"Es müsste eigentlich normal sein"

Von Michael Hollenbach · 18.02.2012
Gott soll den Menschen als Mann und Frau erschaffen haben – aber ganz so einfach ist es wohl doch nicht. Rund 100.000 Menschen gelten in Deutschland als intersexuell: Seit zwei Jahren befasst sich der Ethikrat mit dem Phänomen Intersexualität und will nun die Ergebnisse seiner Untersuchungen und Diskussionen vorstellen.
Simon Zobel hat schon mit dem Begriff "intersexuell" Probleme. Er will nicht als "irgendwie dazwischen" definiert werden, deswegen gefallen ihm auch Begriffe wie Zwitter nicht. Er bezeichnet sich als mehrdeutig geschlechtlich. Klinischerseits wird Intersexualität 'DSD' genannt: Disorder of Sex Development, eine Funktionsstörung der Geschlechtsentwicklung.

"Ich gebe nicht gerne Auskunft über meine geschlechtlichen Ausstattungen. Das finde ich etwas unter der Gürtellinie."

Das Einzige, was Simon Zobel verrät: Er weise körperliche Mehrdeutigkeiten der Geschlechtsorgane auf. Schon als Kind habe er gespürt, dass er sich mit der Jungenrolle nicht so eindeutig identifizieren konnte:

"Ich habe diese Rollenstrukturen stark hinterfragt, und ich glaube, weil meine Eltern bei mir etwas gespürt haben, haben sie sehr stark darauf gedrängt, dass ich mich sehr rollenkonform verhalte. Wo der Körper Veranlassung gab zu Fragezeichen, wurde der Druck hin zu einem bestimmten Genderverhalten um so stärker, und das war bei mir prägend."

In der Pubertät wurde für ihn die Frage der eigenen Körperlichkeit und Geschlechtsidentität immer wichtiger. Doch er hatte Angst, für sich selbst die Frage zu beantworten, ob er intersexuell sei:

"Wenn man etwas erfahren konnte, dann waren das immer sehr pathologisierende Begriffe, Syndrome, die man im internationalen Katalog der Krankheiten fand, und man kann sich ja vorstellen, wie das für einen jungen Menschen ist, wenn man sich dann überlegt, in welches von diesen Syndrömchen passe ich denn. Es gab ja keine positive Umgehensweise mit dem Thema: Das ist sehr stark besetzt mit Mutation, mit Alien, mit Krankheit. Ich dachte, ich will nie und nimmer so sein."

Viele Intersexuelle leiden bis heute unter den schlimmen Erfahrungen, die sie als Kinder mit Ärzten machen mussten. Zahlreiche Mediziner versuchen bis heute, den Kindern operativ oder mit permanenten Hormonbehandlungen ein eindeutiges Geschlecht zu verpassen. Da sind Hoden oder Eierstöcke entfernt oder eine vermeintlich zu große Klitoris beschnitten worden.

Auch wenn Simon Zobel erst spät von diesen Eingriffen bei Intersexuellen erfuhr, war ihm schon als Jugendlicher klar, dass er eine intensive ärztliche Untersuchung möglichst vermeiden wollte:

"Auf keinen Fall wollte ich ins Krankenhaus, weil ich vermutete, wenn ich irgendwie unters Messer komme, dass dann etwas gemacht wird."

Der katholische Moraltheologe Eberhard Schockenhoff kennt solche Berichte von Intersexuellen. Als Mitglied des Ethikrats hat er viele bewegende Schilderungen von Zwangsbehandlungen und Verstümmelungen gehört:

"Der Zwang, sich zu einer geschlechtlichen Identität zu bekennen, von der man weiß, dass sie nicht stimmt, dass es nicht die eigene ist, das ist tatsächlich eine erhebliche Diskriminierung."

Michael Wunder ist ebenfalls Mitglied des Ethikrates. Wunder arbeitet als Psychologe in der evangelischen Stiftung Alsterdorf in Hamburg. Er weist darauf hin, dass in bestimmten Fällen von Intersexualität ein medizinischer Eingriff notwendig sein kann. Allerdings:

"Man muss nur sagen, dass die Hürde für Operationen, die die Geschlechtsidentität verändern und möglicherweise auch die Fruchtbarkeit verhindern, da muss die Hürde so hoch sein, dass solche Operationen im Kindesalter nur in diesen vitalen Indikationsfällen gegeben werden dürfen."

Fehlt solch ein lebensnotwendiger Grund, dann sollten Eltern und Mediziner bis nach der Pubertät abwarten, sodass die intersexuelle Person selbst entscheiden könne, ob sie eine Anpassung an ein bestimmtes Geschlecht wolle oder nicht. Michael Wunder hat in den Gesprächen mit Intersexuellen festgestellt, dass manche sich sowohl männlich als auch weiblich fühlen, andere als weder männlich noch weiblich; und eine dritte Gruppe sich als etwas ganz anderes versteht:
"Ich glaube, wir tun dieser ganzen Sache den größten Gefallen, wenn wir mit großer Vorsicht den Menschen zuhören, offen sind für jede Differenzierung und jede Spielart des Selbstverständnisses, und wenn wir sagen: so wie du dich zuordnest, so ist es in Ordnung."

Michael Wunder plädiert dafür, dass der Gesetzgeber bei der Geschlechtszuordnung zum Beispiel im Personenstandsregister eine dritte Kategorie "Anderes" einführt:

"'Anderes' würde ja auch nicht diskriminierend sein wie zum Beispiel "nichts" oder "keines", es handelt sich ja um eine Geschlechtlichkeit, nur um eine andere Geschlechtlichkeit."

Zu Beginn der Bibel, im Buch Genesis, ist zu lesen:

"Gott schuf den Menschen als sein Ebenbild; nach Gottes Bild erschuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie."

Der Moraltheologe Eberhard Schockenhoff weiß spätestens seit den Diskussionen im Ethikrat, dass die biblische Eindeutigkeit zu kurz greift; dass es neben Mann und Frau noch etwas Drittes gibt, deren Existenz noch immer tabuisiert wird. Und er weiß, dass gerade die katholische Kirche nicht gern an Tabus rührt, die mit Sexualität zu tun haben. Das gelte beim Thema Intersexualität aber nicht nur für seine Kirche, sagt Schockenhoff:

"Natürlich tut sich unsere Gesellschaft in allen Bereichen damit schwer, weil das Anderssein in so einem intimen Bereich erfordert in der Wahrnehmung eine besondere Sensibilität. Das ist für alle Menschen eine Aufforderung zum Umdenken, dass man ihnen mit besonderer Rücksichtnahme begegnet und dass dort, wo man das als ein Recht anerkennt, auch bereit sein muss, dass in der Rechtsordnung zu tun."

Noch ist die öffentliche Debatte um Zwitter und Hermaphroditen oft von Unkenntnis und Unsicherheit geprägt. Der Intersexuelle Simon Zobel berichtet zum Beispiel, dass im Rahmen der pränatalen Diagnostik Ungeborene, die intersexuelle Merkmale aufweisen, manchmal abgetrieben werden:

"Je mehr Möglichkeiten die Medizin hat, das frühzeitig zu erkennen, leider ist es so: Die Gefahr, dass es schon im Mutterleib behandelt wird, steigert sich diametral. Und es gibt viele Fälle, wo abgetrieben wird, Intergeschlechtlichkeit ist noch eine Indikation – und das bis in den siebten, achten Monat rein."

Der Psychologe Michael Wunder erhofft sich, dass die Diskussionen im Ethikrat dazu führen können, dass die Gesellschaft offener mit dem Thema und mit Intersexuellen umgeht. Michael Wunder – selbst bekennender Homosexueller – verweist auf die Erfahrungen der Schwulenbewegung. Lange seien Homosexuelle diskriminiert worden, heute werde es weitgehend als etwas Normales akzeptiert:

"Diese Art von Normalität, dass man das zwar weiß: es ist eine Aussage über einen Menschen, aber es ist weder etwas so sensationell Einmaliges noch etwas, wo man sagen muss: Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Das wünsche ich mir für Menschen mit Intersexualität: Es müsste eigentlich normal sein."
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