“Es roch stark nach mitgebrachtem Unwillen”

Rezensiert von Michael Laages · 21.04.2006
Harry Rowohlt versammelt lauter Meisterstücke der literarischen Kritik zwischen den Genres. Alfred Polgar jongliert sich durchs so genannte "literarische Leben” (und reitet mit geschliffenem Florett Attacken gegen den Betrieb hinter, besser: unter den Künsten) wie durch die Filmszene seiner Epoche.
Mit furiosen Plädoyers gegen den Ton- und für den Stummfilm, weil nur er die "eigentliche Sprache” des Films wiedergebe, die nämlich der Bilder, und zwar ausschließlich die.


Erste Begegnung sehr persönlich
Also als ich anfing, Theaterkritiken nicht nur zu schreiben, sondern auch veröffentlicht zu sehen, hat mir mein Vater (der gern etwas Ähnliches angefangen hätte in seinem beruflichen Leben, aber dann doch bei der Versicherung war) immer ihn als großes Vorbild vorgehalten: den Doktor Alfred Polgar. Und zwar weil der ein so schlüssiges Konzept gehabt habe für glasklares Schreiben: "Hauptsätze. Hauptsätze. Hauptsätze”. Das habe ich natürlich nie akzeptieren wollen, weil mir das zu sehr nach Bild-Zeitung schmeckte - wer Gedanken in Beziehung zueinander (und zu sich selber) setzen will, braucht Nebensätze. Und allerlei andere Tricks, Um- und Abwege mehr.

Wahrscheinlich war die väterliche Empfehlung damals allerdings auch nur eine Warnung - vor allzu viel Danebensätze - Macherei. Der Doktor Alfred Polgar jedenfalls, wie ihn mein Vater aus den Neu - und Wiederveröffentlichungen der frühen 50er Jahre kennen gelernt haben muss, "Standpunkte” 1953 und "Im Lauf der Zeit” im Jahr darauf, alle (wie so vieles zuvor) bei Rowohlt erschienen, dieser Sprachkünstler und Equilibrist der Worte hat ganz viele Nebensätze und noch viel Ornamente in und um die Sprache geflochten, so viele schöne und fein gegliederte vielleicht wie kaum einer sonst.

Und mein Vater muss gemeint haben, dass allemal der Gedanke in einem Text so klar sein muss wie eben "Hauptsätze. Hauptsätze. Hauptsätze”. Das wiederum kann ich nach der Lektüre von Harry Rowohlts Sammlung von Polgar-Texten unter dem Titel "Lauter gute Kritiken” gut verstehen. Wie überhaupt meines Vaters Zuneigung für diesen Journalisten, der uns heute, in Zeiten sprachlicher Verödung und Verarmung, zuweilen erscheinen mag wie aus einer anderen Welt.

Biographisches
Alfred Polgar, eigentlich: Polak; geboren am 17. Oktober 1873 im 2. Wiener Bezirk. Volksschule, Real- und Obergymnasium, Handelsschule, Eintritt in die Redaktion der "Wiener Allgemeinen Zeitung”; erste gelegentliche Theaterkritiken. Und Patient bei einem gewissen Doktor Arthur Schnitzler - mit dem den Kritiker später ein sehr eigenes, sehr kritisches Verhältnis verbindet. Vielerlei journalistische Tätigkeit, seit 1903 von Karl Kraus protegiert, gleich darauf Mitarbeiter von Siegfried Jacobsohns "Weltbühne”. Lauter Ritterschläge also. Erstes Buch, Mitarbeit im Kabarett (natürlich!), noch mehr Bücher, Bearbeitungen von Theaterstücken, später einige wenige eigene. Ab 1914 heißt Polgar auch ganz legal Polgar. Ein-, aber nicht in den Krieg gezogen; stattdessen Mitarbeit bei einer pazifistischen Zeitschrift. Weiterhin Kritik, Dramaturgie, Dramatik, Bücher; seit 1925 überwiegend in Berlin.

Politisch engagiert er sich links, aber ohne Dogma. Polgar-Stücke an der Volksbühne. Nach dem Reichstagsbrand reist Polgar nach Prag, bis 1938 bleibt der Hauptwohnsitz Wien. Als sich Österreich dem Reich anschließt, ist er zum Glück gerade sowieso in Zürich - eigentlich arbeitet er gerade an einer Biographie über Marlene Dietrich. Exil-Stationen von nun an (da die Schweiz auch ihn, wie viele andere, nicht haben will): Frankreich, Spanien, Lissabon, New York. Filmscripts für Hollywoods Industrie. Seit 1945 ist Polgar amerikanischer Staatsbürger, arbeitet als Übersetzer. Erste Europa-Reise nach der Emigration 1949 nach Paris und Zürich. Ein paar Jahre hin und her zwischen alter und neuer Heimat, seit 1954 wieder fast ganz in Europa zuhause. Am 24. April 1955 Tod in einem Züricher Hotel.

Theaterkritiker? Von wegen.
Polgar ist wohl eines der nachdrücklichsten Beispiele für die schöne Wahrheit von Hanns Eislers Satz: Wer nur von Musik etwas versteht (oder von irgendetwas anderem), der versteht auch davon nichts. Harry Rowohlt versammelt in dieser verknappten Fassung des "großen Lesebuches” (das aber auch nur 120 Seiten dicker ist) lauter Meisterstücke der literarischen Kritik zwischen den Genres. Polgar jongliert sich durchs so genannte "literarische Leben” (und reitet mit geschliffenem Florett Attacken gegen den Betrieb hinter, besser: unter den Künsten) wie durch die Filmszene seiner Epoche - mit furiosen Plädoyers gegen den Ton- und für den Stummfilm, weil nur er die "eigentliche Sprache” des Films wiedergebe, die nämlich der Bilder, und zwar ausschließlich die.

Er beschreibt virtuos die Wirk-Mechanik von Charlie Chaplin, und er ist dabei selbst im Beschreiben des Komischen sehr komisch - was besonders schwer ist. Wer hier von Polgar Sergej Eisensteins legendären Film "Panzerkreuzer Potemkin” nacherzählt bekommt, hat den Film gelesen wie gesehen - und versteht die Ekstase, die die Berliner Erstaufführung begleitet haben muss. Fein analysiert Polgar, was ein Kuss im Film tun muss - und selbst dann noch tut, wenn er zum Schluss ersatzlos gestrichen ist. Er spintisiert hinreißend über die Art und Weise der Entstehung von Filmen wie aus Frau Trudes Nähkästchen und kann geschichtsselige Epen mit zwei Worten erledigen: "Historie in Kuchenform”.

Zum Glück ist aber auch dieser Text länger. Insgesamt aber ist Polgar der Meister knappster (und sprachlich strengster!) Form-Behauptung; Wille zur Form ist ihm überhaupt der halbe Text.

Aber jetzt das Theater!
Schnitzler kann er mit tiefster Ironie nacherzählen wie mit entgegen gesetzter Emphase Eisenstein. Und wie die Wiener Theaterkritikerkollegen (die sorgsamen Wächter im Kunstpark, aus Tradition und schon von Haus aus Invaliden) an Max Reinhardts "Ödipus” scheitern. Und wie sich Leipzig über Brecht und Weills "Mahagonny” erregte bei der Uraufführung: "Es roch stark nach mitgebrachtem Unwillen”. Wie und warum "Hamlet im Frack” bei aller Zeitgebundenheit noch des zeitlosesten Textes immer ein Risiko bleibt. Und wie immer mehr Schauspieler (damals aus Reinhardts Schule) immer weniger vom akademisch erlernbaren Handwerk als vielmehr vom Leben selbst geprägt seien - als ob der Doktor Polgar damals schon eine Castorf-Inszenierung gesehen hätte. Überhaupt liest sich vieles erstaunlich visionär. Von wegen: von gestern. Von morgen!

Und wie es die Kritiker früher schafften, dass der Zuschauer beim Nachhauseweg in den Nachtausgaben schon richtige Kritiken lesen konnten, das erfahren wir auch - die Kritiküsse saßen schlicht in den Generalproben! Erst die Schauspieler begannen sich dagegen zu wehren - und haben a la longue gesiegt.

"Lauter gute Kritiken” - darunter sind natürlich auch ziemlich böse, freche; nie aber herabsetzende. Polgar ist freundlich, selbst wo er beißt: "Man schlief, aber schlecht!” Was er nicht ausstehen kann, ist: "gebildete Kritik”, Kritik, die dem Leser vor allem vorführt, was er alles gelesen haben müsste, um so klug (altklug) daher reden (schreiben) zu können wie eben: der Kritiker. Sein Ziel nach jedem Abend, im Theater wie im Kino: dem Stück als "weißes Blatt” gegenüber zu treten. Denn er sei ja "nicht Kenner, sondern passionierter Laie”, was immer er schreibe, schreibe er auch über sich selber. So beschreibt ihn übrigens auch der Kollege Robert Musik - im einführenden "Interview”, das gar keins ist, sondern ein sympathiesattes Porträt: als einen, der vor allem gern zuschaut.

Zum Beispiel "Fräulein Friedel Schuster” (S. 262, anlässlich von Offenbachs "Schöner Helena”): Sie sei "musikalisch bis in die Fußspitzen – was bei ihr, von der Taille an gerechnet, ein bezaubernd langer Weg ist”.

Und so herrlich immer weiter. Muss-Lektüre für alle, die keine Angst mehr vor Kritikern haben mögen.


Alfred Polgar: Lauter gute Kritiken
hrsg. von Harry Rowohlt
Kein & Aber, Zürich 2006, 300 Seiten