"Es wird ein Glücksspiel sein"

Moderation: Jürgen König |
Den deutschen Medien wird vorgeworfen, die Squadra azzurro, die italienische Nationalelf, zu verunglimpfen. Umgekehrt pflegt auch die italienische Presse ihre Klischees. "Ein Glücksspiel" nannte Karl Hoffmann, ARD-Korrespondent in Rom, im Gespräch mit dem italienischen Autor Roberto Giardina den Ausgang des Halbfinales. Beide Mannschaften hätten verdient, Weltmeister zu werden.
König: Die Fundamente des italienischen Profifußballs brechen weg - und gleichzeitig steht die Mannschaft im Halbfinale der Weltmeisterschaft. Für die italienische Öffentlichkeit ist das ein übles Wechselbad der Gefühle. Heute nun das Spiel der Spiele Deutschland - Italien. Ein Klassiker, der nicht nur Erinnerungen zum Beispiel an das Jahrhundertspiel der WM 1970 weckt, sondern auch uralte nationale Klischees, und das in den Medien beider Länder. Deutsche Medien werden zurzeit nicht müde zu erwähnen, dass es italienische Zeitungen gewesen seien, die auf eine Beteiligung des Torsten Frings an den Tumulten nach dem Argentinien-Spiel hingewiesen hätten. Zuvor schon hatte der "Spiegel" die italienische Nationalelf eine parasitäre, verwöhnte Truppe von Muttersöhnchen genannt. Im Gegenzug wiederum forderte Italia Rache für den erschossenen Bären Bruno, der doch ein italienischer Bär gewesen sei. Man glaubt es kaum und schüttelt den Kopf, warum längst überwunden geglaubte Klischees wieder ausgegraben werden vor dem heutigen Spiel Deutschland - Italien sprechen wir darüber mit Roberto Giardina, lebt als freier Autor in Berlin, hat viel für italienische Zeitungen berichtet, und wir sprechen mit Karl Hoffmann, dem langjährigen ARD-Korrespondenten in Rom. Guten Morgen, meine Herren!

Hoffmann: Guten Morgen!

Giardina: Buon giorno!


König: Buon giorno aus Rom. Herr Giardina, beginnen wir mit Ihnen. Die "Süddeutsche Zeitung" von gestern zitiert Ihren Korrespondentenkollegen Werner Raue, die deutschen Medien hätten in den letzten Wochen keine Gelegenheit ausgelassen, "manchmal von oben herab, manchmal offen beleidigend", die Squadra, also die italienische Nationalmannschaft, niederzumachen. Haben Sie das auch so empfunden?

Giardina: Ja, ein bisschen doch, aber ich habe immer seit 20 Jahren versucht zu erklären, dass diese Allgemeinplätze, die italienischen Allgemeinplätze und deutschen Allgemeinplätze, falsch sind, aber man kann gegen diese Fußballstimmung nicht mehr tun. Natürlich in der Regel, die Deutschen haben vielleicht ein bisschen Angst vor der Squadra azzurra und umgekehrt, wir haben Angst vor Deutschland und dann ohne Respekt.

König: Gab es auch Schlagzeilen, Meldungen, Sprüche, über die Sie sich richtig geärgert haben, die Sie richtig verletzt haben?

Giardina: Oh, diese vom "Spiegel" war natürlich ein Fauxpas, aber dann es ist nicht "Spiegel" "Spiegel online" und dann natürlich "Spiegel" hat sich entschuldigt und dann der Artikel war weg. Man kann das verstehen. Wir auch, wir schreiben immer "die deutschen Panzer". Das, wir meinen vielleicht ein bisschen als Kompliment, ist keine Beleidigung, aber dann die Deutschen verstehen anders, wie einmal die "Corriere della Sera" schrieb, dass natürlich die Boris Becker spielt wie ein Monster und dann die Deutschen waren beleidigt, aber ein Monster im Tennisspiel ist es ein Kompliment und so weiter.

König: Karl Hoffmann, wie war das bei Ihnen in Rom, haben Sie sich über bestimmte Sprüche richtig geärgert in den letzten Tagen?

Hoffmann: Also, man muss sich immer ärgern, wenn also so furchtbare Allgemeinplätze verbreitet werden, die natürlich in keiner Weise der wirklichen Lage der Dinge entspricht. Und man muss sich immer wieder ärgern, wenn man, und da muss ich dem Kollegen Giardina Recht geben, wenn man jahrelang arbeitet gegen Allgemeinplätze, gegen Vorurteile, und dann immer wieder feststellt, dass sie nicht totzukriegen sind. Aber, nun gut, damit muss man ein bisschen leben und Gott sei Dank geht es ja wirklich, und das muss man mal sagen, nur um Fußball, auch, und jetzt muss man das 'Nur' wieder einschränken, wenn man bedenken muss, dass zum Beipiel in Italien der Fußball die fünftwichtigste Industrie, der fünftwichtigste Industriezweig ist. Das heißt, also es hängt so viel dran, dass im Grunde nur das Ganze natürlich auch wieder sehr ernst zu nehmen ist letztlich.

König: Kommen wir noch mal auf die Klischees. Wenn der römische "Messaggero" in einer Schlagzeile schreibt "Spaghetti, Handschellen, Beleidigungen, die Deutschen sind immer feindselig" – für wen ist solche Stimmungsmache gedacht und was bewirkt sie?

Hoffmann: Sie ist gedacht eben für diejenigen, die die Klischees lieber haben als das Dazulernen. Das gilt aber für beide Völker, weshalb ich mir immer wieder mal die Frage stelle, ob dieses aufeinander Herumhauen bei bestimmten Gelegenheiten nicht vielleicht mehr ein Beweis dafür ist, dass sich Deutsche und Italiener sehr viel mehr ähneln, als sie das immer wieder vorgeben nicht zu tun. Also, meiner Meinung nach haben beide so ein bisschen so die Eigenschaft der kulturellen Eitelkeit, haben vielleicht auch die Eigenschaft der persönlichen Unfehlbarkeit und neiden sich immer irgendetwas, was sie gerne selber hätten beim andern, und so geht das seit vielen Jahren.

König: Roberto Giardina, was sagen Sie dazu?

Giardina: Ja, es gibt auch diese guten Vorurteile. Die Italiener sind immer völlig davon überzeugt, dass die Deutschen die besten Arbeiter der Welt, die zuverlässigsten und so weiter. Ich versuche immer zu schreiben, dass die Deutschen unpünktlich sind und unzuverlässig.

König: Also, unpünktlich und unzuverlässig …

Giardina: Ja, ich lebe in Berlin. In Berlin ist das so genannte "Tu-nix-far-niente" – dann ich schreibe das mit Sympathie, aber dann ich habe ein Buch geschrieben, "Anleitung die Deutschen zu lieben", und dann ich habe viel Briefe von Lesern, die zornig waren, wie können Sie das meinen und so weiter.

König: Das könne doch gar nicht stimmen!

Giardina: Ja, man glaubt, dass die Deutschen die besten sind in der Welt, sie werden auch unsympathisch. Ich finde, dass die Deutschen sind fast wie die Italiener und deswegen sympathisch. Ich finde die Italiener nicht so sympathisch wie die Deutschen, aber ...

König: Nicht so sympathisch, warum nicht?

Giardina: Ja, weil die Italiener existieren nicht. Gibt es so viele Italiener wie so viele Deutsche, ein Bayer ist nicht wie ein Hanseat, so ein Venezianer ist nicht wie ein Sizilianer und so weiter.

König: Sprechen wir mal über Bruno, den Bären. Das hat mich ja am meisten erfreut, Bruno kam bekanntlich aus Südtirol, seine Hinrichtung soll Italien zutiefst empört haben, liest man hier. In einer italienischen Fernsehshow sei eine Zuschauerin durchgestellt worden, die dann Rache für Bruno forderte. Die Zeitungen seien voll entrüsteter Leserbriefe. Einer forderte sogar, den Bären aus dem Papstwappen des Bayern Ratzinger zu entfernen. Sind das alles durchgeknallte Einzelne oder ist das schon auch ernst zu nehmen? Herr Giardina, was sagen Sie?

Giardina: Ich finde, das ist nicht ernst zu nehmen. Das sind immer so diese Vorurteile, die paradoxerweise sind zum Beispiel, die Deutschen sagten einmal, dass die Italiener erschießen die kleine Vögel und so weiter. Es sind die Deutschen, die einen Bär erschossen haben, ein zweijähriges Bär, ja gut, das ist ...

König: Ich meine, die Leserbriefe werden ja in vollem Ernst geschrieben.

Giardina: Ja, aber dann, wissen Sie, die Leser, die schreiben, sind immer die zornig sind. Die gleichgültig sind oder einverstanden sind, die schreiben nicht.

König: Die Vernünftigen schweigen. Herr Hoffmann, was sagen Sie dazu?

Hoffmann: Das muss ich auch bestätigen. Natürlich reden wir immer von Ausreißern, wenn man so will, es sind bestimmte Leute, die sich in großem Zorn zu Wort melden, mehr persönlichem Zorn, was dann gleich zur Volkes Stimme umgewandelt wird und dann zum gesamten Volkszorn wird, der aber natürlich nicht da ist. Ich kann mit vorstellen, dass 90 Prozent der Italiener, und je weiter man nach Süden kommt, um so mehr werden es noch, sich wirklich einen feuchten Kehricht um diesen Bären scheren. Natürlich ist es traurig, dass man ihn hat erschießen müssen, und es ist die Frage, ob ein Bär wirklich Millionen Singvögel aufwiegt, wie man das jetzt möglicherweise versucht, ein bisschen hinzudrehen. Aber mit Fußball haben weder die Singvögel noch die Bären etwas zu tun und dann kommen wir wieder aufs Thema. Was ist der wahre Grund, warum sich Deutsche und Italiener immer wieder dann so in die Wolle kriegen, wenn sie gemeinsam aufs Spielfeld treten.

König: Und was ist der wahre Grund?

Hoffmann: Nun, der wahre Grund ist, dass man irgendwo so einen undefinierbaren Nationalstolz hat. Italiener und Deutsche haben natürlich auch ein bisschen ein gemeinsames Schicksal, mussten lange Jahre ein bisschen darauf warten und hinarbeiten, sich wieder rechtmäßig und vor aller Welt wohl zu fühlen als Deutsche wie auch als Italiener, haben versucht, eine historische Schuld abzuarbeiten. Naja, und da kommen sie eben zusammen auf so ein Spielfeld und sind fest davon überzeugt, dass sie jeweils die Besten sind, weil sie entweder die besten Autos bauen oder die beste Pizza backen, was sie ja jahrelang immer wieder verkündet haben, und wehe es unterliegt dann einer, was macht man dann mit dem Verlierer oder was macht dann der Sieger?

König: Roberto Giardina, Korrespondent in Berlin, was sagen Sie auf diese Frage, was ist der Grund für dieses immer erneute Aufflammen uralter Klischees?

Giardina: Ja, das ist, ich finde Deutschland und Italien ist kein normales Spiel, ist vielleicht ein bisschen das Derby Europas, ein Derby wie Milan gegen Inter Milan oder Lazio gegen Rom, natürlich man kann ...Man ist alles zusammen, gibt es keine Verlierer keine Gewinner, wie damals in Mexiko, Italien Deutschland 4 : 3, aber zusammen haben wir das beste Spiel des Jahrhunderts gespielt. Man muss das so sehen. Wir sind so ähnlich, dass man denkt oder man fürchtet natürlich oft immer, die Brüder zu schlagen.

König: Sie haben vorhin gesagt, Roberto Giardina, die Fußballindustrie sei die fünftgrößte Industrie des Landes, das hat hier große erstaunte Gesichter hervorgerufen. Nun liest man, möglicherweise sei die ganze Seria A, also die erste Liga Italiens, manipuliert worden, einer der Manager von Juventus Turin hat versucht, oder hat sich aus dem Fenster gestürzt, hat versucht, sich das Leben zu nehmen. Wie schwer trifft diese Krise des italienischen Fußballs, sagen wir es kitschig, die Seele der Nation?

Giardina: Ja, sehr, sehr tief, weil natürlich, ich bin kein Fußballfanatiker, aber viele Italiener leben nur für Fußball und dann sie fühlen sich betrogen. Aber gut, man wusste schon immer, dass die Schiedsrichter so immer ein Auge zugemacht haben, wenn Juve spielte oder vielleicht beide Augen. Jetzt man entdeckt, dass alles korrupt oder alles manipuliert war, und dann man wird ein bisschen traurig. Und hofft, dass natürlich die Squadra azzurra gewinnen kann, aber man kann, auch wenn die Italiener Weltmeister werden, man kann diesen Skandal nicht vergessen.

König: Zum Schluss habe ich noch eine Frage an die beiden Herren. Wie wird das Spiel heute Abend ausgehen? Roberto Giardina, mögen Sie beginnen?

Giardina: Ja, ich glaube, 2 : 1 für Italien!

König: Das kann überhaupt nicht sein!

Giardina: Ich muss das denken!

König: Und was denken Sie wirklich?

Giardina: 1 : 1, dann Verlängerung!

König: Und dann?

Giardina: Elfmeterschießen, dann natürlich ist eine Glücksache.

König: Herr Hoffmann, was sagen Sie?

Hoffmann: Ja, ich denke, es wird ein Glücksspiel sein am Ende, denn die beiden Mannschaften sind so stark, dass sie eigentlich verdient hätten, möglicherweise beide Weltmeister zu werden.

König: Das geht aber nun nicht, das ist deutsches Harmoniedenken. Es gibt hier nur Sieger und Verlierer.

Hoffmann: Gut, also dann erkläre ich mich für völlig inkompetent und schaue einfach zu und weiß hinterher besser, wie es ausgegangen ist. Ich kann mich natürlich jetzt nicht so exponieren. Ich könnte jetzt hier schlecht sagen, dass Deutschland gewinnen soll, denn ich lebe ja in Italien, also bis morgen sollte man noch ein bisschen vorsichtig sein.

König: Im Vorfeld des Halbfinales bedienen deutsche wie italienische Medien fleißig nationale Klischees, ein Gespräch mit Roberto Giardina, Zeitungskorrespondent und freier Autor in Berlin, und mit Karl Hoffmann, langjähriger ARD-Korrespondent in Rom.