Ethnologe: Neonazis ohne Chancen bei Fan-Begeisterung

Moderation: Dieter Kassel · 03.07.2006
Der deutsche Patriotismus bei der Fußball-WM ist nach Ansicht von Wolfgang Kaschuba, Professor für europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, als durchweg positiv zu bewerten. Die meisten Menschen freuten sich über die deutsche Mannschaft, sie seien aber nicht nationalistisch eingestellt, sagte Kaschuba.
Kassel: Die Fußballweltmeisterschaft ist bereits abgeschlossen, bis zum kommenden Sonntag ist das Ganze nur noch eine Europameisterschaft. Diesen Witz haben am Wochenende einige gemacht, nicht nur die Sportreporter, von denen man das immer erwartet, sondern auch einige deutsche Spieler, und es ist ja auch etwas dran. Die vier Mannschaften, die jetzt noch Grund zum Jubeln haben im Moment, das sind, wie wir alle wissen, vier europäische Mannschaften, neben Deutschland auch noch Portugal, Frankreich und Italien, und umso angemessener ist es, dass wir jetzt über dieses Thema mit dem Inhaber des Lehrstuhls für europäische Ethnologie an der Humboldt-Uni in Berlin reden, Wolfgang Kaschuba. Schönen guten Morgen, Herr Kaschuba!

Kaschuba: Guten Morgen, Herr Kassel!

Kassel: Als am Freitag der deutsche Torwart Jens Lehmann den entscheidenden Elfmeter gehalten hat, der da klargemacht hat, jetzt stehen wir im Halbfinale, waren Sie da stolz?

Kaschuba: Ich war nicht stolz. Ich habe auch "Tor" gebrüllt und mich mit ungefähr 31 Doktoranden und einigen Kollegen gefreut auf einer Tagung, die wir in Bad Saarow hatten. Stolz, weiß ich nicht, aber es ist so ein Stück Euphorie, das ist schon ganz richtig beschrieben, dass man eine Mannschaft, eine bestimmte Spielweise und eine Situation einfach genießt.

Kassel: Viele reden aber ja von Stolz, und können Sie erklären, wie es eigentlich kommt, dass, wenn einer von 80 Millionen ein sehr guter Torwart ist und so einen Schuss hält, warum dann viele von diesen 80 Millionen plötzlich stolz auf ihr Land sind?

Kaschuba: Na ja, zunächst mal geht es um Fußball dabei, und wenn ein Torwart hält, gibt es am Dorfsportplatz vielleicht 12 Zuschauer, die stolz auf ihn sind, wenn Bayern München spielt, möglicherweise zehn Millionen und wenn er in der Nationalmannschaft spielt, sind es noch mehr. Also der Kern bleibt aber natürlich zunächst einmal, man identifiziert sich mit einer Mannschaft, die für etwas steht. Diese Nationalmannschaft steht nun für Deutschland, und, na ja, da wir sicherlich in der Vergangenheit Probleme hatten, uns über Ereignisse in diesem Land so richtig ausgelassen zu freuen, ist das sicherlich so etwas.

Ob das nun Stolz ist, da müsste man, glaube ich, nochmal genau darüber nachdenken. Sind denn die Bayernanhänger stolz auf Bayern München oder die vom FC Oberursel oder ist es nicht eben einfach auch so eine spielerische Freude, die ja nun ganz vielfach aus dem Sport und auch bei anderen Anlässen entsteht. Also der Fußballpatriotismus, wenn die Betonung auf Fußball liegt, ist mir recht, aber wenn Patriotismus zu stark betont wird, finde ich es ein bisschen übertrieben.

Kassel: Wo liegt denn die Grenze von diesem Fußballpatriotismus zu einem vielleicht negativen Patriotismus und dann der nächste Schritt Nationalismus, ist das die Frage, ob die nun im Stadion die dritte Strophe der Hymne singen oder die erste?

Kaschuba: Es ist, glaube ich, schon die Frage, was die Menschen damit verbinden, und ich habe den Eindruck, weil ich auch viel unterwegs bin, gerade auch in Berlin, dass die meisten Menschen Fußball und Nationalismus oder Geschichte nicht verwechseln. Also sie rufen "Deutschland", sie tragen auch die nationalen Fahnen herum, aber sie sind jetzt nicht nationalistisch, sondern freuen sich für die Mannschaft.

Ein ganz interessanter Befund, den ja auch schon einige Medien schon angestellt haben, die Neonazis bekommen in dieser patriotischen Welle kaum einen Fuß auf den Boden. Warum? Weil es offenbar eben nicht ihr Nationalismus ist, also einer, der aggressiv sich gegen andere wendet, und es ist eben im Unterschied auch zu manch anderen Fußballspielen bei dieser Weltmeisterschaft sozusagen nicht die Duellsituation, nicht wir gegen den Gegner, sondern es sind viele Mannschaften hier, es sind viele Fankulturen, und wer mal durch die Berliner Fanmeile geht, kann auch feststellen, da ist sehr viel spielerisch. Es gab kürzlich eine wunderbare Meldung, ein betrunkener Hooligan versuchte Streit anzufangen, und er fand niemanden, der sich mit ihm gestritten hat, weil alle lachten und gingen weiter.

Kassel: Sie haben jetzt eigentlich etwas klargemacht, was schon oft zu hören war in den letzten Tagen, und ich glaube, zu Recht, dass dieser Fußballpatriotismus, bleiben wir mal bei diesem Begriff, den wir erleben, etwas sehr, sehr Normales hat, etwas, was einen in der Regel überhaupt nicht beunruhigen muss, was einen, wenn man möchte, auch freuen kann, oder es lässt einen kalt. Heißt es, wenn das so ein normaler Patriotismus jetzt ist, dass es auch genau das Gleiche ist, was zurzeit, um dieses naheliegende Beispiel zu nehmen, die Menschen in Frankreich, in Portugal, in Italien für ihre jeweiligen Mannschaften empfinden?

Kaschuba: Ich denke, es gibt natürlich unterschiedliche Geschichten der nationalen Symbole in Europa und in der Welt, und die Deutschen sind nun mal belastet mit Geschichte. Dennoch gibt es eben auch eine Seite, mit denen in einer gewissen Weise unverkrampft umgehen zu können. Wir lernen das, aber es sind keineswegs nur sozusagen nationalistische oder nationale Bedürfnisse, da mischt sich vieles. Wenn Sie genau hinschauen, wie gefeiert wird, da ist natürlich ein Stück Party mit drin, Eventkultur, es gibt sehr viele Großereignisse, die von den Menschen aufgesucht werden, und in dieser Zeit des Individualismus gibt es eben auch ganz offenbar diese andere Seite, diesen Wunsch nach Gemeinschaftserlebnissen, die nicht zu tief sein sollen, nicht zu lange dauern sollen, aber die man sucht.

Und der Erfolg der Fanmeilen hat ja auch gerade die Macher der Fanmeilen völlig überrascht. Es war gar nicht klar, dass es eben nicht ein Ersatzvergnügen ist, sondern das Hauptvergnügen, und es soll Metzelder, der deutsche Verteidiger, einen ungewöhnlich reflexiven Satz zu einem Reporter gesagt haben. Er fragte ihn nämlich, haben Sie denn das Gefühl, wenn Sie im Stadion spielen, dass Sie wirklich so mittendrin in der Weltmeisterschaft sind, und er soll dann gesagt haben, eigentlich habe ich das Gefühl, ich müsste auf der einen Seite im Stadion spielen und auf der anderen Seite in Berlin in der Fanmeile sein und mir dabei zugucken, um wirklich in der Weltmeisterschaft anzukommen. Das ist reflexiv.

Kassel: Herr Kaschuba, der alte Patriotismus, der vielleicht manchmal dann doch in Nationalismus gekippt ist, vor dem wir früher Angst hatten, da hatte ich das Gefühl, das war auch eine sehr männliche Angelegenheit. Ich habe den Satz, ich bin stolz, ein Deutscher zu sein, sehr viel öfter gehört, als den Satz, ich bin stolz, eine Deutsche zu sein. Bei diesem neuen Patriotismus, fangen wir bei den Kleinigkeiten an, die Fähnchen, die man sich auf die Wange malt, die Fahne, die etwas ungeschickt am Fahrzeug befestigt ist, da habe ich das Gefühl, das ist auch eine sehr weibliche Angelegenheit. Ist das falsch?

Kaschuba: Ja, würde ich schon sagen, man kann teilweise tatsächlich von einer Feminisierung sprechen, die dabei eine Rolle spielt. Dieses Schminken, das so vielfältig stattfindet, ist eben ein bisschen anders, es ist zum Teil ein sehr elegantes Schminken. Ich bin kürzlich vor einem der deutschen Spiele durch Adlershof geradelt und sah viele Mütter mit kleinen Kindern. Die Kinder und die Mütter hatten eben diesen Dreierstrich auf den Backen. Das knüpft natürlich einerseits an sozusagen weibliche Schminktradition, zweitens an pädagogischen Traditionen, all unsere Kindergärten machen das natürlich auch spielerisch mit Theaterfarben, und nimmt drittens natürlich sozusagen diese männliche Kriegsbemalung auch mit rein. Es hat sich dadurch aber eben verändert, und man sieht natürlich auch in den Fanmeilen oder bei unseren Studierenden - wir haben überwiegend Frauen unter den Studierenden - die gehen selbstständig hin. Vor 20 Jahren hätte man gesagt, das sind die Anhängsel sozusagen der Männer, die treffen da ihre Freunde da beim Public Viewing, und heute gehen die selbstständig hin.

Es gibt gerade auch in dieser Fankultur und in diesen Formen von Begeisterung eben ein deutliches Abgehen sozusagen von diesen harten und gröhlenden Formen nur hin eben auch zu spielerischen und zum Teil auch ironischen. Wer die deutsche Fahne trägt, hat nicht immer sozusagen dieses Stammtischdenken dahinter, sondern macht es zum Teil auch ganz spielerisch, und manche der Fahnen sind da reine Fantasieprodukte.

Kassel: Und wer die deutsche Fahne trägt, kann man gerade in Berlin beobachten, kann im Prinzip auch durchaus Türke sein oder sonst irgendetwas, es ist auch nicht auf eine Nationalität beschränkt, ist auch eine erstaunliche Beobachtung.

Kaschuba: Ja, ist auch sehr spannend zu beobachten. Also die deutsche Fahne wurde in Kreuzberg von türkischen Lieferfahrzeugen zunächst mal hoffähig gemacht, und dann trauten sich die Deutschen natürlich auch allmählich.

Kassel: Wird eigentlich dieser neue Umgang mit Freude am Erfolg, ich nenne es mal an dieser Stelle noch nicht mal Patriotismus, wird der eigentlich im Ausland entsprechend wahrgenommen?

Kaschuba: Ja, sehr deutlich. Er wird auch kommentiert, zum Teil verwundert. Also die englische Massenpresse hat im Moment Schwierigkeiten wegen des Spiels der deutschen Mannschaft, aber eben auch wegen der Stimmung, diese Bilder vom "German Panzer" wieder in Stellung zu bringen, weil es nicht mehr ganz so drauf passt, und gerade die Länder, die auch mit unserer Geschichte sehr viel zu tun hatten und verwickelt waren in unsere Geschichte, sehen, glaube ich, durchweg mit großer Gelassenheit und Freude, dass sich so allmählich etwas entwickelt, was eben nicht nur jetzt sozusagen Begeisterung bedeutet, sondern eben eine spielerische, eine kontrollierte Form, eine manchmal auch distanzierte Form von Begeisterung, die ihnen viel mehr geheuer ist als dieses eigenartige Deutschland mit seiner "German Angst".

Kassel: In einer knappen Woche ist die Fußball-WM ja vorbei. Ganz egal, wie sie enden wird, glauben Sie, dass dieses neue Gefühl, über das wir jetzt geredet haben, dass davon etwas bleiben wird, also wird die WM mittel- und langfristig das Gefühl der Deutschen Deutschland gegenüber verändert haben?

Kaschuba: Also man kann darauf rechnen, davon ausgehen, dass sich im Fußball Dramatisches ereignen wird, aber das ist eben nicht die Welt. Die Welt wird sich nicht revolutioniert haben dadurch, aber es werden, glaube ich, vor allem Erinnerungen daran sein, wie wir auch sein können an diesem Sommer, und das Wetter spielt dabei natürlich auch eine Rolle, das macht das Ganze noch mediterraner sozusagen, und das wird, glaube ich, bleiben, dass wir es geschafft haben, uns dabei zuzusehen, wie wir uns eigentlich ganz nett freuen können. Das ist, glaube ich, ein Stück wichtiger Erinnerung.

Kassel: So, und zum Schluss natürlich, das können wir nicht lassen, wenn wir uns über Fußball unterhalten, wie endet das Spiel morgen Italien - Deutschland?

Kaschuba: Ja, ich fürchte für die Italiener, die deutsche Mannschaft wird schon 2:1 gewinnen.

Kassel: Herzlichen Dank für das Gespräch.