"Es wird einfach nicht differenziert"

Akos Domas im Gespräch mit Matthias Hanselmann · 30.12.2011
Er verstehe nicht, warum gerade jetzt so negativ über sein Heimatland berichtet werde, sagt der in Bayern lebende ungarische Schriftsteller Akos Domas. Denn eigentlich gehe es mit Ungarn bereits seit dem Umbruch 1989 kontinuierlich abwärts.
Matthias Hanselmann: "Die rechtskonservative Regierung in Ungarn", so schrieb es gestern der ungarische Kulturjournalist und Filmkritiker Géza Csákvári im Berliner "Tagesspiegel", "sorgt für einen kulturellen Kahlschlag." Und er zählt auf einer Seite viele Beispiele dafür auf. Wir haben hier im "Radiofeuilleton" im Laufe des Jahres diverse Gespräche zu diesem Thema geführt, und der Tenor ist: Ja, Premier Orban besetzt nicht nur die kulturellen Schaltstellen in Ungarn mit Getreuen seiner Linie, der Linie seiner Partei Fidesz.

Ich habe vor der Sendung mit dem deutsch-ungarischen Schriftsteller Akos Doma gesprochen, der im November in der "Süddeutschen Zeitung" einen Artikel veröffentlicht hat mit der Überschrift "Der Ruf ist ruiniert". Die Kritik an Ungarn ist scheinheilig - was genau er damit meint, werden wir gleich hören. Doma ist im Alter von 14 bereits nach Deutschland gekommen, lebt in Bayern, und ich wollte zunächst von ihm wissen, wie sich seine Beziehung zu Ungarn im Lauf der Zeit verändert hat.

Akos Doma: Ich habe eigentlich zwischendurch relativ wenig mit Ungarn zu tun gehabt. Ich habe Anglistik studiert, Amerikanistik studiert, ich bin teilweise in England aufgewachsen und kam dann eigentlich über die Übersetzerei wieder mehr zum Ungarischen zurück. Aber natürlich blieb die Bindung über die Eltern und natürlich über Besuche in Ungarn, war die Bindung eigentlich immer da und die Sprache auch, natürlich. Wir haben zuhause immer Ungarisch gesprochen, da war die Bindung natürlich immer da.

Hanselmann: Also man kann sagen, sie sind ein in Bayern lebender Ungar und haben auch die Sicht von innen und von außen. Wir wollen reden ein bisschen über das Verhältnis, das wir in den westlichen Ländern, in den - sagen wir mal - Rest-EU-Ländern zu Ungarn haben, nach all den Informationen, die wir bekommen haben innerhalb des zu Ende gehenden Jahres 2011. Wie erleben Sie denn die Reaktion ihrer Bekannten und Freunde auf die Vorgänge in Ihrem Heimatland?

Doma: Also zunächst möchte ich vielleicht sagen, dass die Reaktion der Ungarn, die ich jetzt hier kenne - und das sind jetzt, würde ich sagen, normale bürgerliche Ungarn - auf die Berichterstattung im Westen eigentlich sehr empört ist. Das habe ich allerdings erst recht bemerkt, als mein Artikel in der "Süddeutschen" erschienen ist, und ich wurde danach förmlich zugeschüttet mit sozusagen Dankes-E-Mails, was ich jetzt gar nicht für angebracht hielt, aber dass jetzt mal eher differenziert dargestellt, wie das in einem größeren Kontext dargestellt wird, dass nicht dieser dumpfe Links-Rechts-Diskurs, der jetzt in Ungarn leider schon seit Jahren stattfindet, jetzt auch zu uns überschwappt.

Also in Ungarn stehen da wirklich zwei Blöcke stur einander gegenüber und tauschen mehr oder weniger Beleidigungen aus. Und dass jetzt sozusagen diese nicht mehr auf Argumenten oder auf berechtigter Kritik beruhende Berichterstattung hier stattfindet, sondern dass eben das jetzt auch, dieses parteipolitische Geplänkel auch jetzt die hiesige Wahrnehmung Ungarns bestimmt, und das stört mich.

Hanselmann: Lassen Sie uns bitte zunächst mal in Ihrem Land bleiben: Sie haben von zwei Blöcken gesprochen, die sich dort gegenüberstehen und sich nur noch Vorwürfe an die Köpfe hauen. Welche Blöcke sind das genauer?

Doma: Das ist einerseits die ehemalige Sozialistische Partei, die jetzt acht Jahre, also zwei Legislaturperioden regiert hat, und dieser eher rechte Block, also eigentlich die Partei Fidesz, das ist so eine konservative, aber nicht rechtsextreme Partei - das wird ja auch pausenlos irgendwie einfach verrührt -, und die haben jeweils eine mediale Gefolgschaft im Fernsehen und in den Zeitungen. Aber was ich da völlig vermisse, ist mal ein bisschen auch Selbstironie, oder dass mal einer gegen die eigene Seite was sagt, dass sich jemand da erhebt über diese Blockbildung, also dass man ein bisschen auch mit, was man Esprit nennt, das findet überhaupt nicht statt. Ich fand jetzt in der hiesigen Berichterstattung - nicht nur ich, wie gesagt, ich habe jetzt auf den Artikel hin, ich sage jetzt mal ohne Übertreibung, neun von zehn sehr positive Reaktionen, erfreute und erleichterte Reaktionen -, das ist ein bisschen so hinüber geschwappt.

Hanselmann: Also die Tendenz dieser Reaktion auf Ihren Artikel ist, dass von westlicher Seite her die Draufsicht auf Ungarn oft falsch ist, dass man die Verhältnisse als schlimmer darstellt, als sie eigentlich sind, habe ich das richtig verstanden?

Doma: Dass das ein Zerrbild ist, so würde ich es mal sagen. Und vor allem, dass jetzt Kritik aufbricht, die vielleicht teilweise berechtigt ist, aber die gleiche Kritik jetzt etwa acht Jahre lang überhaupt nicht stattfand. Das wäre jetzt so meine Frage an die Intellektuellen, die jetzt die Stimme erheben, warum haben Sie acht Jahre lang geschwiegen? Und nicht nur acht Jahre lang, im Prinzip eigentlich schon seit dem Umbruch, also 89 geht Ungarn kontinuierlich abwärts, also quer durch die Parteien. Warum tut man jetzt so, als würden die Probleme Ungarns jetzt beginnen?

Hanselmann: Warum ist es so? Beantworten Sie mir vielleicht die Frage, warum ist es so?

Doma: Ich weiß es nicht. Ich habe das Gefühl, hier findet ein intellektueller Diskurs so ein bisschen auf ideologischer Ebene statt, wo von vornherein die Rollen klar verteilt sind, und man sich sehr, sehr wenig kümmert um die Anliegen, um die Motive der Menschen, ja? Also der Durchschnittsungar, wenn der jetzt das so lesen würde, was jetzt im Westen so, auch der Tonfall in dem das rüberkommt - der würde sich nur an den Kopf fassen, weil er sich da - ich kann jetzt nur aus meiner subjektiven Sicht sagen, ja, ich habe so ein bisschen eine Außenseiterperspektive -, er würde sich in keiner Weise darin wiederfinden.

Hanselmann: Was ist das für ein Tonfall, den Sie da wahrnehmen?

Doma: Ein sehr ideologischer. Also was ich jetzt vorschlagen würde: Ich würde die Korrespondenten hinschicken, gehen Sie mal aufs Land, interviewen Sie einen Bauern. Gehen Sie mal in ein Budapester Krankenhaus oder wo auch immer, interviewen Sie mal die Ärzte. Interviewen Sie mal die Krankenschwestern, die Lehrer. Die arbeiten für Löhne, die aus unserer Sicht lächerlich wären. Hartz IV wäre fantastisch dagegen.

Und das sind die Sachen, die die Leute bewegen. Acht Jahre lang fand in Ungarn eine unglaubliche Vetternwirtschaft - Entschuldigung -, eine fast schon bayrische Amigo-Mentalität statt, Korruption, Selbstbedienungsmentalität, die in keiner Weise hier thematisiert wurde im Westen. Ich weiß nicht, ob die Kritik aus Ungarn nicht kam, oder ob das hier kein Interesse fand. Ich weiß es nicht.

Hanselmann: Also Sie fordern, dass ausländische Journalisten genauer hinschauen, sich die Menschen und ihre Schicksale genauer anschauen in Ungarn, und dann auch zu einem anderen Blick auf das Land kommen. Sie schreiben in der "Süddeutschen Zeitung", Sie haben den Artikel erwähnt, "Der Ruf ist ruiniert - die Kritik an Ungarn ist scheinheilig", das ist die Überschrift. Und da schreiben Sie: "Wenn eine Regierung mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit gewählt oder abgewählt wird, hat das meist handfeste wirtschaftliche und selten weltanschauliche Ursachen." Was meinen Sie damit?

Doma: Dass ein wirtschaftlicher Druck da ist, ein brutaler Überlebenskampf, der natürlich irgendwo in der Bevölkerung dann ein Ventil sucht, um einen Schuldigen zu suchen. Das sind meistens die Momente, wo man sozusagen auf Minderheiten losgeht. Also, ich will das in keiner Weise gutheißen. Ich finde zum Beispiel die Behandlung von Sinti und Roma in Ungarn, aber ganz generell im Osten - das finde ich zum Beispiel auch empörend.

Aber ich denke, dass wenn der soziale Druck wächst, dann wachsen auch diese unguten Entwicklungen. und natürlich gab es in Ungarn einen Rechtsruck, wie man das sagt. Aber jetzt sagen Sie mir: Wohin soll eine Gesellschaft, die aus dem Kommunismus kommt, rücken? Also weiter nach links geht nicht, also rückt man nach rechts. Hier gibt es meistens zwei Möglichkeiten: Entweder kommt eine Neoreligiosität, etwa vielleicht in Polen, oder eben das eher Nationale.

Und wenn man Ungarn kennt, dann weiß man, dass Ungaren über die Geschichte ticken, ja? Die Religion lenkt das so - hoffentlich werde ich dafür jetzt nicht gesteinigt -, die Religion geht bei den Ungaren nicht furchtbar tief. Wir ticken über die Geschichte, es gibt so diese Vorstellung, dass eigentlich erstaunlich ist, dass es Ungarn überhaupt noch gibt. Die ganze Geschichte Ungarns ist eigentlich durch Fremdherrschaft bestimmt. Und jetzt ist diese Sehnsucht da, mal endlich - das Nationale ist eigentlich nichts anderes als eine Sehnsucht nach Eigenständigkeit, ja? Wenn man 40, 50 Jahre lang nicht die ungarische Fahne hissen durfte, ohne dass eine sowjetische daneben hing, dann möchte man einfach mal die ungarische Fahne ohne sowjetische oder ohne sonstige Fahne hissen.

Und ich denke, das ist erklärbar, und das hat hier zunächst mal in der breiten Bevölkerung mit Rechtsradikalität oder Nazi und so was gar nichts zu tun. Es gibt natürlich die Rechtsextremen, die sammeln sich in dieser rechtsextremen Partei, aber man darf das nicht durcheinanderbringen. Da frage ich mich: Okay, schauen wir uns doch mal im Westen um, was geht denn hier bei uns ab? Also in fast sämtlichen westeuropäischen Ländern sitzt der Rechtsextreme - bei uns werden die jetzt irgendwie ein bisschen verniedlicht, also als Populisten bezeichnet.

Aber es geht immer um Ressentiments gegen Minderheiten, gegen Muslime, gegen was weiß ich, Nordafrikaner oder was auch immer. Ich denke, erst jetzt im Sommer zum Beispiel ist in Holland Geert Wilders von dieser rechtsextremen Partei - das ist einer der übelsten Volksverhetzer und Hassprediger überhaupt in Europa - wird vor Gericht vom Vorwurf der Volksverhetzung freigesprochen. Da gibt es keinen Aufschrei der Empörung hier, verstehen Sie? Also ... da wird mit zweierlei Maß gemessen.

Hanselmann: Da muss ich unterbrechen. Es gibt keinen Aufschrei der Empörung vielleicht des gesamten deutschen Volkes, aber es wurde doch in der Presse sehr heftig kritisiert, und es wird kommentiert und auch kritisch kommentiert.

Doma: Aber es wird nicht Holland sozusagen jetzt als quasi-faschistoides Land irgendwie an den Pranger gestellt. Und in Ungarn wird das halt verallgemeinert, und es entsteht so ein Zerrbild als jetzt irgendein Monster, das war mal ein gutes Land, und jetzt ist es irgendwie so. Das ist zu wenig differenziert.

Hanselmann: Dem entnehme ich, dass Sie sagen, dass Ungarn im Westen als ein faschistoides Land dargestellt wird, jedenfalls in bestimmten Kreisen und Medien.

Doma: Ja, es wird einfach nicht differenziert. Das ist faschistoid - ja, es geht wohl in die Richtung. Zum Beispiel Mediengesetz: Mir wird dieses Thema dauernd aufgestülpt, ich habe da wirklich versucht, im Internet danach zu suchen: Was ist jetzt neu, verglichen mit dem Alten? Also den deutschen Text konnte ich schon mal überhaupt nicht finden, der ungarische Text hat irgendwie Buchlänge. Ich weiß nicht, wie das die Kollegen gemacht haben.

Hanselmann: Trotzdem kann man ja nicht drüber hinweg schauen, dass es Veränderungen gegeben hat, dass ein Herr Orban ganz krass zugeschlagen hat, sozusagen einen Umbau der Gesellschaft betrieben hat. Korrigieren Sie mich, wenn ich da falsch liege. Bei uns wird jedenfalls die Lage in Ungarn, was die Kulturpolitik betrifft, zumindest als dramatisch dargestellt. Viktor Orban besetzt alle Schaltstellen der Macht mit eigenen Leuten, es wird gestrichen und gekürzt, wo es nur geht im Kulturbereich, Journalisten werden kaltgestellt, das neue Mediengesetz - Sie haben es angesprochen - schafft ja die Möglichkeit zu drastischen Strafen für dem Regime unliebsame Artikel und andere kritische Äußerungen. Dann hatten wir jetzt gerade den Fall des Clubradios, des einzigen oppositionellen Radiosenders, dem gerade die Frequenz entzogen worden ist. Ist das nicht dramatisch? Sehe ich das falsch?

Doma: Wenn das so stimmt, ich weiß es nicht. Ich habe meine Zweifel, weil es gibt auch in Ungarn Gesetze, und ich glaube nicht, dass man die einfach so aushebeln kann. Ich bin jetzt auch kein - wie sagt man? - Rechtsbeistand dieser Regierung. Das interessiert mich überhaupt nicht, aber ich werde so skeptisch. Ich bin auch skeptisch, es wird zu schnell so zugeordnet, was ist Kultur? Was darf Kultur nicht sein? Das sind so stalinistische Vorstellungen aus meiner Sicht.

Es gibt immer Veränderungen, auch mit dem Besetzen von Posten. Man kennt das so - Entschuldigung - aus Österreich, wo zum Beispiel sich zwei, jetzt leider schon drei, Volksparteien gegenüberstanden, und je nach dem, welche Partei an der Macht war, wurde halt alles ausgetauscht. Oder in Deutschland ist natürlich zu der Zeit, wo die CDU regiert, ist natürlich der Bundespräsident meistens von der CDU oder eben umgekehrt. Also ich glaube, das ist Usus, nur wird es in Ungarn jetzt mehr gemacht, weil sie mehr Möglichkeiten dazu haben, weil sie mit ungefähr zwei Drittel Mehrheit gewählt wurden.

Aber ich glaube, es würde relativ ähnlich abgehen in jedem demokratischen Land, wo auch immer, je mehr macht, die Parteien haben. Ich finde das nicht toll, überhaupt nicht, also ich glaube nur, dass es Usus ist, und es würde relativ ähnlich ablaufen in anderen Ländern auch. Nur haben die nicht diese - das gab es früher nur in Bayern, diese Zwei-Drittel-Mehrheiten, und hat dem Land, glaube ich, auch nicht gut getan.

Hanselmann: Das sagt Akos Doma, in Deutschland lebender ungarischer Schriftsteller, über die seiner Meinung nach oft scheinheilige und pauschale Kritik an seinem Heimatland Ungarn. Von Doma stammt unter anderem der Roman "Die allgemeine Tauglichkeit", erschienen im Rotbuch Verlag.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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