Erziehung als Machtinstrument

22.04.2010
Die französische Philosophin und Soziologin Elisabeth Badinter ist bekannt geworden durch ihre Auseinandersetzung mit der neuen Verklärung der Mutterrolle. Eine Mutter spielt auch in ihrem Buch "Der Infant von Parma" eine wichtige Rolle: Anhand der Erziehung des künftigen Regenten von Parma im 18. Jahrhundert taucht sie in die Untiefen der Pädagogik ein.
Ferdinand von Parma (1751-1802) ist eigentlich eine Randfigur in der europäischen Geschichte. Denn auf dem politischen Parkett spielte sein kleines oberitalienisches Fürstentum keine Rolle. Und doch stand er für eine Weile im Rampenlicht, lange bevor er die Regierungsgeschäfte übernahm: Der Spross aus dem Geschlecht der Bourbonen, Enkel des spanischen Königs Philipp V. und des französischen Königs Ludwig XV., wurde nämlich zum Objekt eines pädagogischen Laborversuchs, eines Erziehungsprogramms, das sich erstmalig als wissenschaftlich verstand. Nach dem Willen seiner energischen Mutter, die unter der mediokren Stellung einer Fürstin von Parma litt, sollte aus ihm ein beispielhaft aufgeklärter Monarch werden, womöglich mit der Aussicht auf einen bedeutenderen Thron. So holte man für die Ausbildung des sechsjährigen Prinzen die glanzvollsten Aufklärer aus Paris nach Parma.

Der fügsame und begabte Knabe lernt gewissenhaft ein unfassbares Pensum aus Sprachen, Mathematik, Navigation, Astronomie, Musik und Zeichnen. Mit elf kennt er alle Dramen der französischen Klassiker, die Werke Voltaires und Newtons. Mehr aber liebt er Prozessionen und Reliquien, Bauerntänze und die Possen auf dem Theater. Der Hang zum Religiösen und zum einfachen Leben ist dem einsamen Kind - mit acht Jahren verliert er die Mutter, mit 13 den Vater - nicht auszutreiben. Als junger Regent holt er die verbannten Jesuiten ins Land zurück, führt die Inquisition wieder ein und verbringt die Hälfte seiner Tage in dunklen Kirchen - und auf ländlichen Tanzböden.

Die Geschichte dieses sensationellen Scheiterns großer Geister, für die das Kind nur formbares Material ist, erzählt Elisabeth Badinter sehr anschaulich und packend. Durchaus anteilnehmend verfolgt sie das Geschehen mit scharfem Blick. Schon die Porträts, die sie von den Erziehern bei Hofe entwirft, verraten die schonungslose Beobachterin. Die Männer, die der Aufklärung zum Sieg verhelfen wollten, schildert sie als glänzende Persönlichkeiten aus dem Umfeld der Enzyklopädisten, ehrgeizig in ihrem Sendungsbewusstsein. Und sie zeigt zugleich, welche handfesten, nicht zuletzt materiellen Motive sie dazu veranlassten, dem Pariser Salonleben den Rücken zu kehren.

Auch wenn Badinter mit ironischen bis boshaften Untertönen nicht spart, so weiß sie doch, dass sich die Frage der Schuld, die Frage danach, woran Erziehung scheitern kann, nicht eindeutig beantworten lässt. Deswegen lässt sie zahlreiche Augenzeugen wie durchreisende Diplomaten, Ferdinands Schwester Isabella oder den Hofbarbier von Parma - aus großenteils unveröffentlichten Quellen - zu Wort kommen, die das Experiment aus unterschiedlichsten Blickwinkeln beobachtet haben.

Wie schon in "Emilie, Emilie" (1983), dem Buch über zwei kluge Frauen des 18. Jahrhunderts, an denen sie, als Vorläuferinnen heutiger Lebensentwürfe, das Phänomen des weiblichen Ehrgeizes studiert, nimmt Elisabeth Badinter das Zeitalter der Aufklärung in Dienst, um uns die Gegenwart in anderem Licht erscheinen zu lassen. Der "Infant von Parma" ist nichts anderes als eine Studie darüber, welche Untiefen in der Pädagogik lauern, wenn sie mit Macht und wildem Eifer betrieben wird - egal, ob im Namen des Eros, des Glaubens oder der reinen Vernunft.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Elisabeth Badinter: Der Infant von Parma oder Die Ohnmacht der Erziehung.
Aus dem Französischen von Thomas Schultz, C.H. Beck Verlag, München 2010, 144 Seiten, 17,95 Euro
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