mit, da hat damals Herr Juncker nicht mitgeschrieben, der ja Mitbegründer des Euro ist und sehr lange Regierungschef in Luxemburg war, und dann hat auch Mario Monti damals nicht mitgeschrieben, der italienische Regierungschef. Aber ansonsten ist Frau Merkel wirklich unter den Staats- und Regierungschefs, die in Brüssel sitzen, diejenige, die die Strukturen von Europa und das Funktionieren von Europa wirklich bis ins Detail durchschaut und erklären kann.
Degenhardt: Europa ist eine Gemeinschaft der Gleichen, das ist jedenfalls das Ziel, da soll es hingehen. Aber nach dem, was ich bei Ihnen gelesen habe und was ich jetzt von Ihnen höre, sind wir von diesem Ziel doch noch ein ganzes Stück weit entfernt!
Gammelin: Es ist keineswegs so, dass jedes Land das gleiche Recht hat. Also, theoretisch wird immer einstimmig abgestimmt und jedes Land hat eine Stimme, aber in der Praxis ist es schon so, dass die großen Länder die Richtung vorgeben. Das war in der Krise vor allen Dingen Frau Merkel zusammen mit Herrn Sarkozy und es ist zu einem Wechsel gekommen, als Hollande eingezogen ist in den Elysée-Palast und dann nach Brüssel gekommen ist. Seither gibt es diese deutsch-französische Achse nur noch rudimentär und Herr Hollande hat versucht, zusammen mit Italien und auch Spanien eine Art Gegengewicht zu Deutschland aufzubauen, und das ist ihm in Teilen auch wirklich gelungen.
Die Bankenunion zum Beispiel, die zentrale Aufsicht über die Banken der Eurozone und auch die Möglichkeit, direkt auf Geld aus dem Euro-Rettungsfonds zuzugreifen, das geht alles auf Aktivitäten von Herrn Hollande und den Südländern zurück. Und da hat Merkel, am Ende war sie da kompromissbereit.
Wer wird Kommissionspräsident?
Degenhardt: Nun wählen wir – ich habe es eingangs erwähnt – am 25. Mai ein neues Parlament in Straßburg. Können wir, die Bürger, an den kritischen Verhältnissen, die Sie, Frau Gemmelin, in Ihrem Buch beschreiben, können wir an diesen kritischen Verhältnissen mit unserer Stimme wirklich etwas verändern?
Gammelin: Nun ist es ja dieses Jahr das erste Mal so, dass die großen Parteien mit Spitzenkandidaten in den Wahlkampf ziehen. Also, das ist eine komplizierte Angelegenheit. Vereinfacht kann man das so sagen, dass die großen Parteien, also die Christdemokraten, die Sozialdemokraten, die Liberalen und die Grünen jeweils einen Mann oder eine Frau oder die Grünen auch einen Mann und eine Frau aufgestellt haben und sagen, okay, wenn unsere Parteienfamilie die meisten Stimmen bekommt, dann wollen wir gerne, dass unser Kandidat auch Präsident der nächsten Kommission wird.
Es ist natürlich nie da gewesen, dieses Experiment, und man kann jetzt auch nicht sagen, wie es ausgehen wird. Man weiß nicht, wie die Kräfteverhältnisse sein werden, und es ist auch nicht ausgeschlossen, dass am Ende die Staats- und Regierungschefs sagen, okay, ihr habt zwar die Wahl gewonnen, aber wir finden, es sollte doch jemand anderes Kommissionspräsident werden. Also, ich denke, diese Lektion ist noch nicht zu Ende gedacht. Und auf jeden Fall haben die Bürgerinnen und Bürger dieses Jahr das erste Mal die Möglichkeit, zumindest theoretisch an der Wahl des Kommissionspräsidenten beteiligt zu werden.
Degenhardt: Also doch zumindest ansatzweise eine spannende Sache. Vielen Dank, Frau Gammelin, nach Brüssel! "Europas Strippenzieher", das Buch von Cerstin Gammelin und Raimund Löw ist im Egmont-Verlag erschienen, hat 384 Seiten und kostet 19,99 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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