Europas islamisches Erbe

Von Abdul-Ahmad Rashid · 12.03.2006
Wörter wie Zucker, Kaffee, Schal, Koffer oder Sofa stammen ursprünglich aus dem Arabischen. Auch die moderne Mathematik ist ohne arabische Wissenschaftler nicht denkbar, da sie in Europa die Null und das Rechnen mit Unbekannten eingeführt haben. Wie das Wissen um das reichaltige arabische Erbe in Europa helfen kann, Ängste gegenüber der islamischen Welt abzubauen, diskutierten Wissenschaftler auf einer Tagung im Rheinland.
Tetzlaff: "Dass da etwas ist in unserer Vorgeschichte, was auch gerade zur Entstehung von Europa dialektisch sozusagen beigetragen hat, das sollten wir wenigstens wissen, dass wir eine uralte Begegnung haben und dass nicht erst mit den Gastarbeitern, die hier nach Deutschland gekommen sind, das alles begonnen hat."

Rainer Tetzlaff, Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Hamburg und einer der Referenten der Tagung, reklamiert das mangelnde Geschichtsbewusstsein vieler Europäer in Hinsicht auf das Wissen um das islamische Erbe auf dem alten Kontinent. Dieses Wissen beschränke sich, so der Wissenschaftler, bei vielen Menschen nur auf die Tatsache,

"dass die arabisch-muslimische Welt die griechische Antike und die Werke durch Übersetzung gerettet hat gewissermaßen, und wir das dann später zurückübersetzt haben und dadurch ist es uns nicht verloren gegangen. Aber ansonsten, dass gerade auf diesem technischen Gebiet, wo die uns jetzt so unterlegen sind und alle Technik-Importe eigentlich aus anderen Ländern beziehen, dass sie auch dort eigentlich eine verschüttete Tradition haben und dass das für uns auch einmal zum Vorteil gereicht hat, ich glaube, das ist wirklich auch bei Gebildeten nicht bekannt."

Dabei werden wir in vielen Bereichen des täglichen Lebens ständig an unser islamisches Erbe erinnert. Alleine schon in der Sprache: Wörter wie Zucker, Kaffee, Schal, Koffer oder Sofa stammen ursprünglich aus dem Arabischen. Diese Liste ließe sich beliebig weiterführen, so der Islamwissenschaftler Andreas Ismail Mohr, der im Rahmen der Tagung zu dem Thema "Arabische Lehnworte in europäischen Sprachen" referiert hatte:

Mohr: " 'Douane' für den Zoll, das ist ein arabisches Wort, was aus dem Persischen 'diwan' kommt, ursprünglich 'Schreibstube' oder vielleicht 'Schreibbüro', und dann eben das Möbel, also eine Art Sofa, auf dem man sitzen oder liegen kann, und zweitens im Sinn von Gedichtssammlung."

Als der Islam nach seiner Entstehung auf der arabischen Halbinsel im siebten Jahrhundert seinen Siegeszug über die halbe Welt antrat, drangen die Muslime von Ägypten und Nordafrika kommend auch auf die iberische Halbinsel und Sizilien vor.

Dort etablierten sie innerhalb kurzer Zeit eine blühende Zivilisation, deren Kultur der europäischen zu jener Zeit weit überlegen war. Im Vordergrund stand vor allen Dingen die Pflege der Wissenschaften: In Städten wie Cordoba, Toledo, Granada und Sevilla entstanden Zentren, die nicht nur arabische Gelehrte, sondern auch kluge Köpfe aus der christlich-jüdischen Welt anzogen:

Mohr: "Es gab also ganz bestimmt auch Mitteleuropäer, natürlich umso mehr Spanier vielleicht oder Italiener, die in die islamischen Zentren gekommen sind, um dort zu studieren, um Arabisch zu lernen, um dann zum Beispiel auch Texte übersetzen zu können, und sehr viele Juden waren daran beteiligt. Juden waren ja sehr oft zweisprachig oder mehrsprachig. Also, sehr viele Juden haben zum Beispiel arabische Quellen ins Hebräische übersetzt, das damals also dann zunehmend auch eine Gelehrtensprache wurde, von Neuem, und später konnten dann oft Juden und manchmal auch christliche Gelehrte hebräische Texte ins Lateinische übersetzen."

In keinem Bereich wurde der Einfluss der arabischen Wissenschaften jedoch so deutlich wie in der Mathematik. Den Arabern haben die Europäer nicht nur die Einführung der Null zu verdanken, sondern auch die des Zeichens "x" für die Unbekannte: Lange vor Descartes – der häufig als der Erfinder der Unbekannten genannt wird – gebrauchten die Araber in Spanien das arabische Wort "schay" – wörtlich: eine Sache – für die Bezeichnung eines unbekannten Wertes.

Die Abkürzung "sch" wurde dann von den Spaniern wie "x" ausgesprochen – und für eine unbekannte Sache in Rechnungen übernommen. Für den Islamwissenschaftler Ulrich Rebstock liegt jedoch die größte Leistung der Araber auf dem Gebiet der europäischen Mathematik in der Einführung der Algebra:

Rebstock: "Diese Form … der besonderen Behandlung von Rechenoperationen durch Gegenüberstellung und Ausgleichung der Glieder und der Unbekannten und der Auflösung nach einem bestimmten Prinzip, das ist etwas, was als arabische Bereicherung der Mathematik wahrgenommen und rezipiert wurde."

Doch die Überlegenheit der Araber zeigte sich nicht nur auf dem Gebiet der Mathematik. Auch in den Bereichen der Astronomie, der Medizin und der Chemie, aber auch in der Musik und Architektur machten sie bahnbrechende Entdeckungen, deren Auswirkungen bis heute im kulturellen Erbe Europas präsent sind. Nachdem die letzten Araber dann nach 1492 durch die christliche Rückeroberung Spaniens aus Europa vertrieben worden waren, entwickelten sich später neue Beziehungen zwischen Muslimen und Christen in Europa:

Mohr: "In späterer Zeit, also etwa ab dem fünfzehnten Jahrhundert oder sechzehnten war dann eher auf dem Balkan ein sehr intensiver Kontakt, und der war im großen und ganzen zwar eher kriegerisch, aber es sind trotzdem auch viele Kulturprodukte herüber gekommen, also der Kaffee zum Beispiel. Der Kaffee ist in osmanischer Zeit nach Mitteleuropa gekommen, trotz oder vielleicht als Begleiterscheinung der Türkenkriege, die damals stattfanden."

Die Übernahme der Errungenschaften der arabischen Gelehrten hatte für die Entwicklung der Wissenschaften in Europa ungeahnte Ausmaße. Viele führende europäische Wissenschafter sollten noch Jahrhunderte später davon profitieren. Und in ihrer direkten Umsetzung beeinflussten sie auch die Entstehung der geistigen Strömungen der Reformation und der Aufklärung in Europa, so die Einschätzung vieler Experten. Für den Islamwissenschaftler Andreas Ismail Mohr resultiert daher aus der besseren Kenntnis des arabisch-muslimischen Erbes auch die Möglichkeit für ein harmonischeres Miteinander der Religionen in der heutigen Zeit:

Mohr: "Ich kann mir vorstellen, dass eine vermehrte Kenntnis der arabisch-islamischen Wurzeln oder überhaupt der islamischen Einflüsse auf Europa … vielleicht dazu beitragen könnte, den Islam oder die islamische Kultur doch eher positiv zu schätzen und nicht wie im Moment als eine böse Macht zu sehen, aus der Terrorismus oder Fanatismus kommt. So etwas mag es vielleicht zurzeit geben, aber es ist nicht das Vorherrschende und das war es auch nicht in der Vergangenheit. Wenn man in die Geschichte zurückblickt, hat man sehr oft den Eindruck, dass eher die islamische Welt zivilisiert war und Europa vielleicht barbarisch im Mittelalter."