Etel Adnan: "Sturm ohne Wind"

Brücke zwischen Poesie und Malerei

05:52 Minuten
Buchcover "Sturm ohne Wind" von Edel Atnan
Buchcover "Sturm ohne Wind" von Edel Atnan © Edition Nautilus / Deutschlandradio
Von Ingo Arend · 27.11.2019
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Die libanesische Künstlerin Etel Adnan ist eine Wanderin zwischen Kulturen, Orten, Sprachen. Ihre Bilder sind eher meditativ, ihre Texte hingegen oft wütend und direkt. Der Band "Sturm ohne Wind" zeigt, wie zeitgenössisch Adnans Denken ist.
"Shooting Star der Kunstszene" – kaum ein Etikett passt weniger auf Etel Adnan als dasjenige, welches ihr seit dem viel beachteten Auftritt auf der Documenta 12 vor sieben Jahren in Kassel aufgeklebt wurde. Wenn diese bemerkenswerte Frau etwas nicht ist, dann eine marktgängige Selbstdarstellerin.
Der von Hanna Mittelstädt und Klaudia Ruschkowski herausgegebene Sammelband poetisch-essayistischer Texte der 1925 in Beirut geborenen Künstlerin fächert das Spektakuläre auf, für das die heute 94-jährige Malerin, Poetin und Philosophin steht. Das Beispiel einer exzeptionellen Wanderin zwischen Kulturen, Orten, Sprachen und Ausdrucksformen, deren Denken bestürzend zeitgenössisch ist.
Die abstrakten Landschaftsbilder, mit denen Adnan als Malerin bekannt geworden ist, sind eher meditativ angelegt. Ihre Schriften sind oft wütend und direkt. Etwa wenn sie in ihrem Poem "Jenin" den Vergeltungsschlag der "Bastarde" der israelischen Armee auf das palästinensische Flüchtlingslager 2002 anklagt.

Gräuel des Bürgerkrieges als universelles Menetekel

So sehr Adnan in solchen Traktaten Partei für die Araber ergreift. So sehr wird ihr die Erfahrung der Gräuel, die vor fünfzig Jahren den libanesischen Bürgerkrieg auslösten, zum universellen Menetekel: "Die Menschheit bewegt sich zum Friedhof in großen Sätzen" schreibt sie in ihrem Langgedicht "Der Express Beirut-Hölle" von 1970.
Dem scheinbar unaufhaltsamen Kreislauf von Macht, Gewalt und Raubgier setzt Adnan ihre Kunst entgegen. Nicht als heroische Geste, sondern als Produkt einer Osmose zwischen Künstlerin und Alltag.

Bewusstseinsstrom als poetisches Verfahren

Ob sie, wie einst Cézanne den Mont Sainte Victoire, tagein, tagaus den Mount Tamalpais in ihrer kalifornischen Wahlheimat malt. Oder ob sie in ihrem Poem "In Kriegszeiten leben" von 2005 notiert, wie sie zu Hause den Müll herunterträgt und die Bäume anstarrt, während "Bagdad bombardiert wird". Der Bewusstseinsstrom ist das poetische Verfahren, mit dem sie die "Partikel des täglichen Lebens" ästhetisch verwandelt. "Wir können diesen inneren Fluss nicht aufhalten, diesen Strom von Ideen, der unser Gehirn durchquert", begründet sie ihre Vorliebe für die offene Form anstelle klassischer Reime.
"Brücke zwischen Poesie und Malerei" – bei Adnan passt das verdächtig nach Allgemeinplatz klingende Lob des Kurators Hans Ulrich Obrist wirklich. In einem Text beschreibt sie, wie die abstrakte Malerei für die französischsprachig Aufgewachsene zum Äquivalent des Arabischen wurde, das ihr als Schülerin in Beirut verboten war.

Bilanz eines außergewöhnlichen Lebens

"Sturm ohne Wind" ist kein Buch, das von vorne bis hinten zu lesen wäre wie eine Autobiographie. Dennoch entfaltet dieser gut zusammengestellte Querschnitt so etwas wie die Bilanz eines außergewöhnlichen Lebens zwischen westlicher und südlicher Hemisphäre.
Reflexiv und intuitiv, enthusiastisch und verzweifelt, menschenfreundlich und gattungsskeptisch – Adnans Texte gehören zu den beeindruckendsten Lektüren eines Leselebens. Sie glaubt an das Glück und die Liebe, weiß aber: "Wir bewohnen einen Schrecken, der Leben heißt".

Etel Adnan: Sturm ohne Wind. Gedichte – Prosa – Essays – Gespräche
Herausgegeben und mit einem Vorwort von Klaudia Ruschkowski und Hanna Mittelstädt
Edition Nautilus, Hamburg 2019
560 Seiten, 38 Euro

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