Erzählungen

Die Kraft des Augenblicks

Hobbyfotograf Stefan Csögör (73) fotografiert am Mittwoch (11.02.2012) aus einer Beobachtungshütte im Naturschutzgebiet Ilkerbruch bei Wolfsburg.
Die Fotografie als manifestierter Augenblick. © dpa / picture alliance / Julian Stratenschulte
Von Jörg Plath · 10.04.2014
Die ungarische Schriftstellerin Zsofia Bán hat nach ihrem vielbeachteten Debüt erneut einen Band mit Erzählungen vorgelegt. Darin geht es um das Geheimnis der Fotografie und ums Aufbrechen verschlossener Momente.
Zsófia Bán erzählt in dem Prosaband "Als nur die Tiere lebten" von Augenblicken, die sich plötzlich ausdehnen, förmlich explodieren. Mit einem Mal entsteht ein Netz ungeahnter Zusammenhänge, was mit einem Schrecken einhergeht. Báns Protagonisten, die oft das Weite gesucht und in einer anderen Sprache eine neue Existenz gesucht haben, erfahren, dass ihre Flucht erfolglos war.
Der sich unvermittelt herstellende Zusammenhang ist mit Bildern verbunden. Immer wieder werden in "Als nur die Tiere lebten" Fotografien gemacht, betrachtet und interpretiert. Das Bild, heißt es in "Kurze Geschichte der Fotografie", "ist der Kaiser des Lebens. Es hat Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, eine Geschichte und ein Gedächtnis, mit einem Wort, es hat alles". Anders als der Mensch, der es nicht selten ratlos betrachtet. Das Bild ist der in sich verschlossene Augenblick. In den Erzählungen, von Terézia Mora in ein zupackendes Deutsch übertragen, bricht er auf.
Drei Abbildungen enthält der Band: Eine von ihnen, das Röntgenfoto der Hand von Anna Bertha, steht am Ende der Erzählung "Frau Röntgens Hand". Ihr Ehemann Wilhelm fertigt es an. 15 Jahre hielt er Distanz zu Anna Berthas überaus anziehendem Körper, um Wissenschaftler bleiben, die berückende Strahlung seiner Frau zu erforschen und sie schlussendlich im Röntgenbild festhalten zu können. "Hand mit Ringen, 1895", vermerkt Wilhelm, doch Bán beendet diese erste Erzählung des Bandes mit dem Satz: "Der Rest ist: X." Das Geheimnis bleibt Geheimnis. Von ihm wird erzählt.
Da ist die ehemalige Pianistin, die vor 40 Jahren der unmöglichen Liebe zu ihrem verheirateten Konzertpartner in den Süden entfloh und nach der Rückkehr in Budapest in ein Konzert just jenes Stückes gerät, das sie zuletzt gemeinsam mit ihrem Geliebten aufführte. Da ist die Ungarin, die von einem Landsmann im Flugzeug aggressiv bedrängt wird, seine Filme über Gewaltopfer einem befreundeten Produzenten zu empfehlen. Die Unterhaltung, peinigend auch wegen der umstandslosen Funktionalisierung der Leiden für eigene Zwecke, wird mehrmals unterbrochen von einer Geschichte, in der ein Zwölfjähriger versucht, eine Achtjährige zu missbrauchen.
Nahaufnahmen von Gewalterfahrungen
Verbunden sind beide Erzählungen durch ein einziges Detail: eine Wunde am Hals, die der Passagier besitzt und der Junge erhält, als ihn sein Vater mit dem Gürtel verprügelt. Die Identität von Junge und Mann wird nicht behauptet, für die von Mädchen und Frau gibt es nicht einmal Indizien – warum also erzählt die Autorin beide Geschichten parallel? Handelt es sich bei der einen um Erinnerungen der Flugzeugpassagierin in der anderen, um eine Metapher für ihr Gefühl des Bedrängtwerdens oder um etwas Drittes?
Die Erzählungen der 1957 in Rio de Janeiro geborenen Zsófia Bán, die in Filmstudios arbeitete und Amerikanistik in Budapest lehrt, sind den Leser fordernde Kondensate. Harte Schnitte, gewagte Montagen verbinden zwei, manchmal drei Erzählebenen. Stets sind es Nahaufnahmen von Gewalterfahrungen, auch historischen, die durch gelbe Sterne, Ghettos, Massengräber knapp evoziert werden. Nicht die Erinnerungsprosa in der Nachfolge Marcel Prousts, sondern der avancierte Film ist das Vorbild dieser äußerst reizvollen, bei aller kalkulierten Raffinesse von großer Empathie und Spannung erfüllten Erzählkunst.

Zsófia Bán: Als nur die Tiere lebten
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
204 Seiten, 22,95 Euro