EU-Wahl in Ungarn

Wut auf die Brüsseler Bürokratie

24:10 Minuten
Demonstranten schwenken ungarische und europäische Fahnen.
Europa ist in Ungarn Freund und Feind: Am 1. Mai schwenken Demonstranten in Budapest ungarische und europäische Fahnen. © AFP
Von Ruslan Amirov · 02.05.2019
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Groß ist in Ungarn die Kritik an der EU: Ihre Gegner und Befürworter sind sich einig, dass sich im Bürokratieapparat Brüssel etwas ändern muss. Die politische Alltagsrhetorik im Land erinnert vor der Europawahl stark an Ostblockzeiten.
Es ist ein graues Hochhaus mit hellbraunen Balkongeländern aus Kunststoff. Ganz unten befindet sich hier, im zweiten Bezirk von Budapest, das Café Bambi. Die 25-jährige Réka Béndek sitzt gerne auf der mit steinernen Blumentrögen abgegrenzten Terrasse in diesem sowjetischen Zweckbau und genießt den minimalistischen Charme von damals.

Im Podcast der Weltzeit hören Sie die Sicht weiterer Länder auf die EU-Wahlen: Zum Beispiel, wie in Polen über eine "Achse der osteuropäischen Willigen" diskutiert wird.

Auch die politische Alltagsrhetorik in Ungarn erinnert gerade jetzt, vor der Wahl des EU-Parlaments, stark an Ostblockzeiten. Brüssel? Das sei doch so wie früher Moskau. Tausende Kilometer von der Heimat entfernt, säßen elitäre Politiker, die den Ungarn vorschreiben würde, was diese zu tun und zu lassen hätten. Bis vor Kurzem warnte die ungarische Regierung ihre Bürger in einer Werbekampagne sogar vor den wahren Plänen der Politiker aus Brüssel, die eine Migranteninvasion nach Ungarn unterstützen würden.
Der überzeugten Europäerin Réka Béndek gefällt dieser Umgang mit der EU überhaupt nicht.
"Meiner Meinung nach ist es skandalös, es ist so respektlos. Sogar wenn ich verstehe, warum sie meinen, unser Land beschützen zu müssen oder was auch immer, erlauben sie sich zu viel. Und dann noch die Propaganda gegen die EU, es ist wirklich schwer, irgendwie nett darüber zu sprechen."

Keine Liebesbeziehung mit Brüssel

In ihrem Heimatland sieht die studierte Psychologin und Sozialarbeiterin aktuell keine Zukunft für sich. Zusammen mit ihrem italienischen Freund Andrea, den sie während ihres Studiums über ein Erasmus-Austauschprogramm kennengelernt hat, zieht sie deswegen bald nach Barcelona. Neues Land, neues Glück. Réka Béndek weiß, dass dieser Schritt nur dank der EU so einfach möglich ist. Eine grenzenlose Liebesbeziehung zu Brüssel hat sie deswegen aber auch nicht. Dass sich das Ganze eher wie eine trockene Vernunftbeziehung anfühlt, liegt aus ihrer Sicht vor allem daran, dass der Partner oft zu emotionslos rüberkommt.
"Ich habe den Eindruck, dass es dort soviel Bürokratie gibt, dass manchmal die wichtigsten Punkte einfach verloren gehen. So, dass die Werte, welche die EU repräsentiert, auf diesem Weg global keinen großen Einfluss haben können."
Junge Frau im Halbprofil auf der Straße
Überzeugte Europäerin Réka Béndek - aber eine Liebesbeziehung ist es nicht.© Ruslan Amirov
Dabei wünscht Réka sich eigentlich eine Europäische Union, die aufsteht und weltweit für ihre Werte kämpft und aufhört, sich von Mitgliedsstaaten rumschubsen zu lassen. Bei der Frage, was sie der EU denn gerne ins Gesicht sagen würde, wird sie dann deutlich.
"Irgendwie musst du aufstehen und dein Zeug gebacken bekommen, du darfst es dir einfach nicht erlauben auseinanderzufallen."

Roma: Freude und Wut auf die EU

Bei Lászlo Bogdán, dem Bürgermeister der ungarischen Gemeinde Cserdi, ist die Liebe zu Europa und vor allem zur EU, nicht ganz so groß. Cserdi, das ist ein 400-Seelen-Ort, im Süden Ungarns, Richtung kroatische Grenze. Der 44-jährige Bogdán, ein großer Mann mit schwarzen Haaren, Dreitagebart und braungebrannt, ist wie die meisten Bewohner hier Roma. Vieles von dem, was die Dorfgemeinschaft heute besitzt, wie ein riesiges Gewächshaus, ein neues Gemeindehaus oder ein roter VW-Bus, hat Bogdán aus EU-Geldern finanziert. Trotzdem ist Bogdán wütend auf die EU.
"Die Lage der Zigeuner in Europa ist heute so, dass sich niemand um sie kümmert. Ich glaube nicht mehr daran, dass die Union, dass Europa sich wirklich für diese Frage interessiert. Egal wo ich in Europa hingehe, bekomme ich mit, dass alle die Zigeunerfrage von sich wegschieben. Einwanderer werden jetzt priorisiert. Das ist auch überhaupt kein Problem, aber eins dürfen wir trotzdem nicht vergessen: Wir leben seit 600 bis 800 Jahren hier. Wir haben es niemals so weit geschafft. Damit möchte ich nicht sagen, dass wir Zigeuner fehlerfrei oder problemlos sind, aber das Geld ist nicht bei uns. Wir haben kein Geld und keine Macht."
Mann nach vorn gelehnt in seinem Büro
Lászlo Bogdán, Roma und Bürgermeister der ungarischen Gemeinde Cserdi© Ruslan Amirov
Über zehn Millionen Roma leben in Europa. Viele von ihnen in Osteuropa. 2011 hat die EU, während Ungarn die Ratspräsidentschaft innehatte, ein Strategiepapier beschlossen, das die Situation der größten Minderheit in Europa verbessern soll.
"Das Einzige, was sich in den letzten 30, 50, 100, 200 Jahren geändert hat, ist, dass Zigeuner jetzt auf Facebook sind und dass sie iPhones haben. Wenn es um die Bewertung und die Verallgemeinerung geht, hat sich gar nichts geändert. Es gibt vielleicht nur Dutzende oder einige Hunderte von uns, die ein Diplom haben. Insgesamt liegt der Anteil an Hochschulbildung bei den Roma bei einem Prozent."
Es wirkt beinahe so, als ob die EU diesen stolzen Mann persönlich verletzt hätte. Denn die EU, das hätte mal der große Held sein können, der die Roma in Europa rettet, nicht nur finanziell, sondern vor allem menschlich, aber in Brüssel, wo Bogdán schon öfter war, geht es aus seiner Sicht nur um Paragrafen und Geld. Dass die Europawahl daran etwas ändern wird, glaubt Lászlo Bogdán nicht.

Unternehmen profitieren nicht von der EU

Brüssel und das große Geld, so sieht das auch Tamás Janicsek. Der studierte Diplom-Ökonom hat Anfang der 1990er seine Firma JPH Trading gegründet und vertreibt seitdem Metallbauteile für die Industrie. In jeder Ecke seiner Arbeits- und Lagerhallen in Nagykovásci, nordwestlich von Budapest, wird also geschweißt, geschliffen und geschraubt. Dass die Firma des heute 60-jährigen Janicsek mal größer wird als die 35 Mitarbeiter, die er jetzt hat, hält er für schwierig. Die Konkurrenz sei einfach zu groß.
"Zurzeit hat Ungarn sehr wenig in den Händen. Keine Firmen, keine Banken, keine Versicherungen, keine guten Brands. Wir arbeiten hier für Fremdfirmen und sie sehen ganz genau, bis wann sie runtergehen können oder hochgehen, und sie finden immer die Grenze, bis wir noch arbeiten und sie versuchen das auszunutzen."
Mann in roter Jacke steht mitten in seinem Betrieb
Der Unternehmer Tamás Janicsek hält die Flüchtlingspolitik der ungarischen Regierung für richtig.© Ruslan Amirov
Schaut man auf die größten Unternehmen hier, so scheint er Recht zu haben. Audi, E.ON, Samsung, Phillips, General Electric, Nokia und viele weitere ausländische Firmen sind die Big Player auf dem ungarischen Markt. Brüssel, so Janicsek, mache es ihnen dabei einfach.
"Die EU hat die ganzen juristischen Grenzen diesbezüglich aufgebaut. Also wenn hier Kapital kommen möchte, dann ist das rechtlich absolut zugesichert, garantiert."
Selbstverständlich hätte auch er Vorteile dank der offenen Grenzen. So kann Janicsek seine Waren deutlich günstiger und schneller an seine Kunden in Europa verkaufen und liefern. Vom EU-Beitritt Ungarns hätten primär aber die großen Firmen aus den westlichen Ländern profitiert, gerade wenn es um Fachkräfte geht.
"Für mich ist das keine gute Lösung, dass ein reiches Land gute, qualifizierte, gebildete Leute von einem anderen Land nimmt, um die wirtschaftlichen, finanziellen und Arbeitsprobleme zu lösen. Genauso sehe ich die Situation mit den sogenannten Flüchtlingen oder Migranten. Wenn Flüchtlinge oder Migranten kommen und in Westeuropa ein gutes Leben finden, wie können sie das Land wieder aufbauen? Wenn das weiter so geht, bleiben die Länder arm und die anderen Länder werden noch reicher."
Deswegen hält Janicsek die Flüchtlingspolitik der ungarischen Regierung auch für richtig. Um politisch eine Zukunft zu haben, müsste das jetzige System der EU, aus seiner Sicht, sowieso fundamental geändert werden. Und genau hier liegt womöglich eines der entscheidenden Probleme für die EU in Ungarn. Denn EU-Kritiker wie Lászlo Bogdán und Tamás Jancsek und EU-Befürworter wie Réka Bendék sind sich in einem Punkt einig: Im Bürokratieapparat Brüssel muss sich etwas ändern. Bleibt nur noch zu klären in welche Richtung.
Polens Premierminister Mateusz Morawiecki (L) und Ungarns Premierminister Viktor Orban (R) beim Handschlag während einer Pressekonferenz im ungarischen Parlament in Budapest am 3. Januar 2018.
Die Premierminister Polens und Ungarns: Mateusz Morawiecki (l.) und Viktor Orban (r.) beim Treffen am 3. Januar 2018 in Budapest© AFP/Attila Kisbenedek
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