Europäischer Trend zur Angleichung

Vorstellt von Andreas Möller · 29.04.2007
Europa ist bunt und vielfältig. Dennoch: Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Fall des Eisernen Vorhanges verschwinden die nationalen Charakteristika immer mehr. Hartmut Kaelble belegt in seiner "Sozialgeschichte Europas", dass sich die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebensformen immer stärker annähern.
Vierzig Jahre verlief durch Europa der Eiserne Vorhang. Er trennte die Europäer nicht nur politisch und wirtschaftlich, sondern führte auch zur Ausprägung unterschiedlicher sozialer und kultureller Merkmale.

Wohl kaum ein anderes Land hat dies deutlicher erfahren als Deutschland, in dem Wirtschaftswunder und "Generation Golf" auf der einen, Planwirtschaft und FDJ-Jugendkultur auf der anderen Seite zum Alltag der Menschen gehörten.

Vor diesem Hintergrund erscheint es ebenso lohnenswert wie ehrgeizig, eine Sozialgeschichte Europas schreiben zu wollen. Der Berliner Historiker Hartmut Kaelble hat sich dieser Aufgabe angenommen – und sie überzeugend gelöst. Dabei geht es Kaelble nicht darum, die europäische Geschichte um jeden Preis als die Entstehung einer Wertegemeinschaft zu deuten. Sein Anliegen ist es, den Wandel der sozialen Beziehungen nach 1945 in seinen Unterschieden und Berührungspunkten herauszuarbeiten. Und derer, so erfährt der Leser im Laufe des Buches, gibt es nicht wenige.

"Alle europäischen Gesellschaften wandelten sich seit 1945 tief greifend. Der Wandel bestand oft aus mehreren sozialen Veränderungen, die nacheinander auftraten. Was um 1970 als modern und endgültig angesehen wurde, konnte um 2000 schon wieder veraltet und vergangen sein."

Der Zeitraum, in dem das Buch einsetzt, erscheint plausibel. Denn mit dem Jahr 1945 veränderte sich nicht nur die europäische Landkarte, sondern auch das Selbstverständnis einstiger Großmächte wie Deutschland, England oder Frankreich, die einen Teil ihres Einflusses an die USA und an Russland abgeben mussten.
Diese Verschiebung hinterließ ihre Spuren im Alltag: So ist der Einfluss der amerikanischen Unterhaltungskultur überall im westlichen und spätestens seit 1990 auch im östlichen Europa nachweisbar.

"Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann für Europa eine neue Epoche: Es entstand ein neues politisches und wirtschaftliches internationales System; in diesem System war Europa nicht mehr das Zentrum der Welt."

Weniger unkritisch erscheint hingegen Kaelbles Europa-Begriff, der Russland und die Türkei lediglich korrespondierend mit einbezieht. Das Buch arbeitet dafür nicht erst Unterschiede und Gemeinsamkeiten heraus, um am Ende zu sagen, wer zu Europa zählt oder eben nicht. Es setzt seine Aussagen vielmehr mit einer Schnörkellosigkeit, die den Beobachter aktueller politischer Debatten zu diesem Thema überraschen mag. Daran kann man Anstoß nehmen. In jedem Fall weiß der Leser, woran er ist.

"Bis heute unterscheidet sich die Türkei in ihren Sozialstrukturen und Werten deutlich von Europa, stärker sogar als Russland. Es erschiene deshalb künstlich, die Türkei einfach Europa zuzuschlagen, nur weil sie sich in den kommenden Jahrzehnten stärker an Europa anpassen möchte, um der EU beitreten zu können."

Durch die schnelle Klärung seiner Koordinaten schafft sich Kaelble den nötigen Freiraum für seinen eigentlichen Untersuchungsgegenstand – und der hat es hinsichtlich seiner Komplexität in sich.

So besteht eine Leistung des Buches bereits darin, einen Bereich abzudecken, der vielschichtiger kaum sein könnte. Von der Migration bis zur gesellschaftlichen Rolle der Medien: Kaelble lässt kaum einen Aspekt der Sozialgeschichte unbeachtet. Sein Buch geht dabei nicht chronologisch vor, sondern ist in drei Themenblöcke eingeteilt, die sich den "Sozialen Grundkonstellationen", den "Sozialen Hierarchien und Ungleichheiten" sowie der Rolle von "Gesellschaft und Staat" widmen.

Unter den "Grundkonstellationen" geht Kaelble zunächst der Entwicklung der Arbeit und der Familie nach, die er mit Querverweisen zu Japan und den USA ergänzt. Hierbei kann er zeigen, wie sich ungeachtet der verschiedenen historischen Ausgangsbedingungen der europäischen Länder ganz ähnliche Entwicklungen im Familienbereich durchsetzen.

Die Liberalisierung der Ehe in Skandinavien in den 1960er Jahren war somit keine Antwort auf die Rückkehr zum traditionellen Familienbild in den 1950er Jahren, wie sie für Deutschland zu konstatieren ist, sondern eine davon losgelöste Entwicklung.

"Die Liberalisierung der familiären Erziehung und des Sexuallebens Jugendlicher und junger Erwachsener gehörte zwar überall in Westeuropa zu den zentralen Forderungen dieser Bewegung. Aber das Familienleben veränderte sich gleichzeitig, nicht später: Die Scheidungsraten nahmen in fast allen europäischen Ländern wieder zu. Die außerehelichen Geburten stiegen."

Im zweiten Teil des Buches behandelt Kaelble die sozialen Milieus, eines der klassischen Themen der Sozialgeschichte. Scharfsinnig beleuchtet er dabei, was der 2002 verstorbene französische Soziologe Pierre Bourdieu die "feinen Unterschiede" nannte: nämlich die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen, ihre Erkennungszeichen und Codes.

Hochaktuell ist im Zeitalter der Low Cost Carrierer und der Entvölkerung vieler ländlicher Regionen, dass Kaelble auch die Mobilität als Ausdruck sozialer Teilhabe begreift, die häufig allein unter dem Gesichtspunkt der Wettbewerbsfähigkeit von Wirtschaftsstandorten diskutiert wird. So gehört es zu den Merkmalen eines ungleich verteilten Reichtums von Lissabon bis Bukarest, dass die wirtschaftlich schwächer Gestellten in den räumlichen Wahlmöglichkeiten ihrer sozialen und beruflichen Partizipation eingeschränkt sind.

"Theoretisch kann man argumentieren, dass soziale Ungleichheit und soziale Mobilitätschancen gegensätzliche Optionen sind. […] Diese zwei gegensätzlichen Optionen werden aber in der Forschung zur europäischen Geschichte nur sehr selten zusammen untersucht."

Kaelbles Buch ist dennoch alles andere als eine düstere Sozialkritik. Es zeigt, dass sich trotz der Verlagerung der sozialen Unterschiede in andere, weniger offensichtliche Bereiche das Alltagsleben in den meisten europäischen Ländern seit 1945 zum Besseren entwickelte. So sind überall auf dem Kontinent nicht nur die Lebenserwartung und die medizinische Versorgung gestiegen. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land, der noch vor wenigen Jahrzehnten einen drastischen Unterschied darstellte, hat sich weitgehend nivelliert. Als weitere verbindende Merkmale können auch die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen oder die Säkularisierung angesehen werden.

All das trägt Kaelble in einem Überblickswerk zusammen, das konzeptionell durch seine klare, wohl überlegte Struktur sowie die unprätentiöse Sprache des Autors besticht. Auch wenn der Sozialgeschichte die "separate Identität" abhanden gekommen sein mag, wie mit Jürgen Kocka ein anderer wichtiger Sozialhistoriker unlängst bemerkte: Hartmut Kaelble hat ein beeindruckendes Buch geschrieben, das die Geschichte der europäischen Integration jenseits der großen Gesten der Politik erzählt.

Hartmut Kaelble: Sozialgeschichte Europas - 1945 bis zur Gegenwart
C. H. Beck Verlag, München 2007

Vorstellt von Andreas Möller