Europa im Umbruch

Britische Juden beantragen deutsche Staatsbürgerschaft

Stolperstein für Rachela Geppert vor ihrem Haus in der Kölner Fleischmengergasse: Die Jüdin wurde 1942 im Konzentrationslager Chelmno umgebracht.
Stolperstein für Rachela Geppert vor ihrem Haus in der Kölner Fleischmengergasse: Die Jüdin wurde 1942 im Konzentrationslager Chelmno umgebracht. © Deutschlandradio / Friedbert Meurer
Von Friedbert Meurer · 07.09.2016
Die Großeltern flüchteten vor den Nazis auf die Insel. Die Enkel wollen zurück nach Köln oder Berlin. Weil Großbritannien die EU verlassen will, wird die deutsche Staatsbürgerschaft für manche britische Juden zur attraktiven Option.
Ein Büro mitten im Nord-Londoner Stadtteil Finchley. Ein Dutzend Mitarbeiterinnen der Association of Jewish Refugees, der Vereinigung jüdischer Flüchtlinge, bearbeiten an ihren PC-Bildschirmen Anträge britischer Juden auf Opferrenten und andere Hilfen.
Der Vorsitzende der Vereinigung heißt Michael Newman und begrüßt mich in seinem Zimmer nebenan. Er wirkt jung, Ende 30, leicht rötlich gewelltes Haar. Newman will die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen - wegen des bevorstehenden Brexit.
"Auf die Idee kam ich am Morgen danach, am 24. Juni, also sofort nach dem Referendum. Die deutsche Staatsbürgerschaft neben der britischen ist für mich eine Option, eine Versicherung. Ich könnte innerhalb der EU weiter leben und arbeiten wie ich will. Das ist nichts, was ich heute oder in drei Monaten tun will, aber ich könnte es jederzeit tun."
Ebenfalls am Morgen des 24. Juni traf die E-Mail einer britischen Jüdin bei ihm ein, die auch nach diesem Gesetz fragt und den deutschen Pass beantragen will. Weitere Anfragen folgten. Newman nahm Kontakt mit der deutschen Botschaft in London auf und ließ sich Informationen zukommen, wie man nach Artikel 116 Grundgesetz als Nachfahre politisch NS-Verfolgter Deutscher werden kann – wieder werden kann.
"Wenn alles normal verlaufen wäre, dann wäre ich in Deutschland geboren worden - oder mein Vater. Das Gesetz versucht nur zurückzugeben, wie es eigentlich hätte sein sollen."

"Einige Briten mögen EU-Ausländer nicht"

Newmans Großmutter lebte bis 1939 in Köln, als 27-Jährige beantragte die deutsche Jüdin die Ausreise nach Großbritannien. Am 31. August 1939, einen Tag vor Kriegsbeginn, kam sie in Southampton mit dem Schiff an.
Eltern und Bruder blieben in Köln zurück und wurden von den Nazis umgebracht. In der Kölner Altstadt ist eine Bronze-Plakette für die Eltern in den Boden gelassen, ein sogenannter "Stolperstein" des NS-Dokumentationszentrums Köln. Newman zeigt mir ein Bild des Erinnerungssteins auf seinem Computer.
"Rachela Geppert, das ist meine Urgroßmutter, geboren 1988, deportiert 1941. Sie musste dann das Ghetto in Lodz verlassen und wurde 1942 im Konzentrationslager Chelmno umgebracht."
Michael Newman sagt nicht, dass der Brexit eine Bedrohung für Juden sei – aber es gebe leider mehr Fremdenhass in Großbritannien.
"Es gibt absolute keine Verbindung zwischen dem Brexit und der Lage der Juden in Großbritannien. Aber es gibt jetzt Übergriffe, zum Beispiel auf Polen. Einige Briten mögen EU-Ausländer nicht. Das ist wirklich eine schrecklich garstige Sache, die da entstanden ist."
Michael Newman, der Vorsitzende der "Association for Jewish Refugees" in London: Seine Mutter kam mit 27 Jahren nach Großbritannien.
Michael Newman, der Vorsitzende der "Association for Jewish Refugees" in London: Seine Mutter kam mit 27 Jahren nach Großbritannien.© Deutschlandradio / Friedbert Meurer
Wie Michael Newman geht es auch Thomas Harding, er wohnt eine Stunde außerhalb Londons in einem kleinen Ort namens Steep, in sehr ländlicher Umgebung. Der Journalist und Schriftsteller ist der Urenkel des deutschen jüdischen Arztes Alfred Alexander.

"Ein tiefes Gefühl von Verlust"

Thomas Harding hilft, das einst verfallene Haus des Vorfahren in Potsdam in ein Begegnungszentrum für junge Menschen umzugestalten.
"Ich blieb beim Brexit die ganze Nacht auf, bis das Ergebnis um fünf Uhr morgens da war. Ich hatte ein tiefes Gefühl von Verlust und dass da ein schwerer Fehler begangen wurde. Und instinktiv fiel mir ein: Ich habe doch davon gehört, dass man als Nachfahre verfolgter jüdischer Flüchtlinge die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen kann. Vielleicht kann ich sie wieder beantragen."
Auch Harding hat nicht unmittelbar vor, tatsächlich nach Deutschland auszuwandern. Aber als seine Familie in den 30er Jahren in Großbritannien ankam, seien sie als Fremde bezeichnet worden. Jetzt fühle er sich umgekehrt mit dem Brexit selbst etwas fremd im Land. Auch Harding hat zwei Motive: Er will weiter als EU-Bürger reisen und arbeiten können, wo er will. Und zweitens gibt es da diese Verbundenheit mit dem Land der Vorfahren, mit Deutschland.
"Ich fühle mich als Europäer, schon immer. Aber am wichtigsten war ein wachsendes Gefühl in den letzten drei oder vier Jahren, dass meine Heimat auch Deutschland ist."
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