Erzählungen einer Weltenwanderin

17.02.2009
Die 1925 in Beirut geborene Schriftstellerin Etel Adnan ist eine Weltenwanderin, zuhause in unterschiedlichen Ländern, Sprachen und Kulturen. "Die Welt ist ein Wörtermeer" schreibt sie in einer ihrer zwölf Erzählungen. Adnan ist zugleich eine politisch engagierte Autorin. Gesellschaftliche Verhältnisse reflektiert sie in höchst poetischer Sprache.
"Morgens um sieben immer BBC. Deren Arabisch ist gut. Dann hört er Kairo. Für Musik fand er immer Radio Libanon am besten." Ein kleiner palästinensischer Junge in einem libanesischen Flüchtlingslager erzählt von seiner Familie und dem Vater, der nichts zu tun hat, außer Radio zu hören: "Nachts klebte er an Radio Palästina. All das Schießen und Sterben ist auf diesem Sender. Wir wechseln von einem Radiosender zum nächsten: Das sind unsere Reisen".

Auf gerade einmal acht Seiten gelingt es der Autorin Etel Adnan in dieser Erzählung, mit den Worten des kleinen Jungen eine Familientragödie und die Geschichte einer ganzen Region zu erzählen.
Etel Adnan, 1925 in Beirut geboren, ist - anders als der Protagonist ihrer Erzählung - ständig unterwegs. Eine Weltenwanderin, zuhause in unterschiedlichen Ländern, Sprachen und Kulturen. Die Tochter einer christlichen Griechin aus der Türkei und eines muslimischen Syrers besuchte bereits im Alter von fünf Jahren eine französische Klosterschule.

In den 50er Jahren studierte sie Philosophie an der Sorbonne, dann in den USA. Sie unternahm Reisen in arabische Staaten und quer durch Europa. Lebte in Kalifornien, in Paris, eine zeitlang wieder in Beirut, bis der beginnende Bürgerkrieg sie zwang, die Stadt ihrer Kindheit erneut zu verlassen.

Adnan ist eine politisch engagierte Autorin, geprägt durch das Leben sowohl in der europäisch-amerikanischen als auch der arabischen Kultur. Im Schreiben bewegt sie sich zwischen den verschiedenen Welten. Wie ihr Leben ist es durchzogen von dieser doppelten Identität und radikalem Einzelgängertum.

Das lyrische Vermögen der Dichterin steht dabei nicht im Gegensatz zu ihrem politischen Bewusstsein. Gesellschaftliche Verhältnisse reflektiert sie in höchst poetischer Sprache. Und beschreibt immer wieder in eindrücklichen Bildern, was Krieg in den Seelen der Menschen anrichtet, wie er Heimat und Identität verändert.

Der älteste Text in Adnans Erzählband "Der Herr der Finsternis" stammt von 1961, der jüngste aus dem Jahr 2006, etliche werden hier zum ersten Mal veröffentlicht. In ihrer Gesamtheit bieten sie einen hervorragenden Einblick in das poetische Schaffen Adnans. Die Schauplätze der Erzählungen sind die USA, Paris, Stockholm oder Beirut. Die Themen: Freundschaft und Liebe; die Erfahrung der Fremde, die ewige Wunde des Krieges, Heimatlosigkeit und Einsamkeit; das Vergehen der Zeit, die Zersplitterung unserer Welterfahrung.
Typisch für Etel Adnan: Sie geht von Alltagssituationen aus, überführt persönliche Erfahrungen und Begegnungen in philosophische, allgemeingültige Erkenntnisse.
Im Nachwort des Erzählbandes - lesbar als Poetologie der Autorin - erklärt sie: "Ein sicheres äußeres Zentrum ist uns verlorengegangen. Wir selbst sind das einzige Zentrum, das uns geblieben ist. Deshalb gehe ich von diesem inneren Zentrum aus, da ich keinen anderen Kompass besitze".

In ihren Romanen, Kurzgeschichten, Essays und Gedichten deponiert Etel Adnan Erinnerungen ihres Lebens. So beinhaltet auch dieser Erzählband kleine Kapitel ihrer Autobiografie. In der Titelgeschichte porträtiert Adnan einen irakisch-kurdischen Dichter. Sie hatte ihn als schönen, jungen Mann in den 70er Jahre kennen gelernt, 20 Jahre danach wiedergetroffen und später von seinem Tod als Alkoholiker im Londoner Exil erfahren.

Die Erzählung ist repräsentativ für den ganzen Band: Die polyglotte Kosmopolitin reist in die eigene Vergangenheit, erkundet dabei ihren Standort als Mensch und Dichterin. Ihre Erzählung ist persönlich, doch nicht privat. Sie bildet Adnans leidenschaftliches Verhältnis zu Menschen und Sprache ab und das oft schmerzhafte Erlebnis fortwährenden Wandels von Beziehungen und Verhältnissen.

Rezensiert von Carsten Hueck

Etel Adnan: Der Herr der Finsternis
Erzählungen. Aus dem Englischen von Christel Dormagen,
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2009,
171 Seiten, 19,80 Euro