Europa zwischen 1943 und 1950

Anarchie und Düsternis

Ein deutscher Kriegsgefangener auf dem Marsch in die russische Kriegsgefangenschaft.
Ein deutscher Gefangener auf dem Marsch in die russische Kriegsgefangenschaft © picture alliance / Foto: dpa
Von Ernst Piper · 13.12.2014
Racheakte, Todesmärsche, Vergewaltigungen. Die Schrecken gingen auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges vielerorts weiter. Der britische Historiker Keith Lowe beschreibt in "Der wilde Kontinent", in welchem verrohten Zustand sich Europa nach dem Krieg befand.
Am 8. Mai 1945 war der Zweite Weltkrieg in Europa nach sechs schrecklich langen Jahren endlich zu Ende. Von den etwa 65 Millionen militärischen und zivilen Todesopfern, die dieser Krieg gefordert hatte, waren mehr als die Hälfte in Europa umgekommen.
Man könnte denken, dass angesichts all der namenlosen Schrecknisse die Überlebenden froh waren, mit dem Leben davon gekommen zu sein, froh, dass Krieg und Unfreiheit überwunden waren, und sich erschöpft vom jahrelangen Morden der Neuordnung ihrer Lebensverhältnisse widmeten.
Und doch kamen auch in den ersten Nachkriegsjahren Millionen von Menschen gewaltsam zu Tode.
Die Infrastruktur war in weiten Teilen Europas zerstört. Es fehlte an Transport- und Versorgungsmöglichkeiten, an Wohnraum und Nahrungsmitteln, an funktionierenden Verwaltungen. Es fehlte an anerkannten und durchsetzungsfähigen Autoritäten, an Polizeikräften und einer ordentlichen Gerichtsbarkeit.
Und vielfach fehlte es auch an dem Willen, dem Töten Einhalt zu gebieten. Diebstahl und Raub, Vergewaltigung und Mord, Racheakte und Pogrome waren an der Tagesordnung.
Griechen kämpften gegen Bulgaren, Serben gegen Kroaten
Ethnische Konflikte brachen mit aller Schärfe auf, Griechen kämpften gegen Bulgaren, Serben gegen Kroaten, Rumänen gegen Ungarn und Polen gegen Ukrainer, wobei nicht selten ganze Dorfgemeinschaften ausgerottet oder vertrieben wurden. Die größte ethnisch motivierte Umsiedlung betraf die Deutschen. Etwa 14 Millionen Deutsche wurden aus ihrer Heimat vertrieben, von denen nicht viel weniger als zwei Millionen dabei umkamen.
Vielerorts waren Juden weiterhin antisemitischer Verfolgung ausgesetzt. Berühmt ist das Pogrom in Kielce, bei dem am 4. Juli 1946 mehr als 40 Juden von ihren polnischen Nachbarn ermordet wurden. In Frankreich wurden Tausende von Kollaborateuren von ihren Landsleuten getötet, in Italien zahllose Repräsentanten des gestürzten faschistischen Regimes.
Cover-Lesart: Keith Lowe "Der wilde Kontinent"
Cover - Keith Lowe: "Der wilde Kontinent"© Verlag Klett-Cotta Stuttgart
Etwa zwei Millionen deutsche Frauen wurden von Rotarmisten vergewaltigt und mehr als Hunderttausend von ihnen bestialisch ermordet.
Von den mehr als elf Millionen deutschen Kriegsgefangenen kamen mehr als eine Million um, die meisten von ihnen in Russland. Dort dauerte die Gefangenschaft viel länger als in den anderen Ländern und die Lebensumstände waren extrem schwierig, aber das erklärt die hohe Sterberate von über 35 Prozent nur zum kleineren Teil. Keith Lowe bemerkt dazu:
"Der Hauptgrund dafür, dass so viele deutsche Soldaten in sowjetischer Gefangenschaft starben, liegt darin, dass es praktisch niemanden, der sie betreute, interessierte, ob sie lebendig oder tot waren."
Ein in Trümmern liegender Kontinent
Der britische Autor entwirft das düstere Bild eines in Trümmern liegenden Kontinents, beleuchtet alle Seiten und beschönigt nichts, verfährt allenfalls bisweilen etwas zu relativierend.
"In Wahrheit hat der moralische Sumpf, den der Krieg erzeugte, niemanden verschont. Alle Nationalitäten und alle politischen Richtungen waren – selbstverständlich in sehr unterschiedlichem Maße – sowohl Opfer als auch Täter zugleich."
Die – zu verurteilenden, aber andererseits allzu verständlichen – Racheakte befreiter KZ-Insassen an ihren Peinigern, die einige Tausend Menschen das Leben gekostet haben, muss man schon sehr deutlich abheben von dem industriell organisierten Massenmord an sechs Millionen Juden in den Jahren zuvor.
Schwerer wiegt, dass der Autor den Leser mit dem Schreckensgemälde weitgehend allein lässt. Er berichtet und beschreibt, aber ordnet nicht ein. Die Düsternis wird noch dadurch intensiviert, dass er all jene Länder, die am Krieg nicht teilnahmen, wie z.B. Portugal, Spanien oder die Türkei, völlig unerwähnt lässt, ebenso jene, in denen es nach 1945 nicht zur Anarchie kam, wie Skandinavien und Finnland.
Kritisch ist anzumerken, dass das Buch hölzern und ungelenk übersetzt ist. Aber wer sich ein Bild machen will von den schwierigen Jahren des Umbruchs zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der Zeit des Kalten Krieges, als Europa sich in zwei Machtblöcke neu geordnet hatte, wird Keith Lowes Buch mit Gewinn zur Hand nehmen.

Keith Lowe: Der wilde Kontinent. Europa in den Jahren der Anarchie 1943–1950
Aus dem Englischen von Stephan Gebauer und Thorsten Schmidt
Verlag Klett-Cotta Stuttgart, 22. November 2014
526 Seiten, 26,95 Euro, auch als ebook

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