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Vor Griechenland-Abstimmung
"Die Bevölkerung ist mit Referenden viel glücklicher"

Der Schweizer Politikwissenschaftler Daniel Bochsler hält das bevorstehende Referendum in Griechenland grundsätzlich für richtig. Auch jemand, der nicht jedes Detail zu den Reformvorlagen aus Brüssel studiert habe, könne eine fundierte Meinung haben, sagte Bochsler von der Universität Zürich im DLF.

Daniel Bochsler im Gespräch mit Mario Dobovisek | 03.07.2015
    Ein Plakat in Athen wirbt für ein "Nein" beim Referendum über das Reformpaket der Geldgeber.
    Ein Plakat in Athen wirbt für ein "Nein" beim Referendum über das Reformpaket der Geldgeber. Es zeigt ein Bild von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble und hat die Aufschrift "Er saugt seit fünf Jahren eurer Blut. Sagt ihm jetzt Nein". (picture alliance / EPA / Orestis Panagiotou)
    Bochsler sagte, die Demokratie werde immer komplexer. Wenn man wollte, dass die Bevölkerung stets sogar das kleinste Detail nachvollziehen kann, ehe es darüber abstimmt, könnte man die Demokratie gleich ganz abschaffen und die Entscheidungen an Fachleute abgeben. Bochsler betonte, Volksabstimmungen böten die Möglichkeit, dass die Regierung Macht an andere Gruppen delegiere. Das führe zu einer pluralistischeren Politik.
    Zugleich sei die Bevölkerung viel glücklicher, wenn Sie über Referenden verfüge und mitentscheiden dürfe. Die Bürger tragen das Ergebnis des Referendums laut Bochsler eher mit, wenn sie selbst darüber abgestimmt haben.
    Die Schwierigkeit an dem Referendum in Griechenland sei, dass die Griechen über Ja oder Nein abstimmen könnten, es aber anschließend ohnehin neue Verhandlungen geben werde. Das Ergebnis von diesen sei dann überhaupt nicht absehbar.

    Das Interview in voller Länge:
    Mario Dobovisek: Am Telefon in der Schweiz begrüße ich Daniel Bochsler, Politikwissenschaftler an der Universität Zürich am Zentrum für Demokratie Aarau. Wir hören es: es gibt Klagen gegen das Referendum in Griechenland. Auch der Europarat kritisiert die Kurzfristigkeit. Verstößt das Referendum gegen Regeln?
    Daniel Bochsler: Ich muss ehrlich gestehen, ich kenne die genauen Regeln der griechischen Referenden nicht. Ich denke, ganz sicherlich werden die Leute in der lokalen Wahlkommission Tsipras verwünscht haben. Aber ich sehe eigentlich auch große Vorteile darin, das Referendum so kurzfristig anzusetzen.
    Dobovisek: Das ist aber genau das, was der Europarat kritisiert, und er beruft sich da auf internationale Regeln. Was können Sie uns darüber sagen?
    Bochsler: Der Europarat, der sagt natürlich, das ist zu kurz, um eine quasi echte Debatte zu haben, um die Vorschläge, die jetzt auf dem Tisch liegen, auch diskutieren zu können. Die Griechen antworten zurück, dass die Debatte ja schon seit Monaten läuft, dass dies das politische Gespräch ist. An einer Diskussion fehlt es also sicher nicht in Griechenland. Die Leute konnten sich lange damit auseinandersetzen, was die Troika von Griechenland wünscht und ob sie diese Bedingungen akzeptieren möchten. Aber es ist jetzt sicherlich zu spät, um mit teuren Kampagnen das Meinungsbild ändern zu wollen, und das ist auch ganz gut so.
    "Ich verstehe häufig auch als Professor die Fragestellung nicht"
    Dobovisek: Die Fragestellung ist extrem kompliziert. Wir haben es gerade noch mal ausführlich gehört. Die Dokumente dazu müssen im Internet gesucht werden. Ist das zu unklar für die Wähler?
    Bochsler: Schauen Sie, ich verstehe, wenn ich in der Schweiz über eine Vorlage abstimme, die etwas komplexer ist, häufig auch als Professor der Politikwissenschaft die Fragestellung nicht.
    Dobovisek: Aber ist das gut?
    Bochsler: Nein, es ist nicht gut. Es ist besser, wenn wir klarere Fragestellungen haben, die helfen, eine Frage zu beantworten. Aber schauen Sie einerseits: Die Demokratie wird immer komplexer. Wir müssen über komplexe ökonomische Fragestellungen abstimmen, die man gar nicht verstehen kann, wenn man nicht ein ausgekochter Experte ist auf einem Gebiet. Und wenn Sie möchten, dass wir immer in der Demokratie jedes kleinste Detail auch nachvollziehen können, dann müssen wir die Demokratie als solches gleich ganz abschaffen und die Entscheidfindungen an die Experten delegieren. Was wir wissen aus der Abstimmungsforschung ist, dass die Information auch bei komplexen Fragen meistens ganz gut funktioniert, etwa auch bei Währungs- oder Steuerfragen, weil es findet ja eine Debatte statt und da können die Stimmen ganz gut ausloten, welche Argumente auf welcher Seite stehen. Die Parteien helfen ihnen auch, quasi sich selber da zu verorten in dieser Frage. Und damit kann auch jemand, der jetzt nicht jedes Detail der Vorschläge der Troika studiert und verstanden hat, trotzdem eine sehr fundierte Meinung haben, welches mögliche Konsequenzen sein könnten.
    Dobovisek: Schlägt dann die Stunde der Populisten, die auf Wählerfang gehen?
    Bochsler: In der Politik haben Sie immer auch Emotionen, die im Spiel sind. Das ist natürlich auch so, dass in diesem Fall auch Emotionen dabei sein werden. Aber wer definiert denn, dass die Politik nur aus rationalem Sachverstand und Buchhalterei bestehen soll?
    "Regierung muss sich stärker an die öffentliche Meinung halten"
    Dobovisek: Vor Referenden schlägt also die Stunde der Populisten, die mit einfachen Thesen die Wähler versuchen. Blicken wir mal in Ihr Land, blicken wir in die Schweiz. Es wird eng in unserem Land, skandierte zum Beispiel die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei vor gut einem Jahr. Sie beklagte Massenzuwanderung aus der EU und unproduktive Ausländer. Am Ende stand eine Beschränkung des Zuzugs von Ausländern per Referendum. Eine Überraschung war das damals. Wie gefährlich ist dieser Populismus für die Regierenden?
    Bochsler: Es ist natürlich schon so, dass wenn Sie in einem Land viele Referenden haben, wenn Sachentscheide überhaupt möglich sind, und ich denke hier vor allem, wenn es Mechanismen gibt, die auch nicht wie jetzt im Fall Griechenlands, wo die Regierung das Referendum angekündigt hat, sondern auch Leuten außerhalb der politischen Macht ermöglichen, Sachfragen zur Abstimmung zu bringen, dass damit ganz viel Macht von der Regierung zu anderen Gruppen delegiert wird, dass wir eine pluralistischere Politik haben und dass die Regierung sich stärker an die öffentliche Meinung halten muss.
    Dobovisek: Sie sagen, wenn es viele Referenden gibt, also genügend Übung, wie zum Beispiel in der Schweiz - das letzte Referendum in Griechenland ist jetzt über 40 Jahre her, 1974 war das. Brauchen die Griechen mehr Übung, um tatsächlich gut abstimmen zu können?
    Bochsler: Das ist natürlich von Vorteil, wenn es mehr Übung gibt. Aber Referenden haben Vor- und Nachteile. Ob das nur Vorteile mit sich bringt, ist die andere Frage.
    Dobovisek: Wie würden Sie die Frage beantworten?
    Referenden machen glücklich, Referenden sind gefährlich
    Bochsler: Schauen Sie, die Bevölkerung ist viel glücklicher, wenn sie über Referenden verfügt, wenn sie direkt in Sachentscheiden mitwirken kann. Sie denkt, dass sie politisch viel stärker wahrgenommen wird, dass man mehr zu sagen hat, dass die Politik auch durch die Bürgerinnen und Bürger selbst bestimmt wird. Und dadurch halten sich dann die Leute auch eher an das, was sie tatsächlich beschlossen haben, als wenn das ein gewähltes Parlament beschlossen hat. Andererseits ist das natürlich ein gefährliches Instrument, so ein Referendum, etwa für gesellschaftliche Minderheiten, die sich kaum wehren können, wenn die Mehrheit über sie richtet. Daher denke ich, es gibt Vor-, es gibt Nachteile. Dessen muss man sich bewusst sein, wenn man Referenden einführen möchte.
    Dobovisek: Deshalb sagen Kritiker, dass derart entscheidende Fragen wie die Mitgliedschaft in der Europäischen Union - auch da hat die Schweiz ja Erfahrung - oder in der Eurozone nicht dem Volk überlassen werden dürfen. Welche Grenzen hat direkte Demokratie?
    Bochsler: Das finde ich ein schwieriges Argument, wenn man sagt, allzu grundlegende Entscheide sollte man aus der direkten Demokratie heraushalten. Weil dann praktizieren wir in der direkten Demokratie nur quasi ein Scheintheater für irgendwelche untergeordneten Fragestellungen. Natürlich gibt es komplexe Fragen, die wir eigentlich in der Konsequenz Ihres Argumentes, was Sie eben zitiert haben, dann nicht nur aus der direkten Demokratie heraushalten sollen würden, sondern ganz aus der Demokratie herausnehmen, wenn wir das den Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr zumuten wollen. Aber damit können wir die Demokratie ganz abschaffen.
    Gesamteuropäische Volksentscheide
    Dobovisek: Sollte Europa mehr direkte Demokratie wagen?
    Bochsler: Jein. Die Frage ist nicht unbedingt, ob es mehr direkte Demokratie wagen sollte, sondern wie. So wie heute die Referenden organisiert sind - das trifft jetzt auch für das griechische Referendum zu. Wir hatten früher Entscheide, etwa die Entscheide zur EU-Verfassung 2005 in Frankreich und in den Niederlanden, wo jeweils einzelne Nationalstaaten über Sachvorlagen abstimmen, und dann ist die Zustimmung letztlich quasi aller EU-Länder notwendig für eine bestimmte Maßnahme, für ein Paket. Wenn das die Demokratie ist, wo quasi jedes Land einzeln abstimmt, dann haben wir das Problem, dass wir niemals 28 Meinungen quasi unisono hinter eine Vorlage bringen können. Und dann kommt nachher wieder ein Verhandlungsprozess, wie wir ja gesehen haben. Das ist ja auch die Schwierigkeit jetzt der griechischen Referendumsvorlage. Die Griechinnen und die Griechen, die können über ein Ja oder über ein Nein abstimmen, aber nachher kommen ohnehin wieder neue Verhandlungen. Deswegen ist es gar nicht absehbar, was genau das Ergebnis sein wird. Wenn Europa ernsthaft mehr Sachentscheide haben möchte, dann muss man darüber nachdenken, wie man tatsächlich ganzeuropäische Volksabstimmungen durchführt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.