"Es ist etwas in Bewegung geraten"

Ulrike Dufner im Gespräch mit Joachim Scholl · 26.01.2012
Das französische Gesetz, mit dem die Leugnung der türkischen Massaker an den Armeniern unter Strafe gestellt wird, sei Wasser auf die Mühlen türkischer Nationalisten, sagte Ulrike Dufner von der Heinrich-Böll-Stiftung. Doch es gebe auch Fortschritte in der Vergangenheitsbewältigung.
Joachim Scholl: Die Türkei droht dem NATO-Partner Frankreich mit Sanktionen. Im Internet hagelt es Backpfeifen. Zehntausende von Usern in der Türkei spielen Sarkozy-Klatschen, und auch die anderen Medien, die Zeitungen und das Fernsehen, sind empört über das französische Gesetz, das in Zukunft jedem mit Strafe droht, der den Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges leugnet. Aber ist das die ganze Öffentlichkeit? Was ist mit jenen Kräften der türkischen Gesellschaft, die in den letzten Jahren immer stärker darauf gepocht haben, das historisch heißeste Eisen der türkischen Geschichte endlich anzupacken? Ich bin jetzt verbunden mit Ulrike Dufner, der Leiterin des Türkei-Büros bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. Guten Morgen, Frau Dufner!

Ulrike Dufner: Guten Morgen!

Scholl: Der allgemeine Chor der Empörung ist laut und unüberhörbar, Frau Dufner. Wie aber reagieren nun jene Türken, die schon lange und aller Anfeindungen zum Trotz sich für historische Gerechtigkeit eingesetzt haben?

Dufner: Na ja, man muss schon sagen, dass grundsätzlich auch in den Kreisen, die sich für eine Vergangenheitsaufarbeitung einsetzen und sich auch dafür einsetzen, dass man die Dinge beim Namen nennt – sprich, dass man das Wort Genozid nicht mehr in Gänsefüßchen schreiben muss –, auch bei diesen Kreisen ist Skepsis bezüglich der Motivation Frankreichs, dieses Gesetz jetzt nun zu erlassen, und grundsätzlich eher die Haltung, das schadet eher unseren eigenen Interessen hier, eine Vergangenheitsbewältigung voranzutreiben, weil es natürlich, wie man ja jetzt sieht, eher die nationalistischen Kräfte erneut zum Aufschrei bringt. Und auf der anderen Seite aber gibt es durchaus immer mehr Stimmen, und die hat man in den vergangenen Tagen auch von Menschenrechtsaktivisten und eben von den Kreisen gehört, die sich für die Vergangenheitsbewältigung aussprechen, dass es jetzt auch ungünstig gewesen wäre, wenn Frankreich dieses Gesetz nicht verabschiedet hätte und quasi dem Druck der Türkei nachgegeben hätte, dann wäre das sozusagen wie eine Ohrfeige in den Bemühungen im eigenen Land gleichgekommen. Also es gibt beide Interpretationen.

Scholl: Nun heißt es in der türkischen Öffentlichkeit, Frankreich habe sich dem Druck der zirka 600.000 Exil-Armenier, die in Frankreich leben, gebeugt. Wie wichtig ist dieses Gesetz denn den Armeniern in der Türkei?

Dufner: Die Armenier in der Türkei – ich glaube, man muss wirklich unterscheiden zwischen denjenigen Armeniern, die in der Türkei leben und denjenigen im Exil plus eine dritte Gruppe, die Armenier in Armenien selbst –, für die Armenier in der Türkei geht es im Wesentlichen darum, ihre Rechte als nichtmuslimische Minderheit hier anerkannt zu bekommen und gleichberechtigt zu sein. Das heißt, ihr Hauptanliegen ist eigentlich die Demokratisierung der Türkei selbst. Für sie ist sozusagen die Anerkennung des Genozids zweitrangig. Sie sind deswegen auch durchaus in einem konfliktiven Spannungsverhältnis mit den Armeniern im Exil und auch in Armenien selbst. Das, was die Armenier hier in der Türkei versuchen, ist eben, eher zukunftsgewandt die Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien zu verbessern, und hoffen eigentlich, darüber langsam aber sicher schrittweise sozusagen sich auch dieser Vergangenheit stellen zu können.

Scholl: 30.000 Menschen haben vergangene Woche demonstriert gegen die Urteile, die im Prozess um den politisch motivierten Mord an dem Armenier, dem Journalisten Hrant Dink, gefällt wurden. Die Menge skandierte: Wir alle sind Armenier. Wie stark ist denn diese andere, kritische Öffentlichkeit in der Türkei einzuschätzen, Frau Dufner?

Dufner: Also ich denke, die Tatsache, dass an einem normalen Arbeitstag mittags 30.000 Menschen in Istanbul auf der Straße waren – die sind ja auch nicht alle aus Istanbul gewesen, die kamen aus anderen Städten der Türkei angereist, haben dafür Urlaub nehmen müssen –, das bedeutet, das ist schon ein Signal dafür, dass es sich nicht um eine kleine marginale Minderheit handelt, die unzufrieden mit der Situation in der Türkei ist, insbesondere, was die demokratischen Standards anbelangt, aber eben auch die Rechte von nicht nicht-muslimischen Minderheiten, aber auch ethnischen Gruppen wie der Kurden, anbelangt. Das heißt, man kann, wenn man sich überlegt, dass vor fünf Jahren bei der Beerdigung von Hrant Dink Hunderttausende von Menschen auf der Straße waren, dann denke ich, ist das keine kleine Gruppe, von der man sprechen kann. Aber natürlich, im Vergleich jetzt zu der 70-Millionen-Bevölkerung letztlich dann doch marginal.

Scholl: Die Türkei und das französische Gesetz zur Leugnung des Völkermords an den Armeniern – wir sind im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Ulrike Dufner von der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul.

Bis zu 1,5 Millionen Menschen sind damals umgekommen in der Zeit des Osmanischen Reiches. Die gesamte westliche Welt ist sich einig, dass es ein Genozid, ein Völkermord an den Armeniern war. Es hat lange gedauert, bis die Türkei überhaupt die Massaker als historische Tatsache anerkannte. Offiziell wird jetzt von kriegsbedingten Opfern gesprochen, und auch nur von 300.000. Man hatte aber auch von auswärts den Eindruck, Frau Dufner, dass sich allmählich doch auch offiziell ganz langsam etwas tat. Wie ist Ihr Eindruck? Wie offen kann man inzwischen von dieser Geschichte des Landes sprechen?

Dufner: Also tatsächlich kann man beobachten, dass sowohl auf der Seite der Regierungsebene als auch in der politischen Elite und der politischen Parteien tatsächlich das Wort Genozid auch in den Mund genommen werden kann, wenn auch immer sogenannt. Man nennt es eigentlich den "sogenannten Genozid" mittlerweile, aber das ist ja schon ein Symbol, das hätte man vor fünf Jahren oder sechs Jahren so überhaupt nicht machen können. Es ist etwas in Bewegung geraten, allerdings eben nicht so weit, dass man das als eine Aufgabe der Politik bezeichnet, sich dieser Vergangenheit zu stellen. Man sagt immer noch, das ist die Aufgabe von Historikern.

Dennoch sieht man, dass auf der zivilgesellschaftlichen Ebene seit ungefähr sieben Jahren zunehmen, die sich dieser Vergangenheit stellen, und die sowohl auf das gute Zusammenleben vor den Genozid aufmerksam machen, und auch eben genau diesen offiziellen Thesen – es handelt sich um Aufständische im Osten des Landes, die damals eben kriegsbedingt dann eben auch bekämpft werden mussten –, dagegen gibt es zunehmend eben auch Dokumentationen, Fotoausstellungen, die zeigen, dass Armenier in der gesamten Türkei, der heutigen Türkei gelebt haben, und die geben den Armeniern selbst auch wieder ihre Heimat zurück. Das ist auch ein ganz wichtiger Aspekt.

Scholl: Aber wenn sich sozusagen diese kritische Öffentlichkeit doch sehr teilt von der politischen Klasse – ich meine, der Genozid an den Armeniern oder die mangelnde Aufarbeitung des Genozids ist der größte Stolperstein der Türkei auf dem Weg in die EU. Gibt es da überhaupt eigentlich keine Verbindungslinien, wird denn hier eigentlich auch sozusagen in der Öffentlichkeit Druck gemacht auf die Politik, die natürlich auch sagen kann, wir wollen in die EU, aber mit dieser Linie ist es nicht zu schaffen?

Dufner: Ich glaube, dass der EU-Beitrittsprozess als Hebel nicht der geeignetste ist, weil das würde in der Türkei und, ich glaube, in weiten Kreisen der politischen Klasse Proteste hervorrufen. Man würde ein neues Kriterium für den EU-Beitrittsprozess einführen. Das, was eher, glaube ich, im Vordergrund steht, ist, dass man sagen muss, man fordert demokratische Standards, und um überhaupt zu diesen Standards zu kommen, muss man sich der Vergangenheit stellen. Ich glaube, der Hebel hier ist immer die Demokratisierung des Landes, und ein weiteres Kriterium aufzustellen - Anerkennung von offizieller Seite, dass es ein Genozid war -, das ist ein Prozess, der wesentlich länger dauert, und das würde sozusagen die Perspektive, der EU beitreten zu können, doch deutlich in die Zukunft verlagern, was gerade die Kreise, die sich hier für Demokratisierung einsetzen, natürlich überhaupt nicht wollen.

Scholl: Inwieweit kann und wird das französische Gesetz denn nun diese Diskussion befördern oder behindern? Leistet es so allen kritischen Kräften der Türkei eventuell einen Bärendienst?

Dufner: Ich meine, es ist ja interessant, dass gestern und auch heute in den Medien eher zu lesen ist, dass die Regierung hier sagt, na ja, wir haben noch Geduld. Man hofft sozusagen immer noch, dass zusammen dieses Gesetz zurückgeholt wird in Frankreich. Das heißt, man will eigentlich auch auf der türkischen offiziellen Seite noch versuchen, auch seine diplomatischen Kontakte auszuspielen.

Sollte es bei diesem Gesetz bleiben, denke ich, ist es erst mal kurzfristig nicht günstig für diejenigen, die sich für Vergangenheitsbewältigung einsetzen, weil man natürlich sofort irgendwie dann mit in den Ruch gerät, angeblich im Interesse ausländischer feindlicher Kräfte zu arbeiten. Das ist immer sozusagen ein Totschlagsargument insbesondere von nationalistischer Seite. Das heißt, man wird vorsichtiger sein müssen, was man sagt in den nächsten Wochen. Insbesondere natürlich am Jahrestag, am 24. April, des Genozids. Auf der anderen Seite weiß die türkische Regierung – ich glaube, das ist auch ein wichtiger Punkt –, dass 2015 sich dieser Genozid zum 100. Mal jährt, und dass dann das in der internationalen Öffentlichkeit diskutiert wird, und sich auch die Regierung darauf einstellen muss, dass sie nun nicht die ganze Welt zum Feind erklären kann.

Scholl: Das französische Gesetz zum Genozid an den Armeniern und die Reaktionen in der Türkei – das war Ulrike Dufner von der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. Ich danke Ihnen für das Gespräch!

Dufner: Gerne, Wiederhören!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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