"Es gibt das Böse, ja"

Gisela Friedrichsen im Gespräch mit Vladimir Balzer · 05.04.2012
Nach 20 Jahren in deutschen Gerichtssälen hat Gisela Friedrichsen den Glauben an das Gute im Menschen verloren. Nicht alle Taten seien durch Sozialisation oder psychische Defekte zu begründen. Eine Straftat zu begehen, gebe vielen Tätern sogar "einen Kick".
Vladimir Balzer: Sie ist Deutschlands wohl bekannteste Gerichtsreporterin: Gisela Friedrichsen. Seit 20 Jahren schreibt sie für den Spiegel und hat die schlimmen Fälle alle durch. Kindsmörder, Vergewaltiger, Entführer, aber auch prominente Angeklagte, von Erich Honecker über Peter Hartz bis zu Jörg Kachelmann. Wir haben sie eingeladen, grundsätzliche Dinge wie das Böse und die Schuldfähigkeit zu besprechen. Zunächst noch einmal der Hirnforscher Hans Markowitsch. Er bezog sich heute Morgen im Gespräch mit uns auf die Paragrafen im Strafgesetzbuch, die die Schuldfähigkeit einschränken.

Hans Markowitsch: Ich sage aber, im Grunde muss man die Paragrafen auf jeden Straftäter anwenden, weil jeder Straftäter letztendlich determiniert ist durch seine Vorgeschichte, durch seine Genetik, durch die Lebensumstände, und deswegen gar nicht die Alternative gehabt hat, anders zu handeln, als er eben gehandelt hat. Das klingt jetzt sehr fatalistisch, bedeutet aber auf der anderen Seite auch, wenn man die Lebensumstände ändert, wenn man korrigierend einwirken kann, wenn man bei der Kindererziehung schon frühzeitig bestimmte Determinanten forciert, andere weglässt, dann kann man Personen auch so verändern, dass sie von der Gesellschaft voll anerkannt werden und sich gesellschaftlich integrieren.

Balzer: Der Hirnforscher Hans Markowitsch. Er will also, dass deutlich mehr Rücksicht genommen wird auf die Dispositionen von Tatverdächtigen und auch die Prägungen durch die Physiologie. Gisela Friedrichsen, die Frage an Sie: Ist es eine Forderung, die Sie unterstützen würden?

Gisela Friedrichsen: Ich sehe eigentlich das Problem auf diesem Gebiet nicht ganz so wie Herr Markowitsch, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit eines Straftäters ja durchaus auch die körperliche Untersuchung dazugehört. Das heißt, es wird also geguckt, ob er einen Hirnschaden hat, ob er normgerecht reagiert, es wird eine Fülle von Tests, werden gemacht, im Zweifelsfall wird auch das Gehirn untersucht. Also die Forderung, dass man jeden auf seine Schuldfähigkeit überprüfen muss, das geht mir eigentlich zu weit, denn ich meine, der Grundfehler in meinen Augen, den manche Hirnforscher machen, die lieber von der Determinierung des Menschen als vom freien Willen sprechen, dieser Grundfehler ist meiner Meinung nach, das anzunehmen, dass der Straftäter sich gegen die Straftat entschieden hätte, wenn er denn nur gekonnt hätte. Und da frage ich mich, wie kommen wir eigentlich dazu, dieses anzunehmen. Es gibt durchaus Menschen, die genießen es, eine Straftat zu begehen, das gibt ihnen einen Kick. Grundsätzlich anzunehmen, wir müssen immer davon ausgehen, dass der Mensch lieber anständig ist als unanständig, das ist, meine ich, ein Fehler.

Balzer: Aber sind denn – ich sage mal – diese physiologischen, neurologischen Aspekte in der letzten Zeit in der deutschen Justiz genug berücksichtigt worden?

Friedrichsen: Wenn ich die Diskussion richtig verfolgt habe, dann müssen die Hirnforscher, wenn es dann zum Schwur kommt, letztlich doch immer zugeben, dass sie eigentlich noch viel zu wenig wissen, dass sie zwar durch die bildgebenden Verfahren durchaus bestimmte Beobachtungen machen können – das ist auch was Faszinierendes, wenn man sieht, also wenn man einem Pädophilen Bilder zeigt von Kindern, dann werden andere Regionen in seinem Gehirn aktiv, als wenn man einem Nicht-Pädophilen solche Bilder zeigt. Das hat natürlich irgendwie etwas Faszinierendes, Bilder haben immer etwas Faszinierendes, aber was sagt das letztlich für die Praxis des Strafrechts, der Juristen? Also da gibt es ja eindeutige Äußerungen von BGH-Richtern, zum Beispiel von Axel Boetticher, der ja eben sagt: In der praktischen Arbeit können wir überhaupt nichts mit diesen ja auf ganz, ganz schmaler empirischer Basis stattfindenden Untersuchungen etwas anfangen. Also das steckt noch so in den Kinderschuhen, dass wir uns mit unseren herkömmlichen Maßstäben der Beurteilung der Schuldfähigkeit – da kommen wir sehr viel weiter.

Balzer: Gab es da schon Fälle, die Sie beobachten konnten, wo es da einen Streit gab zwischen Gericht und Verteidigung zum Beispiel um die Schuldfähigkeit von Verdächtigen, gerade vor dem Hintergrund von neurologischen, physiologischen, ich sage mal deterministischen Faktoren?

Friedrichsen: Ich weiß, dass es Streit gab zum Beispiel im Fall des Kannibalen, der bis heute, meine ich, eine …

Balzer: Von Rotenburg der Kannibale?

Friedrichsen: … genau, dass das also bis heute in der Wissenschaft ein ganz umstrittener Fall ist, den hat man für voll schuldfähig erklärt und hat es festgemacht daran, dass er ja, bevor er dann sein Opfer fand, also eine Fülle von Begegnungen mit anderen jungen Männern hatte, mit denen er dann seine Spielchen da gemacht hat und die auch eine ganze Weile da drauf eingegangen sind, aber dann eben im entscheidenden Moment dann gesagt haben: Nein, also das geht mir jetzt dann doch zu weit. In dem Moment war er nicht mehr interessiert an ihnen, und da hat man dann abgeleitet davon, na ja, er konnte ja sich auch gegen eine Straftat entscheiden. Nur da, meine ich, war der Fehler, dass das zu dem Szenario, von dem er sein ganzes Leben lang geträumt hat, eben nicht passte. Da passte nicht ein Partner, der irgendwann sagt: Nein, danke, es reicht. Sondern er suchte nach dem Menschen, der einverstanden war damit, der das Gleiche wollte wie er, und als er den gefunden hatte, da, meine ich – also das war mein … ich bin Laie, Entschuldigung, das muss ich immer wieder dazu sagen –, aber da wurde er dann von seinen Fantasien so übermannt und überrannt, dass er da nicht mehr aufhören konnte. Ob das die richtige Entscheidung war, dann zu sagen, der Mann ist voll schuldfähig, da würde ich ein großes Fragezeichen machen.

Balzer: Das erinnert mich auch an das Beispiel aus Norwegen von dem Massenmörder Anders Breivik, dem ja auch zwei Psychiater sozusagen zugestanden haben, paranoide Schizophrenie zu haben. Der Prozess beginnt ja in zwei Wochen, und er selber empfindet das als große Niederlage, als Schizophrener bezeichnet zu werden. Also er will als voll zurechnungsfähig angesehen werden.

Friedrichsen: Und man könnte natürlich sagen, einer, der 1.000 Seiten zu Papier bringt und dann seine Gedanken da niederlegt, der kann so irre nicht sein, aber, ich weiß nicht, man darf, glaube ich, nicht den Fehler machen, dass man gerade so schwer gestörte Personen danach beurteilt, ob sie sich also innerhalb ihres gestörten Systems auch dann zeitweise ganz normal oder geordnet verhalten, das gehört vielleicht mit dazu. Also ich denke, diese ganze Frage der Psyche, was ist eigentlich mit unserer Psyche los, was passiert im Gehirn, da ist noch so viel Aufklärungsbedarf, da stehen wir so ganz am Anfang. Auf diesen Zug, da freudig aufzuspringen, sagen, ja, jetzt wissen wir, dass auch die schlimmsten Täter eigentlich gar nicht anders konnten, das ginge mir viel zu weit, denn mir gefällt da eigentlich die Argumentation von Hans-Ludwig Kröber, dem Berliner forensischen Psychiater gut, der sagt: Wenn ich dem Menschen die Verantwortung über sich selbst abspreche, dann nehme ich ihm auch seine Menschenwürde, dann ist er kein Bürger mehr mit seinen Rechten, sondern dann ist er nicht mehr satisfaktionsfähig, dann ist er nicht mehr ernst zu nehmen, dann ist er geistesgestört.

Balzer: Wir sind im Gespräch mit Gisela Friedrichsen, der Gerichtsreporterin, über das Böse und die Strafjustiz. Die Frage ist natürlich, inwieweit es letztlich einen freien Willen, ein ganz Bei-sich-Sein bei einem Tatverdächtigen wirklich gibt. Ich meine, andere Begleitumstände bei Straftätern werden ja immer wieder berücksichtigt, also Alkohol, Drogen, Affekt, eigene Traumata, biografische Einschnitte.

Friedrichsen: Ja, durchaus.

Balzer: Das alles spielt ja auch eine Rolle für die Strafjustiz. Am Ende bleibt dann doch die Frage, gibt es den wirklich freien Willen, glauben Sie an ihn?

Friedrichsen: Also ich glaube durchaus an ihn, einfach aus dem Grund, weil nur durch die Frage der Schuld kann man auch irgendwie reagieren, man kann einen Menschen nicht bestrafen, wenn er keine Schuld trägt für das, was er getan hat, wenn er keine Verantwortung dafür hat. Ein Psychotiker zum Beispiel, der eine schwere Straftat begeht, der wird nicht bestraft werden, da wird es einen Freispruch geben, gleichwohl lässt man ihn natürlich nicht laufen, sondern er kommt dann in eine geschlossene Abteilung einer Psychiatrie. Aber in dem Moment, wo man aus dem Lebenslauf beziehungsweise auch aus dem Verhalten um die Tat herum sehen kann, dass dieser Mensch sehr wohl fähig war, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und sich auch zu entscheiden, verhalte ich mich jetzt so oder so, meine ich, dass man nur dann eine Reaktion der Gesellschaft auf diese Tat dann finden kann, wenn man demjenigen zubilligt, dass er eben ein Mensch ist und eben kein Tier, das von Instinkten geleitet oder nur dressiert ist.

Balzer: Weil Sie gerade vom Unterschied zwischen Gut und Böse gesprochen haben, Gisela Friedrichsen, gab es denn für Sie Fälle, wo Sie selbst als Beobachterin nicht mehr unterscheiden konnten zwischen Gut und Böse, weil es zuweilen einfach zu nah nebeneinander lag?

Friedrichsen: Es gibt immer Fälle, wo man feststellt, dieser als Täter Angeklagte ist im Grunde auch ein Opfer seiner Umstände, seiner Umwelt gewesen, das ja. Manchmal hat man den Eindruck, dass man sagt, ja, in dieser Situation, da war dieses Verhalten des Angeklagten vielleicht durchaus nachvollziehbar – aber deshalb war es nicht gerechtfertigt oder richtig.

Balzer: Und Sie konnten und können immer auch diesen Begriff – das Böse – verwenden?

Friedrichsen: Wissen Sie, manchmal erlebt man Fälle, wo man dann eigentlich mit sich selbst ins Gericht geht und sagt: Ja, es muss das Böse geben, denn sonst hätte diese Tat so nicht stattfinden können.

Balzer: An welchem Beispiel?

Friedrichsen: Wenn Sie mit angehört hätten, wie damals dieser Angeklagte, der den kleinen Jakob von Metzler umgebracht hat, wie der die Tat geschildert hat, das war so entsetzlich, dass ein Mensch zu so etwas fähig ist, da komme man mir bitte nicht damit, dass der nicht anders gekonnt hätte. Der wollte das so, der hatte diesen Entschluss, diesen Tatentschluss schon lange vor der Tat gefasst, und als dann die Situation da war, da hat er das gemacht, um an Geld zu kommen. Und da war nichts von wegen, er hätte nicht anders gekonnt oder seine Triebe oder was weiß ich sind mit ihm durchgegangen. Nein, er wollte zu Geld kommen, und da war ihm diese Tötung dieses Kindes recht. Und wenn Sie so was miterleben, dann geht man dann aus dem Gericht heraus und sagt, es gibt das Böse, ja.

Balzer: Gisela Friedrichsen, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Friedrichsen: Gerne!

Balzer: Die Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen über das Böse und die Strafjustiz in unserer Serie über das Böse in dieser Karwoche. Und unsere Gespräche, unsere Themen zu dieser Serie finden Sie auch unter dradio.de.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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