"Es ist heute noch neu, weil noch nicht akzeptiert"

Hans-Peter Dürr im Gespräch mit Katrin Heise · 16.09.2009
Der Physiker und Träger des Alternativen Nobelpreises, Hans Peter Dürr, plädiert für ein neues Weltbild. Er hob in diesem Zusammenhang auch den Physiker Werner Heisenberg hervor.
Katrin Heise: Hans-Peter Dürr lehnt das veraltete, aber noch geltende Weltbild ab. Ein Weltbild, das darauf aufbaut, dass alles aus Materie besteht, aus kleinsten Teilchen. Tatsächlich aber hat die moderne Physik, die Quantenphysik, durch Zerteilen einer Materie festgestellt, da bleibt eigentlich gar nichts Stoffliches einer Materie übrig, sondern eher Form, Gestalt, Beziehung. Vor dieser Sendung hatte ich die Gelegenheit, mit Hans-Peter Dürr persönlich zu sprechen. Ich wollte wissen, warum unser Denken erst langsam von den Erkenntnissen beeinflusst wird.

Hans-Peter Dürr: Es ist heute noch neu, weil noch nicht akzeptiert. Der ganze Witz ist eben, dass da in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts insbesondere Werner Heisenberg da eine große Rolle gespielt hat, mit dem ich ja fast 20 Jahre zusammengearbeitet habe, das eben herausgefunden hat, dass es im Grunde keine Materie gibt. Und da erschrecken selbstverständlich viele Leute, dass sie sagen, na, du kannst es doch sehen, eine Materie ist doch, was wir begreifen. Ja, und dann wundern sich die meisten noch mehr darüber, dass ich also 50 Jahre meines Lebens eben mich mit Materie und seiner Dynamik befasst habe.

Heise: Die dann am Ende gar nicht vorhanden ist.

Dürr: Und dann glauben alle, ich muss also enorm enttäuscht sein, dass ich 50 Jahre in meinem Leben an etwas hingehängt habe, das gar nicht existiert. Aber das ist nicht der Fall. Was im Grunde da ist, ist etwas anderes, es ist eigentlich nur das Dazwischen.

Das können wir uns nicht vorstellen, aber es ist eine Betrachtungsweise, die letzten Endes auch mit den traditionellen Vorstellungen gut zusammenpasst, dass man sagt: Am Anfang war nur der Geist oder die Liebe oder was immer, was ebenso nicht einfach begreifbar ist, und dass das Materielle, die Schöpfung hinterher eigentlich nur dann auf diesem Hintergrund entstanden ist.

Heise: Was für ein Umgehen mit der Welt folgt denn dann aber daraus?

Dürr: Ja, für mich ist nur wichtig, … Der Graben zwischen Wissenschaft und Religion oder den anderen Wissenschaften ist eigentlich gar nicht da. Es ist nicht mehr so, dass, wenn ich sage, selbstverständlich, ich erlebe viel mehr, als ich begreife, alle sagen, das ist klar. Aber sie glauben dann, dass ich mehr erlebe als begreife, ist nur vorübergehend, weil ich noch nicht genügend weiß über diese Welt, und deshalb muss ich probieren, das zu wissen.

Aber es stellt sich heraus, dass im Grunde, was im Hintergrund ist, nicht wissbar ist, aber ich kann es immer noch gewissermaßen erfahren und empfinden.

Und wir verwenden dann in unserer Sprache dafür nicht nur … nicht Substantive, also dass wir sagen, dieser und jener Gegenstand, sondern dass wir es in Verben ausdrücken: erleben, verlieben, hoffen, Wahrnehmung – ja, da ist nichts Greifbares dabei und trotzdem wissen wir, was damit gemeint ist.

Heise: Wenn ich Sie richtig verstehe, müssen wir akzeptieren, dass wir eben gar nicht alles verstehen können, nicht alles begreifen können, dass vieles im Fluss ist. Was bedeutet das aber für den Alltag jedes Einzelnen, weil Sie ja gesagt haben, man muss Verantwortung übernehmen?

Dürr: Für den Alltag bedeutet es, dass ich mich passiv verhalten muss, um mich zu orientieren, aber dann sind wir aufgefordert, auch zu handeln, und das Handeln bedeutet, dass wir denken in einer Weise, dass ich hinterher auch meine Hand beauftragen kann, dass sie gewisse Bewegungen ausführt und die Welt auch außen verändert, so wie ich es erst gedacht habe.

Heise: Aber passiv verhalten in einer Welt, in der eben zum Beispiel … ich habe vorhin den Klimawandel, die ökonomischen Krisen, die Kriege erwähnt. Passiv kann ja da nicht die Lösung sein.

Dürr: Passiv ist die Voraussetzung, dass ich überhaupt erst mal sehe, was eigentlich los ist, dass ich in einem Modell bin, das gar nicht der Natur angepasst ist. Ich muss erst mal hinsehen, wo ich bin.

Es spielt eine Rolle, ob ich im Gebirge bin oder ob ich im Ozean schwimme. Wenn ich das nicht vorher mache, dann mache ich vollkommen verkehrte Bewegungen. Wir sind eigentlich mehr auch so wie ein Maler, der ein Bild malt. Wenn er ein schönes Bild malt, dann nimmt er den Pinsel heraus und, dann muss er ganz nah an die Leinwand hingehen und muss das sorgfältig machen. Aber wenn er wissen will, was er gemalt hat, dann muss er den Pinsel hinlegen, zurückgehen und sagen, was habe ich gemalt, passt das da rein, drückt das aus, was ich eigentlich mit meinem Bild ausdrücken wollte? Ich will ein schönes Bild malen, aber Schönheit kann ich nicht herausfinden, wenn ich nicht herausfinden, wenn ich mit der Nase vor der Leinwand stehe.

Heise: Auf der anderen Seite sind wir natürlich nicht alle selbstbestimmte Maler, die vor einer leeren Leinwand stehen, sondern wir leben in festgefügten Strukturen, sind Sachzwängen ausgeliefert, wir leben einfach unser alltägliches Leben. Was bedeutet das dafür?

Dürr: Ja, und das ist eben unser Manko, dass wir also glauben, das Leben immer wie ein Krebs aussehen muss, wo eigentlich alles vorgeschrieben ist, und dass ich einfach nur immer sage, wachsen, wachsen, wachsen, wachsen, das ist alles, was ich brauche. Das ist genau, warum die Menschheit oder unsere Zivilisation in Gefahr ist.

Deshalb haben wir doch die Krise, weil die Welt eben anders ist. Die Welt ist eine lebendige, die gar nicht in dieses fixierte Modell hereinpasst. Aber wir machen es, dass alles, was sozusagen natürlich lebendig ist, dass wir das in den Hintergrund schieben und sagen: Wir ersetzen das durch etwas, was effizienter ist und was uns schneller zu dem bringt, was wir eigentlich jetzt vor Augen haben. Aber das hat nichts mit unserem Überleben zu tun.

Heise: Würden Sie denn sagen, wir appellieren an den Einzelnen, sich zurückzuziehen aus der Gesellschaft?

Dürr: Nein, nicht zurückzuziehen, aber gewissermaßen anzusehen, was eigentlich dahintersteckt. Viele sagen, das weiß ich gar nicht, wie das ist. Das ist eben genau, was verschüttet ist, das, was wir als Innenleben empfinden, das ist ja viel reicher als das, was wir mit unseren Augen sehen.

Heise: Können Sie sich denn vorstellen, dass die Menschen sich tatsächlich in die Richtung orientieren, die Sie für die richtige halten?

Dürr: Ja, selbstverständlich. Ich meine, alle haben die Fähigkeit, aber es wird ihnen ausgeredet, dass …

Heise: Aber sehen Sie denn die Ansätze?

Dürr: Ja, selbstverständlich sehe ich die Ansätze, ich meine, sonst würde man nicht gefüllte Hörsäle haben. Die wissen: Es kann doch nicht wahr sein, dass nur das, was wir produzieren und das, was wir begreifen, uns den Sinn des Lebens vermittelt. Insbesondere im wissenschaftlichen Bereich, die sind so überzeugt, dass die Welt, die sie sich selbst gebastelt haben, dass die ausreicht, um das alles zu verstehen, und deshalb glauben: Gebt uns ein bisschen mehr Zeit, und wir haben die Welt im Griff. Und das ist sozusagen unser Verhängnis. Dann passiert erst, dass das ganze Biosystem, in das wir eingebettet sind, kollabiert, und wir sind die Ersten, die also runterfallen, weil wir ganz oben auf der Spitze herumtanzen und sagen, wir sind die Könige dieser Welt.

Heise: Trotzdem gehen Sie optimistisch in die Zukunft?

Dürr: Ja. Ich bin optimistisch, weil ich sehe: Der Mensch ist ein wunderbares Geschöpf, er ist viel besser, als was wir so aufschreiben. Und ich sehe, dass ein großes Hindernis dabei ist, dass wir immer nur das betonen, was alles zerstörerisch ist. Und da verwende ich immer eine tibetische Weisheit, die mir hier also Kraft gibt, die sagt: Ein Baum, der fällt, macht mehr Krach als ein Wald, der wächst.

Unsere ganze Geschichte der Menschheit ist die Geschichte der fallenden Bäume, und warum wundern sich die Leute, dass überhaupt noch einer lebt von uns, bei all dieser Zerstörung und all diesen Machtballungen und so fort? Ja, der Grund ist: Wir leben noch wegen des wachsenden Waldes, aber das hält man nicht für wichtig, weil es keinen Krach macht. Und das ist genau das, was wir in unserer Beschreibung weglassen, wenn wir die Wirklichkeit – wie Meister Eckart es bezeichnet hat, Wirklichkeit, eine wirklich gute Bezeichnung für etwas, das sich dauert wandelt und ändert –, dass wir das ersetzt haben durch das Bild einer Realität, einer dinglichen Wirklichkeit, bei dem alles greifbar ist, wo wir genau das Dazwischen weglassen.

Aber wir wissen, wir empfinden doch bevor wir diese Wechselwirkung, die elektromagnetische Wechselwirkung, den Schall (…), sondern wir haben doch Verbindung von einem zum anderen Menschen, ohne dass wir von diesen physikalischen Wechselwirkungen Gebrauch machen.

Und das ist der Grund, warum unsere Zivilisation so in Schwierigkeiten ist, weil, wir negieren das, weil das würde uns ja stören, aber es hätte den Vorteil, dass wir dann verstehen würden, dass jeder von uns auch die Fähigkeit des Kreativen hat. Wir sind aufgefordert, kreativ zu sein.

Heise: Gedanken von Hans-Peter Dürr, Physiker und Träger des Alternativen Nobelpreises. Herr Dürr, ich bedanke mich recht herzlich für dieses Gespräch!

Dürr: Danke!