Erzählungen von Extremsituationen

12.12.2006
László Darvasis neuer Band mit dem irreführend harmlosen Titel "Herr Stern" enthält fünf Novellen, die sämtlich von Extremsituationen erzählen. Stern, die Hauptperson der Titelerzählung, ist ein beliebter Provinzgelehrter, dem der letzte seiner erfolgreichen Vorträge, der zwölfte, furchtbar misslingt.
Stern vermag nämlich den Namen desjenigen nicht auszusprechen, um den es geht. Er hat das Wort "Gott" vergessen. Immer mehr Worte entfallen ihm daraufhin, er verzweifelt, sieht zunehmend elend aus, verliert jeden Halt und seine Freunde bis auf einen, um am Ende stumm, aber tobend in eine Irrenanstalt eingeliefert zu werden. Eines Tages bricht er nackt aus und bleibt spurlos verschwunden. Spurlos bis auf einen an der Schulter abgerissenen, sich am Waldboden festklammernden Arm, den ein Arbeiter durch Zufall findet, noch warm. Ein Körper aber ist weit und breit nicht zu entdecken.

Diese unglaubliche Geschichte scheint sich in grauen Vorzeiten ereignet zu haben. László Darvasi und sein deutscher Übersetzer Heinrich Eisterer pflegen einen Ton wie in Legenden, an die auch die Titel der übrigen Novellen erinnern: "Die seltsame Geschichte des Ungeheuers von Müttenheim" oder "Das vollkommene Leben des Fernando Asahar". Allerdings ist die historische Ferne, in der es eine Garnison, eine schwachsinnige Magd, einen Fürsten und eine Jungfer gibt, auf irritierende Weise mit Gegenwart durchsetzt: Die Reisenden nehmen die Eisenbahn und besuchen das Kino mit einer Frau, die im Wortsinne einem anderen "gehört", weil er sie als Kind gekauft hat.

Zu Sterns Zeiten "kam das Jenseits höchstens in den Spielen der Phantasie vor, seine Ungeheuer waren zahm geworden und lagen in den Winkeln der Seele wie Wachhunde neben dem Kamin. Tod und jenseitige Hoffnungen hatten ihre Anziehungskraft verloren, weil das Alltagsleben zunehmend bequemer und erträglicher wurde." Als Stern aber über Gott sprechen will, werden die Wachhunde wieder zu Ungeheuern. Der Leser dieser Novellen tritt in eine hyperreale Zeit ein. In ihr ist alles möglich – und geschieht auch prompt.

In Darvasis bisher umfangreichstem Buch "Die Legende von den Tränengauklern" (2001) wird das Gattungsvorbild sogar im Titel genannt. Der großartige Roman erzählt von der Besetzung Ungarns durch die Türken im 17. Jahrhundert. Das Land ist ein Meer aus Blut, Schweiß und Tränen, es ächzt angesichts der verschiedensten aber auch außerordentlich profanen Todesarten. Die Menschen müssten verzweifeln, eilten ihnen nicht die Tränengaukler zu Hilfe: Der Ungar unter ihnen weint schwarze Steinchen, der Jude Blut, der Serbe feurigen Honig, der Kroate Eisstücke, der Moslem Spiegelscherben. Sie alle helfen den Geschundenen mit Ironie oder der Fähigkeit zum Unsichtbarmachen.

Unübersehbar ist diese multiethnische Eingreiftruppe der Barmherzigkeit im Namen der Phantasie von den Jugoslawienkriegen geprägt, ähnlich wie die noch surrealer wirkenden Erzählungen "Eine Frau besorgen" (2003). Die Heimatstadt Szeged des 1962 geborenen Ungarn liegt wenige Kilometer von der Grenze zur Volksrepublik entfernt, und als diese zerfiel, suchten Flüchtlinge in Ungarn Schutz und Mafiosi einen ungefährlicheren Wirkungsraum.

Die Novellen in "Herr Stern" stammen aus den neunziger Jahren. In ihnen greift Darvasi angesichts der Jugoslawienkriege auf eine düster zeitlose Atmosphäre zurück. Sie lesen sich wie eine Vivisektion der Körper durch eine poetische Imagination, immer in der Hoffnung, doch noch auf den Sitz der Seele zu stoßen. Nicht zufällig lautet das erste Wort, das Stern vergisst, "Gott", und einer von Darvasis Protagonisten weiß:

"Wenn wir anfangen, das Böse zu suchen, finden wir es nicht. Wenn wir darauf warten, kommt es nicht. Wenn wir es ansprechen, antwortet es nicht. Wenn wir es schlagen, schlägt es nicht zurück."

Aber wenn wir von dem Bösen bei Darvasi lesen, ist es da. In all seiner leuchtenden Rätselhaftigkeit.

Rezensiert von Jörg Plath

László Darvasi: Herr Stern
Novellen. Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer
Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2006
226 S., 12 Euro