"Es ist vor allem sehr wichtig, einfach einen neuen Blickwinkel zu eröffnen"

Sineb El Masrar im Gespräch mit Ulrike Timm · 17.05.2010
"Gazelle"-Chefredakteurin Sineb El Masrar hält Migranten in deutschen Medien für wichtig. Es sei "noch ein bisschen schwierig", auch wenn es die eine oder andere Moderatorin gebe, sagte El Masrar anlässlich der heute beginnende Islam Konferenz.
Ulrike Timm: Heute beginnt die Deutsche Islam Konferenz, das wichtigste Forum zwischen dem deutschen Staat und den rund vier Millionen hier lebenden Muslimen. Es ist die zweite, und vertreten sind neben einigen bestehenden Islamverbänden, die in aller Regel sehr konservativ sind, Einzelpersonen, von denen man sich besondere Anregungen in der Diskussion verspricht, eben weil sie sind, wie sie sind: Muslime, aber doch mit den offiziellen Vertretungen des Islam ab und zu mal über Kreuz liegend und dabei doch dem Islam ganz verbunden. Eine von ihnen ist Sineb El Masrar, sie ist Journalistin und Chefredakteurin von "Gazelle", dem ersten Frauenmagazin, das sich auch an Migrantinnen richtet. Schönen guten Tag!

Sineb El Masrar: Guten Tag!

Timm: Frau El Masrar, welches Thema liegt Ihnen denn ganz besonders am Herzen?

El Masrar: Also, es ist vor allem sehr wichtig, einfach einen neuen Blickwinkel zu eröffnen, die breite Öffentlichkeit wahrnehmen zu lassen, dass Migranten nicht nur Probleme machen, sondern auch eine Bereicherung sind und letztendlich die gleichen Bedürfnisse haben wie jeder andere Mensch in diesem Land auch. Und das liegt mir eigentlich am meisten am Herzen mit dem Magazin.

Timm: Ihr Fokus liegt auch beim Thema Migranten in den Medien. Wie ist das, wenn Migranten Migranten im Fernsehen sehen, kennen sie sich dann wieder?

El Masrar: Es ist noch ein bisschen schwierig. Also es gibt natürlich die eine oder andere Moderatorin, das eine oder andere Programm, es gab ja lange vor einigen Jahren "Türkisch für Anfänger", was ja auch bei der "Migranten-Community" (ich sage das immer in Anführungsstrichen) auch recht gut ankam, aber das ist natürlich auch so eine Sendezeit, wo viele dann eben auch noch an der Uni sind, arbeiten, also man erreicht damit natürlich also auch nicht so eine große Masse. Aber es sind am Ende immer nur Nischenformate, Nischensendungen, und das genügt, ja das genügt einfach nicht, um das Gefühl zu vermitteln, das es eine Selbstverständlichkeit ist, dass wir einfach dazu gehören und ja unseren Beitrag auch in dieser Gesellschaft leisten.

Timm: Andererseits hat sich ja auch viel getan: Dunja Hayali moderiert die Nachrichten im "heute journal", Fatih Akin ist der vielleicht innovativste deutsche Filmregisseur und Necla Kelek ist ein ganz gefragter Gesprächsgast. Vor zehn Jahren wäre das so noch nicht denkbar gewesen, ist das nicht alles schon einen großen Schritt vorangekommen?

El Masrar: Ja natürlich ist das, da hat sich jetzt auch was bewegt, und das ist vor allem, sie gehören vor allem doch zu der zweiten Generation an, vor paar Jahren waren sie eben noch recht jung, die waren noch in ihrem Studium, waren noch in ihrer Ausbildung, was auch immer sie in der Zeit gemacht haben. Also das bedarf natürlich immer ein bisschen Zeit, bis man soweit ist und auch dementsprechend Produkte, Publikationen, was auch immer veröffentlicht hat und in die breite Öffentlichkeit bringt.

Aber nichtsdestotrotz sollte man sich darauf nicht ausruhen, weil es sind natürlich auch Stimmen, es sind Geschichten, die erzählt werden, die erzählt werden müssen, die auch thematisiert werden müssen, aber es gibt eben auch Geschichten und Ideen, Beiträge, die auch in die Öffentlichkeit getragen müssen, die für einen großen Teil der Bevölkerung noch gar nicht ja sozusagen in die Öffentlichkeit getragen worden ist.

Timm: Dann frage ich mal andersrum: Welche Geschichten fehlen Ihnen denn in den deutschen Medien?

El Masrar: Ja also ich denke, was auf jeden Fall fehlt, ist die Normalität, die es gibt, und auch einfach auch zu schauen, was gibt es dann zwischen Ehrenmord und Kopftuchzwang. Natürlich gibt es die jungen Mädchen, die mit sieben oder auch sechs schon dazu gezwungen werden, Kopftuch zu tragen.

Aber wenn wir zum Beispiel auch diese Debatten sehen mit diesem Schwimmunterricht, die ja nun wirklich einen sehr geringen Anteil machen, das sind glaube unter, das sind jährlich fünf Mädchen, die wirklich ausgeschlossen werden, und da sind manchmal ganz andere Hintergründe. Also da werden Mädchen wirklich sexuell belästigt von ihren Mitschülern, dann gibt es Gründe, wo sich das Kind einfach unwohl fühlt, mit gemischten Jungs und Mädchen schwimmen zu gehen. Also dass man diese Gedenken, die dahinterstecken, einfach auch mal in die Öffentlichkeit zu bringen.

Timm: Fehlt die Geschichte Ihrer eigenen Generation? Sie sind Ende 20, sind Hannoveranerin marokkanischer Abstammung und haben wahrscheinlich erst relativ spät gemerkt, dass Sie Migrantin sind?

El Masrar: Ja, also man hat schon natürlich immer mal gemerkt ... Also ich bin in einem sehr deutschen Umfeld aufgewachsen und ich war natürlich immer ein bisschen anders, hatte einen anderen Namen, sah halt auch ein bisschen anders aus. Natürlich, also das ist auch eine Sache, warum ich später dann "Gazelle" gegründet habe, weil mir sehr früh aufgefallen ist, Frauen oder junge Mädchen wie ich, die eben einen anderen Background haben, eine andere Geschichte, dessen Eltern wirklich in einem anderen Land sozialisiert sind, finden nicht statt.

Also weder in der "Girl" noch in der "Bravo", also diese ganzen Geschichten, die wir natürlich auch konsumieren, finden halt eben in dieser Bandbreite überhaupt nicht statt und da ist natürlich dann, da reicht es eben nicht, irgendwann sich Betty Mahmoodys "Nicht ohne meine Tochter" anzuschauen oder irgendwie eine Dokumentation, die um 23 Uhr läuft, die dann aber wiederum irgendwie in unseren Herkunftsländern spielt. Also wir brauchen das Leben hier, was gibt es hier alles.

Timm: Das ganz praktische Leben zwischen zwei Kulturen.

El Masrar: Genau. Und es muss nicht immer zwischen sein, also das finde ich auch immer ein bisschen schwierig, es wird immer so suggeriert, dass wir immer hin- und hergerissen sind, und das ist alles gar nicht so dramatisch. Also wir kriegen das schon hin, wir sitzen manchmal da und denken so, ach wie kriegen wir das so hin, dass wir irgendwie unsere Eltern zufriedenstellen, aber uns irgendwie auch nicht verlieren, unsere Werte, aber gleichzeitig eben auch sozusagen ja die Bude rocken lassen, also sozusagen da anzukommen, wo wir auch hin möchten.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Sineb El Masrar, sie nimmt heute an der Deutschen Islam Konferenz teil und ist Chefredakteurin von "Gazelle", der ersten deutschen multikulturellen Frauenzeitschrift. "Gazelle" erscheint derzeit zweimal im Jahr mit Modethemen, mit Reportagen, mit Rezepten – ganz wie man sich eine Frauenzeitschrift vorstellt, aber es gibt zum Beispiel auch eine Serie, "Feiertage der Weltreligionen" oder Filmbesprechungen von Filmen, die man in der "Brigitte" vielleicht nicht finden würde, und die Titel "Schönheit hat stets dunkle Haare und dunkle Augen". Ich habe aber gehört, Frau El Masrar, "Gazelle" lesen mehr Deutsche als Migrantinnen – ärgert Sie das nicht?

El Masrar: Nein gar nicht! Also das ist ja unter anderem auch ein Ziel, was wir haben: Eben in der breiten Mehrheitsgesellschaft oder Aufnahmegesellschaft zu zeigen, das sind eure Nachbarn, die beschäftigen sich mit den gleichen Dingen wie ihr auch, die überlegen sich auch, wie sie den Bausparvertrag am besten irgendwie in den nächsten Jahren abbezahlen, wie auch immer. Also das stört mich gar nicht.

Es ist natürlich ein bisschen schade, weil auf der einen Seite sich Migranten oder Muslime oder was auch immer sich natürlich auch wünschen, dass sie wahrgenommen werden, dass ihre Geschichten erzählt werden, aber auf der anderen Seite natürlich auch dann sagen, o.k., wozu soll ich denn so was kaufen oder ja lesen. Das ist dann ein bisschen schwierig, weil das hat aber auch wirklich viel auch mit der eigenen Erziehung zu tun, das ist ein Prozess, der natürlich jetzt erst in Gang gekommen ist oder jetzt erst in Gang kommt. Und das andere ist, viele unserer Migranten kennen uns auch noch gar nicht. Also das ist auch immer noch so ein Aha-Effekt, wusste ich gar nicht, muss ich mir sofort holen. Also das ist auch noch so ein Prozess.

Timm: Sorry, aber wie kommt das, dass Migranten ein Magazin, was sich doch explizit vor allem auch an sie wendet, nicht lesen?

El Masrar: Nicht weil sie es nicht lesen wollen, sondern a) wie ich schon sagte, weil sie es zum Teil nicht kennen, und das liegt wiederum daran ... Also wir haben zum Beispiel gar kein klassisches Budget für Werbung, wir können keine Plakate in der ... auf den Straßen bezahlen, wir können keine TV-Werbung, also all das, was eben die großen Medien oder andere Publikationen nutzen können.

Wir sind wirklich darauf angewiesen, über Presse Werbung zu machen, also darauf aufmerksam zu machen, und eben vielleicht in den jeweiligen Communities, es gibt ja sehr viele Internetcommunities, weil das ist es eben, was ich meinte vorhin, weil Migranten beispielsweise diese klassischen Medien auch nicht unbedingt ja konsumieren, weil sie sich eben auch nicht wiederfinden. Und wenn ich dann zum Beispiel ein Interview gebe, dann kriegt das sozusagen auf der anderen Seite keiner mit. So würde man es ganz drastisch ...

Timm: Aber es lesen wahrscheinlich auch nur gebildete Migrantinnen, ...

El Masrar: Genau.

Timm: ... die explizit deutschsprachig oder zweisprachig sind.

El Masrar: Genau, das ist auch die Voraussetzung. Also die Texte sind ja meistens über zwei, drei Seiten lang, also man muss schon gerne lesen, sonst machte es für denjenigen einfach auch keinen Sinn. Wobei, es werden mittlerweile, also ich weiß, dass zum Beispiel einige Deutschlehrer auch mit dem Heft mittlerweile auch schon arbeiten, also das sozusagen dann irgendwie an die Damen, an die Frauen richtig weiterleiten, die Deutsch lernen hier in Deutschland.

Timm: Nun gibt es ja ein Bildungsproblem unter vielen, insbesondere unter türkischen Migranten, und es gibt Stadtteile in deutschen Großstädten, da braucht man die deutsche Sprache nicht, da kommt man mit Türkisch prima durch. Hier Interesse zu wecken für ein multikulturelles Miteinander würde ja in eine gegensätzliche Richtung gehen – das heißt wahrscheinlich ganz dicke Bretter bohren, oder?

El Masrar: Ich weiß nicht, ob man das so drastisch sagt, also ich glaube, die wären schon offen dafür. Das Problem ist natürlich, jemand, der der deutschen Sprache nicht besonders mächtig ist, dem macht es natürlich Mühe, dann so ein Magazin zu lesen, die natürlich auch vor allem da an ...

Timm: Liest der überhaupt?

El Masrar: Das wollte ich gerade sagen, also weil es natürlich viel einfacher ist, irgendwie einen Videoclip irgendwie auf Youtube zu sehen oder eben im Fernsehen, das ist ganz klar. Aber ich glaube nicht, dass sie nicht weniger interessiert sind, weil es sind ja sehr viele junge Menschen, also ich rede vor allem jetzt von den Jüngeren, die ja sehr interessiert und neugierig sind, aber einfach schon aufgrund des dreigliedrigen Systems einfach auch schon sehr früh ausrangiert werden. Also man kommt ja gar nicht mehr mit anderen Lebenswelten in Berührung. Das ist ja auch ein Problem.

Timm: Sined El Masrar, Sie sind Hannoveranerin und Sie sind Tochter marokkanischer Eltern und wenn ich Sie politisch ganz korrekt vorstelle, sind Sie Deutsche mit Migrationshintergrund. Können Sie das noch hören?

El Masrar: Ehrlich gesagt nicht, weil Migration bedeutet ja die ganze Zeit noch Bewegung, und das findet ja bei mir nicht statt, höchstens mal von Schöneberg nach Neukölln, Berlin, und dann vielleicht mal innerhalb Deutschland. Das ist sehr schwierig. Also ich bin Deutsche, ich bin hier geboren, aufgewachsen, ich sehe mich auch als Deutsche, habe aber eben diesen marokkanischen Background.

Meine Eltern sind in Marokko geboren, aufgewachsen, sozialisiert, die haben mir auch dementsprechend eine gewisse Erziehung mitgegeben und das sieht man mir auch an und das gehört zu mir genau so wie eben Deutschland auch. Deswegen finde ich, Migrationshintergrund, das klingt immer so ein bisschen wie eine Krankheit.

Timm: Migrationshintergrund, da, die Migration ist da sehr im Hintergrund, höre ich raus, aber wie kann man das denn besser machen, korrekt, aber richtig?

El Masrar: Ja ich denke einfach, dass man einfach sagt, Deutschmarokkanerin oder Deutschtürkin oder was auch immer, das gehört ... Mit der Zeit wird sich das auch verändern, also dass dann, wir sind ja gerade soweit, dass wir sagen, o.k., Deutschland ist ein Einwanderungsland, wir haben so und so viele Muslime, Migranten hier, das ist auch ein Prozess.

Also ich will jetzt hier auch nicht irgendwie gleich sagen, so jetzt müssen wir alles hier über Bord werfen, aber es muss langsam natürlich schon ein bisschen mehr Normalität, und dafür braucht es eben auch diese vielen, vielseitigen Beiträge, die sich eben zum Beispiel auch im "Tatort" nicht immer wieder um diesen Ehrenmord drehen und einfach auch schauen, wo können wir auch noch andere Geschichten fernab von "Tatort" erzählen?

Timm: Und solche Geschichten erzählt die deutschmarokkanische Journalistin Sineb El Masrar heute auf der Deutschen Islam Konferenz und in dem Magazin "Gazelle", das erste multikulturelle Frauenmagazin in Deutschland, zweimal im Jahr erscheint es und zwischendurch ist es immer im Internet zu sehen unter www.gazelle.de.