"Es geht um 25 Minuten Text"

Burkhard Spinnen im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 24.06.2009
Beim Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis versucht der Jury-Vorsitzende Burkhard Spinnen nach eigenen Worten allen Urteilen anderer aus dem Weg zu gehen. Der Autor hinter dem Manuskript interessiere ihn dabei weniger, sagte der Schriftsteller. In Klagenfurt finden derzeit die Tage der deutschen Literatur statt.
Stephan Karkowsky: Literatur können Sie privat genießen - quasi nebenbei oder öffentlich auf ein Podest gestellt als Spektakel wie beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, der heute Abend im Rahmen der 33. Tage der deutschsprachigen Literatur vor laufenden Fernsehkameras eröffnet wird - wie immer im österreichischen Klagenfurt. Ich begrüße dazu den Juryvorsitzenden Burkhard Spinnen. Guten Morgen, Herr Spinnen!

Burkhard Spinnen: Guten Morgen!

Karkowsky: Der Bachmann-Preis geht in die Reform der Reform. Voriges Jahr lasen erstmals nur noch 14 statt 18 Autoren vor nur noch 7 statt 9 Juroren, und das bleibt auch in diesem Jahr so. Aber die Preisverleihung, die ist nun doch wieder am Sonntag und nicht wie voriges Jahr bereits am Samstag. War das eigentlich Ihr Vorschlag, die alte Regel wieder einzuführen?

Spinnen: Eine Bitte, die von sehr vielen geäußert worden ist, darunter auch von mir, ja.

Karkowsky: Warum denn?

Spinnen: Ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können, wie es im Kopf aussieht, nachdem man 14 Texte gehört hat und dann darüber ein Urteil fällen soll, was ja sowieso schon eine sehr schwierige Angelegenheit ist zu sagen, dieser Text ist besser als der andere. Wenn man Leute laufen lässt, kann man irgendwo ein Band aufstellen, und wer als Erster ankommt, hat gewonnen. Deswegen wird ja auch so gerne Sport geguckt, weil es da Evidenzen gibt. Die gibt’s bei der Bewertung, bei der Beurteilung von ästhetischen Produkten nicht so offensichtlich. Und da ist es vielleicht ganz gut, wenn man, nachdem man das drei Tage lang gemacht hat, sich drei Tage lang Gedanken darüber gemacht hat, ein paar Stunden und vor allen Dingen – was ich für außerordentlich wichtig halte – eine Nacht hat, um das alles noch einmal gründlich zu bedenken, bevor man dann in dieses Abstimmungsverfahren geht.

Karkowsky: Wie wichtig ist denn da der Abstand zur Reaktion des Publikums, um unabhängig entscheiden zu können? Voriges Jahr waren Sie sich ja mit dem Publikum einig, erstaunlich einig, haben viele Kommentatoren geschrieben. Tilman Rammstedt hatte erst die Lacher auf seiner Seite und am Ende auch die Jury.

Spinnen: Die Jury, jedenfalls eine Mehrheit der Jury muss man ja immer dazusagen, die Urteile fallen nicht einstimmig, sondern zum Beispiel mit vier zu drei Stimmen, die einfache Mehrheit genügt. Dazu kommt das Publikum im Saal, das immer so einen gewissen Resonanzraum bildet, bei dem man aber keineswegs sagen kann, das ist jetzt also repräsentativ für die gesamte Zuhörerschaft vorm Fernseher oder im Internet ist. Und dann gibt’s ja noch das Publikum am Fernseher, das sich an der Abstimmung um den Publikumspreis beteiligen kann. So etwas, so die Anwesenheit von Publikum, auch Sätze auf dem Gang oder draußen haben schon einen gewissen Einfluss auf das eigene Urteil. Ich versuche, während der drei Tage möglichst vielem davon aus dem Weg zu gehen, so ein bisschen wie die amerikanischen Jurys, wissen Sie, bei den Geschworenengerichten, die dann so in einem Hotel weggetan werden und nicht mal Zeitung lesen dürfen.

Karkowsky: Aber die Ergebnisse für 2008, die müssen wir jetzt nicht aus den Archiven streichen, nur weil Sie da weniger Zeit zum Nachdenken hatten, oder?

Spinnen: Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube nicht, dass es dadurch zu gewaltigen Verzerrungen gekommen ist. Es war auch so, dass sich da Texte doch relativ natürlich durchsetzten. Aber ich hatte schon das Gefühl, dass es besser gewesen wäre, wenn ich mehr Zeit gehabt hätte und die ganze Veranstaltung. Der kommt das gut zu, dass sie im Ganzen etwas länger dauert. Sie wissen ja, das wird immer der schönste Betriebsausflug der deutschsprachigen Literaturszene genannt. Es kommen Leute von sehr weit her dorthin, die sich vielleicht ansonsten nur auf der Buchmesse sehen, und auf der Buchmesse kann man nicht vernünftig miteinander reden. Es ist ein Ort, an dem viele Begegnungen stattfinden und an dem auch außerhalb des eigentlichen Bewerbs viel geredet wird. Dafür war außerordentlich wenig Zeit beim letzten Mal, und das ist jetzt wieder aufs althergebrachte Niveau zurückgeführt worden.

Karkowsky: Die Bachmann-Juroren, denen Sie vorstehen, die gehören selbst zum Literaturbetrieb, sind Schriftsteller, Literaturkritiker, Übersetzer. Die Teilnehmer werden von den Juroren ausgewählt und eingeladen, und in diesem Jahr sind ja vier von sieben Juroren zum ersten Mal dabei. Lassen sich anhand der ausgewählten Autoren und Texte 2009 neue oder andere ästhetische Vorlieben erkennen?

Spinnen: Oh, wenn ich dazu was sagen würde, würde ich schon gegen eines der großen Gesetze des Bachmann-Preises verstoßen.

Karkowsky: Ich dachte, ich könnte Sie verführen hier.

Spinnen: Ach, nee, das ist schon mehrfach versucht worden. Das macht die Angelegenheit ja so speziell und so besonders. Eine Jury ist normalerweise, denkt man sich und hat man dann auch recht, etwas, das also sich in einen Raum begibt, die Tür zumacht und dann findet da alles Mögliche statt. Da findet Literaturkritik statt, da findet ästhetischer Diskurs statt, da findet Diplomatie statt, vielleicht findet da auch Ökonomie statt, ich will’s nicht hoffen. Und dann kommen die halt raus und weißer Rauch und dann haben sie jemand. Und dann gibt’s ein Kommuniqué, und das haben alle unterschrieben. Das ist eben anders beim Bachmann-Preis. Der Bachmann-Preis soll vorführen, wie schwierig es ist, ein Urteil zu finden. Er soll allen Leuten, die da sind, und allen, die am Fernsehgerät zugucken, zeigen, dass das keine einfache Handwerksarbeit ist, einen Text zu nehmen, noch einen Text und noch einen und dann den besten daraus auszuwählen, sondern dass so etwas in Gesprächen mit Rede und Gegenrede passiert, dass das Menschen sind mit ihrem Irrtumsvermögen, ihrer Emotionalität, ihrer Spontaneität, all dem, was sie so aus ihrem ganzen Leben mitbringen, Menschen, die dieses Urteil fällen und die sich in diesem Moment zu einer Jury zusammentun, die dann schließlich mit einer Mehrheit, es ist ja eine ungleiche Zahl von Juroren, sich zu einem solchen Urteil durcharbeiten und abstimmen wird. Und dabei zuzusehen, das ist die ganz wichtige Angelegenheit. Da darf man auch nie vergessen, das was ich immer sage - also das war jetzt, der hat jetzt den Bachmann-Preis gekriegt - ich rate dann immer auch, sich, was man kann, also man kann das in der Publikation, die dazu gemacht wird, man kann das im Internet in den Archiven nachgucken, da kann man nachvollziehen, auf der Basis welcher Besprechungen, welcher Einzelurteile es zum Gesamturteil gekommen ist. Und das ist für viele Leute – ich weiß das, weil ich mit vielen gesprochen habe –, für viele Leute steht das im Mittelpunkt, zu sehen, wie wirkt ein Text auf einzelne Menschen, wie versuchen sie, das zu artikulieren und wie versuchen sie, aus dieser Einzelartikulation dann einen ästhetischen Diskurs zu machen. Das ist für mich das Wichtige. Dass dann am Schluss abgestimmt werden muss, weil es in den allerseltensten Fällen so ist, dass alle aufstehen und sagen aus einem Mund: Das ist der Erste, das ist der Zweite und das der Dritte. Dass dann abgestimmt werden muss, ist ja eine Hilfskonstruktion. Es ist ein Hilfskonstruktion, um die Preise dann vergeben zu können. Und das ist für mich, 49 Prozent der Veranstaltung sind die Preise, 51 Prozent der Veranstaltung ist dieser Vorgang: das Erscheinen von Literatur und das Erscheinen von Reaktionen darauf.

Karkowsky: Sie hören im Deutschlandradio Kultur den Vorsitzenden der Jury des diesjährigen Bachmann-Wettbewerbes, Burkhard Spinnen. Herr Spinnen, reden wir über die Teilnehmer. Da kommt ja dieses Jahr keiner aus den etablierten Schreibschulen – Leipzig, Hildesheim –, oder wird das in den Lebensläufen gar nicht mehr erwähnt?

Spinnen: Wenn ich Ihnen jetzt doch eine Kleinigkeit verraten darf, dann die, dass ich mich mit den Personen der Beteiligten so wenig wie möglich auseinandersetze.

Karkowsky: Aha, warum das?

Spinnen: Weil es da Preise für Texte gibt. Ich bin auch schon mal in Jurys gewesen, in denen es Preise für Autorinnen und Autoren gab. Das heißt, die reichten drei, vier Bücher ein, vielleicht sogar ein paar unveröffentlichte Manuskripte, und dann saß man in einem Kreis zusammen und sagte: Wem geben wir diesen Preis, vielleicht ein Aufenthaltsstipendium? Ich bin mal eine Zeit lang in der Jury für die Villa Massimo gewesen und so weiter. Und da hat man von vorne bis hinten nachgedacht, in welches Leben passt das vielleicht am besten und wer hat mit dem, was er bis jetzt gemacht hat, vielleicht den, ja, sagen wir mal den größten Anspruch darauf erworben. Das zählt aber in Klagenfurt alles gar nicht. Es geht um 25 Minuten Text. Da kann kommen, wer will, kann Vorgeschichte haben, wie er will, das alles versuche ich, so gut es eben geht, und alle anderen sind dazu auch angehalten, aus den Köpfen herauszubekommen. Und die Praxis, die Vergangenheit hat immer wieder gezeigt, dass Leute mit großen Auspizien da angekommen sind, vielleicht wegen eines großen Preises im Vorfeld, und mit den 20 Seiten nicht reüssieren konnten, und andersrum.

Karkowsky: Ist das denn möglich, eine solche Trennung zu vollziehen, dass Sie selbst etwa, nehmen wir mal an, Sie hätten einen Neurologen und eine Religionspädagogin eingeladen, können Sie das wirklich von den Texten trennen?

Spinnen: Ein bisschen blöd ist, dass man voreingenommen ist, das heißt, man hat ja zwei Leute selbst ausgewählt, mit denen hat man besprochen, persönlich gesprochen, sich vielleicht sogar getroffen und so weiter, und von denen weiß man ein wenig mehr. Das würde ich manchmal gerne vermeiden können, aber das ist eben leider psychotechnisch nicht machbar. Aber ich sag Ihnen ein Beispiel dazu: Wenn ich einen Romanauszug einlade, der mir vorgelegt worden ist, der mir geschickt worden ist, 20 Seiten aus einem Roman, und ich arbeite mich in die Richtung zu sagen, ich glaube, das könnte was sein, der kommt auf jeden Fall schon mal auf den Stapel mit den zwei Pluszeichen, dann werde ich eins auf jeden Fall nicht tun: hingehen und den Autor oder die Autorin um das ganze Manuskript bitten. Ich gehe dann auch nicht hin und lese, so ich es noch nicht kenne, Vorgängerbücher, falls es sie gegeben haben soll. Das alles spielt ja für die Jury, für die anderen Juroren, und spielt für das Publikum, das zuhört, ja gar keine Rolle. Es geht ja immer nur um genau diesen Text. Und diese Experimentalsituation versuche ich so rein wie möglich zu halten.

Karkowsky: Das machen ja die Feuilletonisten ganz anders, und die Kritiker, die wiederum den Bachmann-Wettbewerb bewerten müssen, die stellen zum Beispiel fest, dass von den deutschen Teilnehmern alle aus Berlin kommen, bis auf einen. Das überrascht Sie jetzt aber auch nicht, oder?

Spinnen: Nee, das überrascht mich nicht wirklich. Ich bin auch ganz knapp daran gescheitert, nach Berlin zu gehen. Wenn Sie’s nicht weitersagen: Meine Frau war damals zum ersten Mal schwanger und trotz Mauerfall hat das nicht so richtig geklappt mit dem Berliner-Werden. Aber letztlich sind wir alle Berliner, und wenn die Lebenssituation das zulässt, dann zieht man eben da hin. Da ist es interessant für Literatur, da tut sich ne ganze Menge. Da sind sehr viele Veranstaltungen, und vielleicht ist da auch dieses Gefühl, nah an etwas dran zu sein. Also eine Berliner Zeit in meinem Leben hätte ich mir auch sehr gerne gegönnt, hat leider nicht geklappt.

Karkowsky: Es liegt also jetzt ein Literaturmarathon vor Ihnen. Wann steht der fest, der neue Bachmann-Preisträger?

Spinnen: Am Sonntagmorgen. Die Abstimmung ist wieder in die Kühle und in die reflexionsintensive Phase des Sonntagmorgens gelegt worden, also es ist wieder eine Matinee und kein Main-Event am Samstagabend. Und dann wird es diese Abstimmung mit diesen immer wieder großen Überraschungen geben, und dann wird der Versuch unternommen, quasi in Zahlen zu fassen, was vorher als Gespräch, als kritisches Gespräch existiert hat. Dabei gibt’s, wenn es Überraschungen gibt, gibt’s Überraschungen, wenn’s keine sind, dann sind es keine. Im Rückblick auf all die Jahre, an denen ich teilgenommen habe, oder die Jahre, die dokumentiert sind, hält sich das, glaube ich, die Waage.

Karkowsky: Heute wird er eröffnet im österreichischen Klagenfurt, der Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. Morgen beginnen dann die Lesungen. Sie hörten dazu den Jurypräsidenten Burkhard Spinnen. Herr Spinnen, vielen Dank!

Spinnen: Gerne.