Erzählungen aus dem Gulag

17.09.2007
Erbarmungslose Kälte, Zwangsarbeit, Hunger und Willkür: Warlam Schalamow beschreibt seinen Überlebenskampf im Gulag eindringlich und radikal. Auch wenn er die Frage nach den Gründen für diesen Zivilisationsbruch ausspart, sie drängt sich dem Leser nur umso mehr auf. "Durch den Schnee" wurde zum Buch des Monats September gewählt.
Auf die denkbar bitterste Art hat Warlam Schalamow den Stoff dieser Erzählungen erfahren: als langjähriger Häftling im Gulag. Er hat dieses System der Straf- und Arbeitslager in der Sowjetunion in zwei Etappen durchlaufen – von 1929 bis 1931 im Nordural mit anschließender Verbannung und von 1937 bis 1951 im Nordosten Sibiriens, in der Kolyma-Region, die nach dem dortigen Fluss benannt ist.

Die hier versammelten autobiographischen und zwischen Mitte der 50er und Anfang der 60er Jahre entstandenen Erzählungen spiegeln insbesondere die zweite Etappe wider. Sie sind das Eigenwilligste und Beste, das die sogenannte Lagerliteratur hervorgebracht hat.

Schalamow stellt seinen Leser mitten hinein in die jeweils beschriebene Situation aus dem Lageralltag, es gibt kaum eine "literarische" Ablenkung, kaum Reflexionen, Gefühle, Erinnerungen. Lapidar wird meist der Paragraph 58 über konterrevolutionäre Betätigung bzw. Propaganda als Grund für die Lagerhaft genannt.

Alles erzählerische Beiwerk ist weitgehend verbannt aus diesen Texten. Denn wenn Schalamow auch klar war, dass er mit seinem Erzählen aus der Erinnerung heraus eine Zeit-Brücke schlug, war er doch regelrecht besessen davon, das Binnenklima der Lagerwelt möglichst genau zu reproduzieren.
Und da herrschten Verrohung, Abstumpfung, Gewalt, Reduktion auf die reine Physis als Folge des Dauerterrors aus extremer Kälte, Hunger, Schwerstarbeit, Krankheit, Auszehrung und unbarmherziger Behandlung. Die Episoden der Erzählungen beschreiben diese Zustände jeweils in alltäglichen, dabei überaus bedrückenden Szenen.

Es habe nur Wochen gedauert - so heißt es mehrfach - bis alles Zivilisierte von den Menschen abgefallen sei. Das "Intellektuelle" verschwindet, zurück bleibt die reine Biologie, eine ausgesprochen triebhafte Selbsterhaltung. Unbestritten macht diese Reduktion das eigentlich Literarische der Erzählungen aus.

Ähnlich wie etwa bei Isaak Babel entsteht aus der Konzentration auf das körperlich Kreatürliche jener Eindruck von kristalliner Intensität, den diese Prosa ausstrahlt. Ihr Kern ist der existentielle Schock, den die Zustände in den Lagern provozieren. Denn es sind menschliche Zustände, von Menschen geschaffen, um andere Menschen bis zur Vernichtung zu quälen. Das Artifizielle dieser Texte besteht darin, diesen Schock immer wieder in eine Form zu bringen, ohne ihn explizit zu beschreiben, etwa so, wie es eine Skulptur oder ein Bild leisten können.

Und ihre Radikalität gründet im Verzicht auf alle Erklärungsversuche: Fragen danach, wie es dazu kommen konnte nach dem in seiner geistigen Ausrichtung humanistischen 19. Jahrhundert und nach einer kommunistischen Utopie der Gleichheit, werden in diesen Erzählungen nicht verhandelt.

Solche Fragen erscheinen dadurch – für den Leser – aber umso drängender. Der Kontrast zwischen geistig-kulturellem Höhenflug und brutal-darwinistischer Wirklichkeit in den Lagern wird so noch weiter verschärft.

Ganz ähnlich verhält es sich mit den politisch-historischen Erörterungen. Schalamow blendet auch diese Ebene völlig aus. Die in vielen russischen Romanen aufgeworfenen Fragen nach den ursächlichen Zusammenhängen (Weiß Stalin Bescheid? - Ist hier womöglich "nur" eine wild gewordene Staatsbürokratie am Werk - Ist alles nur ein Irrtum, eine Verfehlung?) kommen hier ebenso wenig vor wie der Kontext des Zweiten Weltkriegs, über dessen Gesamtverlauf sich Schalamows Lagerzeit erstreckte. In diesem Sinn ist er ein absolut unpolitischer Autor, der auf der untersten Leidensebene die größte Dimension dieses Leidens erfasst hat.

Rezensiert von Gregor Ziolkowski

Warlam Schalamow: Durch den Schnee
Erzählungen aus Kolyma

Aus dem Russischen von Gabriele Leupold.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Franziska Thun-Hohenstein
Matthes & Seitz, Berlin 2007
340 Seiten, 19,80 Euro