EU und Türkei

Der unverzichtbare Partner

Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu bei seiner Ankunft in Brüssel zu Beginn der neuen Beitrittsverhandlungen.
Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu bei seiner Ankunft in Brüssel zu Beginn der neuen Beitrittsverhandlungen. © picture alliance / dpa / Stephanie Lecocq
Von Annette Riedel · 14.12.2015
Hilfst du uns in der Flüchtlingsfrage und gegen den IS, darfst du eventuell irgendwann Mitglied der EU werden. So ungefähr lässt sich die Situation umschreiben, in der heute die EU-Außenminister und ihr türkischer Amtskollege Cavusoglu neue Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eröffneten.
Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu ist in Brüssel mit seinen europäischen Amtskollegen zusammengekommen, um ein weitereres Kapitel in den Beitrittsverhandlungen zu eröffnen.
Die Beziehungen der EU zur Türkei spielten heute beim Treffen der EU-Außenminister eine wesentliche Rolle. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu war beim Arbeitsmittagessen seiner europäischen Amtskollegen dabei.
"Die Anwesenheit unseres türkischen Kollegen haben wir natürlich genutzt, um Eskalationen der letzten Tage und Wochen zu diskutieren – das Verhältnis der Türkei zu Russland nach dem Abschuss des russischen Flugzeugs."
Über das von Bundesaußenminister Frank Walter Steinmeier Genannte hinaus gab es noch mehr als genug zu besprechen, sagte die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini:
"Außenpolitische und regionale Themen - also: Syrien, der Kampf gegen den Islamischen Staat, vor allem beim Umgang mit Dschihadisten auf Seiten des IS, die aus Europa stammen."
Die EU braucht die Zusammenarbeit mit der Türkei dafür. Mindestens so sehr wie bei der Flüchtlingsfrage. Und nicht zuletzt deshalb wird am Abend im Umfeld des Außenministertreffens zusammen mit der EU-Kommission offiziell ein neues Kapitel der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eröffnet.
Neben der Zusage finanzieller Unterstützung ist das ein wesentlicher Teil der Verabredungen mit der Türkei, um sie zu motivieren, das ihrige zu tun, den Flüchtlingsstrom Richtung EU zu begrenzen.
Viel Geduld bei den Verhandlungen
Richtig findet es der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn, die Beitrittsverhandlungen, die lange auf Sparflamme köchelten, zu beleben:
"Ich war dabei, 2004, als wir angefangen haben mit der Türkei. Wir sind jetzt elf Jahre danach. Was die Verhandlungen angeht, braucht man Geduld. Man darf nur einen Fehler nicht machen: Das ist Abbrechen."
Nicht abbrechen – ja. Beschleunigen – ja. Aber nicht um jeden Preis, meint der österreichische Außenminister Sebastian Kurz.
"Aus meiner Sicht ist ganz entscheidend, dass diese Verhandlungen zwar geführt werden können, dass man aber keinesfalls jetzt aufgrund der Flüchtlingskrise bei anderen Themen, wie zum Beispiel bei der Kurden-Problematik oder bei der menschenrechtlich noch immer sehr schwierigen Situation, wegsehen soll."
Neues Kapitel zu Wirtschaftsfragen
Das neue Kapitel, das zu verhandeln begonnen werden soll, ist das Kapitel 17 über Wirtschafts- und Währungsfragen. Zwar ist dieses Kapitel vielleicht weniger brisant, als wenn man über die Justiz oder über Bürgerrechte, Medienfreiheit oder Ähnliches zu verhandeln beginnen würde. Aber ein "leichtes" Verhandlungsthema ist es damit keineswegs, sagt der politische Analyst der Brüsseler Denkfabrik Carnegie Europe, Jan Techau:
"Da steckt etwas ganz, ganz Zentrales drin: Es ist erst einige Wochen her, dass die Türkei per Gesetz die Unabhängigkeit ihrer Zentralbank abgeschafft hat. Und das ist ja eine der großen, wichtigen Voraussetzungen für den EU-Beitritt, dass eine unabhängige Zentralbank existiert – eine auf die die Politik keinen direkten Einfluss nehmen kann. Erdogan hat das sozusagen "einkassiert". So steckt also in dieser Wirtschafts- und Finanzfrage ein ganz, ganz harter Kern."
Beitrittsverhandlungen sind aus Sicht Techaus der einzige Hebel, den die EU aktuell hat, um auf die Türkei einwirken zu können. Das gilt allerdings nur, solange es innerhalb des Landes noch Kräfte gibt – wenn auch tendenziell weniger als zu Beginn der Beitrittsverhandlungen 2004 – denen an einer Integration in die EU als mittel- oder langfristige Perspektive gelegen ist.
"Da besinnt man sich jetzt im Moment der Krise zurück auf das einzige Instrument, das einem bleibt: die Beitrittsverhandlungen. Das sieht vordergründig erst mal aus wie eine Niederlage – das ist es zum Teil auch. Aber es ist, wenn man es klug spielt, mittel- und langfristig, wie man wieder einen Hebel kriegen kann, mit dem man die Türkei sozusagen auch 'kriegt'."
Ein schaler Beigeschmack bleibt
Dass nicht jedem in der EU wohl dabei ist, dass die Zusammenarbeit mit der Türkei Erdogans über der Flüchtlingskrise und im Zusammenhang mit der Terrorbekämpfung eine so spürbar gesteigerte Bedeutung bekommen hat, das hörte allerdings man heute in Brüssel nicht nur aus den Worten des österreichischen Außenministers heraus.
"Ich glaube, dass es sinnvoll sein kann, bei einigen Bereichen zu kooperieren, wie zum Beispiel bei der Rückstellung von Flüchtlingen. Ich glaube aber, dass es auch Bereiche gibt, die wir selbst erledigen sollte – wie die Sicherung der EU-Außengrenzen. Wenn wir das nicht selbst zusammenbringen, dann begeben wir uns in eine Abhängigkeit, die gefährlich ist."
Ob es je zu einem EU-Beitritt der Türkei kommt? Frank Walter Steinmeier sieht große Hindernisse:
"Was die größten sind, kann man gar nicht sagen. Es gibt jedenfalls unterschiedliche Vorstellungen im Bereich rechtstaatlicher Verfahren."
Eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU hält auch der politische Beobachter Jan Techau für in absehbarer Zeit wenig wahrscheinlich:
"Mit 'niemals' und 'jemals' ist man ja in Europa noch nie so gut gefahren. Dieser Kontinent überrascht einen ja immer wieder. Die Voraussetzungen sind sehr, sehr schwer. Natürlich gibt es irgendwann auch eine Zeit nach Erdogan."
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