Es bildet sich eine "ethnische Unterschicht"

Moderation: Jürgen König |
Der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann hat vor der Entstehung einer "ethnischen Unterschicht" in deutschen Großstädten gewarnt. Da viele Jugendliche mit Migrationshintergrund keinen Schul- oder Berufsabschluss erreichten, drohe die daraus resultierende Perspektivlosigkeit in Gewalt umzuschlagen, sagte der Mitgründer des Georg-Simmel-Zentrums.
Jürgen König: Es ist etwas Einzigartiges, was da jetzt am Wochenende in Berlin gegründet wird. Das neue Forschungsinstitut der Berliner Humboldt-Universität bringt unter dem Namen des 1918 verstorbenen großen Soziologen Georg Simmel Fachleute aus der Soziologie, der Ethnologie, der Psychologie und der Geografie zusammen, um den Charakter moderner Großstädte zu untersuchen, und man beginnt gleich mit einer Konferenz. Unter der Überschrift "Jugendunruhen, Stadt, Migration" wollen Experten versuchen Zusammenhänge zu erkennen zwischen gesellschaftlicher Ausgrenzung und der Gewalt junger Einwanderer oder Einwandererkinder. Dabei geht man aus von den Gewaltausbrüchen in französischen Vorstädten und fragt dann, inwieweit derartige Exzesse auch in Deutschland möglich oder gar zu erwarten wären, und wie es überhaupt in deutschen Großstädten bestellt ist um Jugendkulturen und Integrationspolitik. Mit dabei, natürlich mit dabei einer der Gründer des neuen Georg-Simmel-Zentrums, der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann. Guten Morgen!

Hartmut Häußermann: Guten Morgen!

König: Wohl verstanden, wir reden hier nur über die, die auch auf der Konferenz Thema sind, über gewalttätige Jugendliche nichtdeutscher Herkunft. Man hört und liest inzwischen oft, Herr Häußermann, diese Jugendlichen würden von Jahr zu Jahr gewalttätiger, viele würden kaum noch Regeln akzeptieren, hätten zunehmend vor nichts und niemandem mehr Respekt. Sehen Sie das auch so?

Häußermann: Ja, das berichten Lehrer und Schulrektoren oder Jugendrichter, dass das so sei, dass es also eine kleine Gruppe, eine relativ kleine Anzahl von Jugendlichen gibt, die immer wieder auffällig werden, die immer brutaler werden. Wir können das selber natürlich nicht beobachten und untersuchen, aber wir setzen uns mit diesem Phänomen auseinander.

König: Das verstehe ich nicht ganz, die Antwort, also ist das so, ist das eine Tendenz, die Sie auch feststellen, oder?

Häußermann: Nee, das ist nicht unser Thema, ob jetzt die Jugendgewalt direkt, was Ihre Frage war, ob die intensiver wird, ob die brutaler wird, das untersuchen wir nicht direkt.

König: Sondern?

Häußermann: Sondern wir untersuchen die Bedingungen, die Rahmenbedingungen, die Entwicklung der Städte, die Integrationsprobleme, was kann die Stadtpolitik machen, was kann die Bildungspolitik machen, was kann die Jugendpolitik machen, und das sind unsere Themen.

König: Und was hat sich da in den letzten Jahren verändert?

Häußermann: Also wir sehen ja, dass die Jugendlichen, die aus Familien mit Migrationshintergrund kommen, im Bildungssystem sehr schlecht abschneiden. In Deutschland erreichen etwa die Hälfte der Jugendliche aus türkischen Familien keinen Schulabschluss oder keinen beruflichen Abschluss. Sie sind also, was die Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt angeht, vollkommen perspektivlos. Das ist, wenn das so weitergeht, mit Sicherheit eine strukturelle Verfestigung einer Unterschicht, und zwar einer, die mit dem Migrationsstatus zusammenhängt, also einer ethnischen Unterschicht. Und das ist etwas, was wir in Frankreich haben in den Vorstädten, dort noch räumlich isoliert, und dann kommt es natürlich zu unerträglichen Spannungen, die sich ab und zu entladen in solchen Aufständen, wie wir sie in den letzten Jahren in Frankreich immer wieder beobachten konnten.

König: Da konnte man bei uns via Fernsehen übertragen Tausende Autos brennen sehen. Steht uns dergleichen bevor?

Häußermann: Es steht uns nicht direkt bevor, aber wir haben natürlich Entwicklungen in unseren Städten, die, wenn die ungebremst weitergehen, wenn man da nicht eingreift, die zu solchen, vielleicht nicht zu den gleichen, aber zu ähnlichen Auseinandersetzungen führen können. In Ansätzen gab es das ja schon in Berlin, in Kreuzberg oder in Neukölln, dass sich Jugendliche, wenn die Polizei eingreift, sofort gegen die Polizei wenden, und das ist eigentlich auch eine der Frontlinien, die in Frankreich sehr relevant ist.

König: Sie haben von ethnischen Unterschichten gesprochen. In unseren Metropolen sind es oft türkisch- und arabischstämmige Jugendliche, die mit erheblicher Brutalität auffallen. Polnische, russische, vietnamesische Jugendliche fallen dagegen sehr selten auf. Warum ist das so?

Häußermann: Sie haben bei den Einwanderern oder bei den Zuwanderern, muss man ja sagen, aus den Ländern des Nahen Ostens oder auch aus der östlichen Türkei eben viele Familien, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, entweder in Bürgerkriegen oder mit Gewalt, Unterdrückung, und die in einer Gesellschaft leben, wo ein Rechtsstaat, überhaupt eine staatliche Ordnung kaum eine Rolle spielt, wo man sich selber mit Gewalt in der Gesellschaft durchsetzen muss, und die dann, wenn sie dann nach Deutschland oder nach Europa kommen, mit einer Kultur konfrontiert sind, die sie nicht kennen, auf die sie sich nicht so schnell einlassen können. Das ist also ein Kulturschock und eine Konfrontation, die nicht ethnisch kodiert ist aber die von der Wanderungsgeschichte her gut erklärbar ist, und die Jugendlichen, die dann rassistisch diskriminiert werden oder als Ausländer verächtlich gemacht werden, die keinen Respekt, keine Anerkennung, die keine Erfolge haben, reagieren natürlich entsprechend mit Enttäuschung und Wut.

König: Das klingt jetzt aber so, als ob die Jugendlichen reagieren auf die, sagen wir mal, nicht vorhandenen Integrationsmöglichkeiten einer Gesellschaft. Gibt es nicht auch eine Eigenverantwortung der arabischen, der türkischen Familien?

Häußermann: Ja, die reagieren auf die Verhältnisse, auf die sie treffen, aber das ist natürlich immer auch in Eigenverantwortung. Niemand handelt unverantwortlich in dem Sinne. Wir wollen nicht die Personen außer Acht lassen, aber die Bedingungen, unter denen sie leben, beeinflussen natürlich ihre Optionen, ihre Handlungen, ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit, und da sie die Wirklichkeit so wahrnehmen, dass sie nur verachtet werden, dass ihre Perspektive die der Loser ist, dass sie gar nichts erreichen können, reagieren sie entsprechend so wie in unseren Augen verantwortungslos. Sie schlagen zu, wo sie Möglichkeiten sehen, sie versuchen per Gewalt irgendwas zu erreichen, was sie in der Gesellschaft sehen, was alle anderen haben. Das ist eine Mischung aus Bedingungen und persönlicher Disposition.

König: Es gibt ja immer wieder Menschen, die härtere Strafen fordern oder konsequentere Anwendung des bestehenden Rechts. Armin Lehmann schrieb jetzt im "Tagesspiegel", "die deutsche Jugendgerichtsbarkeit kenne ja eine Höchststrafe von zehn Jahren, auch Haftstrafen für Sechzehnjährige seien möglich, im Wiederholungsfall oder bei besonderer Skrupellosigkeit auch sinnvoll." Und weiter: "Dann kann man doch die Eltern konsequent an ihre Verantwortung erinnern, die sie für ihre Söhne tragen. Niemand ist gezwungen in Deutschland zu leben." Was sagen Sie dazu?

Häußermann: Na ja, das sind die die beiden üblichen Reaktionen, Repression und Ausweisung, so können wir das Problem loswerden, entweder sperren wir ein oder wir schmeißen sie gleich ganz aus dem Land raus. Das ist ja keine Lösung. Und Sie werden auch durch Repression mit diesem Problem nicht besser umgehen können, sondern nur vielleicht zeitlich verschieben und dadurch aber auch verstärken. Es muss ein umfassendes Konzept mit der Kooperation von verschiedensten Institutionen, und die Jugendrichter spielen da eine wichtige Rolle, was können sie als Maßnahmen erlassen, damit Jugendliche wieder zur Besinnung kommen oder dass sie sich an eine zivilisierte Kultur gewöhnen, und das tun sie ganz bestimmt nicht in Gefängnissen.

König: Aber indem man ihnen nicht irgendwie auch Grenzen aufzeigt?

Häußermann: Na, das muss natürlich tagtäglich passieren. Das muss in der Nachbarschaft passieren, in der Schule, und natürlich unter Umständen auch durch die Polizei, weil wir leben in einem Rechtsstaat, und niemand hat das Recht, einfach zuzuschlagen, wenn ihm was nicht gefällt.

König: Welche Schlüsse hat man denn in Frankreich aus den brennenden Vorstädten gezogen, und was wäre davon für uns von Interesse oder anwendbar?

Häußermann: Soweit ich das sehe, ist man in Frankreich ziemlich ratlos gegenüber dem, was da passiert, weil es gibt ja seit 15, 20 Jahren eine spezielle Politik der französischen Zentralregierung gegenüber den Situationen in den Vorstädten. Es gibt eine spezielle Quartierspolitik, eine spezielle Schulpolitik, und das hat aber alles nicht dazu geführt, dass wir nicht wieder von Jahr zu Jahr diese Ereignisse haben. Also von Frankreich, muss ich sagen, kann man nicht allzu viel lernen, aber wir haben auch nicht die gleichen Probleme, insofern müssen wir auch nicht direkt was lernen. Was wir sehen können, ist, wie in einem Land, was die Idee hat, dass alle Bürger gleich sind ohne Ansehen von Rasse, Hautfarbe, Herkunft und so weiter, dass in diesem Land trotzdem so große Unterschiede und so große Diskriminierungen gibt, dass es zu diesen unerträglichen Spannungen kommt.

König: Das Georg-Simmel-Zentrum für Metropolenforschung hat als zentrale Aufgabe, so habe ich es jedenfalls gelesen, den Charakter moderner Großstädte zu untersuchen. Wie würden Sie diesen Charakter beschreiben, und Ihr Institut darin?

Häußermann: Na ja, nicht jede Großstadt ist ja wie eine andere. Das ist ja für uns interessant, in verschiedene Städte zu fahren, zu reisen, weil sie verschieden sind. Und die Soziologie hat natürlich die Aufgabe, Allgemeinheiten, Ähnlichkeiten, Gleichheiten in der Entwicklung festzustellen, aber es gibt auch die Aufgabe, die Besonderheit von Städten, ihren eigenen Charakter, wie das heißt, zu erforschen. Es ist dann mehr ein ethnologischer Zugang, ein ethnografischer Zugang, der durchaus wichtiger wird in der postindustriellen, postmodernen Zeit, wo Städte miteinander konkurrieren, wo sie ihre Besonderheiten herausstellen wollen und wo es für Bürger zunehmend global auch interessant wird, zwischen verschiedenen Städten zu unterscheiden, um dort zu leben, zu arbeiten, zu investieren und so weiter. Und das Georg-Simmel-Zentrum hat diese Zusammenarbeit zwischen Geografen, Ethnologen, Soziologen, auch Naturwissenschaftlern, um nicht nur die Besonderheiten von Großstädten, ihre Charaktereigenschaften, sondern auch die Besonderheit des Lebens in Großstädten, also die urbanen Milieus, die neuen Kulturen, die innovativen Industrien, um das alles zu thematisieren.

König: Wenn man auf außereuropäische Metropolen schaut, dann sind es oft Konglomerate, die uferlos scheinen. Glauben Sie, dass europäische Metropolen diesen Weg auch gehen werden?

Häußermann: Nein. Wir haben ja in Europa insgesamt einen Rückgang der Bevölkerung zu erwarten. Wir haben den Höhepunkt der Urbanisierung überschritten, und die Entwicklung in europäischen Städten ist nur sehr schwer vergleichbar mit dem, was sich in Südostasien oder in China herausbildet. Das sind ja nicht in unserem Sinne Städte, sondern das sind, Sie haben den Begriff selber benutzt, Aglomerationen, die noch keine innere Struktur gefunden haben. Das ist eine der Aufgaben des 21. Jahrhunderts, diese Entwicklungen integrativ, inklusiv, demokratisch zu steuern.

König: In Berlin wird das Georg-Simmel-Zentrum für Metropolenforschung eröffnet. Ein Gespräch mit einem der Initiatoren, mit dem Stadtsoziologen Hartmut Häußermann.