Ethnologie

Ekstase als Technik

Von Carmela Thiele · 08.04.2014
Die Ethnologin Karin Riedl beschreibt, wie eng die Idee des Künstlers mit der des Schamanen verknüpft war. Sie zeigt das anhand des "Doors"-Sängers Jim Morrison und des Künstlers Joseph Beuys, die sich selbst als Schamanen bezeichneten. Selbst für Fachleute neu und spannend.
Dass sich Joseph Beuys ebenso wie Jim Morrison als Schamane bezeichnete, verwundert auf den ersten Blick. Doch sowohl der Künstler wie der Musiker sind Erben eines Konzeptes, das eine lange geistesgeschichtliche Tradition besitzt: dem des Geniebegriffs. Sturm und Drang und die Romantik begriffen das künstlerische Genie als Mittler zwischen den Welten. Diese der rationalistischen Aufklärung entgegengesetzte Vorstellung ist eng verflochten mit dem Schamanismus, der in jener Zeit intensiv erforscht wurde.
Dies ist die faszinierende These, die Karin Riedl in ihrer glänzenden ethnologischen Studie über "Künstlerschamanen" differenziert und überzeugend entwickelt. Weltfremdheit, Melancholie und Leiderfahrung wurden bekanntlich seit Goethes "Werther" als Zeichen wahren Künstlertums begriffen. Dass nun die ersten Völkerkundler des 19. Jahrhunderts wiederum die Schamanen als "kreative Persönlichkeiten mit außerordentlicher Vorstellungskraft" sahen, "die bereit waren, für ihre Überzeugungen zu leiden", zeigt, wie eng die Idee des Künstlers mit der des Schamanen verknüpft war. Diese Nähe zeigt noch die Definition von Mircea Eliade, einem der einflussreichsten Ethnologen des 20. Jahrhunderts, die von vielen Künstlern rezipiert wurde: "Der Schamane ist vor allem ein Kranker, der sich selber heilt."
Reinigende Rituale
Im zweiten Teil des bei aller Wissenschaftlichkeit angenehm lesbaren Buches lernen wir Jim Morrison, den Sänger der "Doors", als Intellektuellen und Dichter kennen. Der 1943 in Florida als Sohn eines Marineoffiziers geborene Amerikaner hatte nicht nur Filmwissenschaften, Geschichte und Philosophie studiert, sondern auch Werke von Eliade und Carlos Castaneda gelesen. Im Geiste der "counterculture" beschwor er in seinen poetischen Liedtexten die Emanzipation von der herrschenden Entfremdung, indem er Motive der schamanistischen Initiation verarbeitete. Morrison inszenierte seine Konzerte als reinigende Rituale, wobei die erotische Komponente im Vordergrund stand. Die kollektive Transzendenz-Erfahrung sollte einen gesellschaftlichen Wandel bewirken.
Während Morrison vor allem die Ekstase als schamanistische Technik übernahm, setzte der der 1921 in Kleve geborene Bildhauer Joseph Beuys auf Kunst als therapeutischen Prozess. Auch er wollte im Zuge der 68er-Bewegung die Gesellschaft verändern, sie von einer "Kälteplastik" in eine "Wärmeplastik" überführen. Plastik definierte er als Prozess der Transformation von Chaos in Form. Alles war in seinen Augen Plastik. Seine Alltag und Politik umfassende Theorie überzeugt Karin Riedl eher als der Ansatz von Morrison. Beuys trete nicht nur wie der Musiker als Repräsentant des Irrationalen auf, er biete auch eine Rationalität und Irrationalität synthetisierende Alternative. Damit habe Beuys das Schamanismuskonzept erweitert und auf eine neue Bedeutungsebene gehoben. Selbst für Kunstfachleute ist diese Einschätzung Beuys aus ethnologischer Sicht neu und spannend.

Karin Riedl: "Künstlerschamanen. Zur Aneignung des Schamanenkonzepts bei Jim Morrison und Joseph Beuys"
transcript, Bielefeld 2014
248 Seiten, 29,99 Euro

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