Erstes Vatikanisches Konzil

Der lange Schatten der Unfehlbarkeit

26:01 Minuten
Papst Pius IX (Giovanni Maria Mastai Ferretti 1792-1878) eröffnet das Erste Vatikanischen Konzil im vollen Petersdom, farbige zeitgenössische Abbildung.
Eröffnung des Ersten Vatikanischen Konzils am 8. Dezember 1869 in einer zeitgenössischen Darstellung © picture alliance / Heritage-Images
Peter Neuner im Gespräch mit Thorsten Jabs · 08.12.2019
Audio herunterladen
Am 8. Dezember 1869 begann in Rom das Erste Vatikanische Konzil. Auch 150 Jahre später prägt es die katholische Kirche – vor allem durch die damals definierte unfehlbare Rolle des Papstes, seine Autorität und den verlangten Gehorsam.
Thorsten Jabs: In dieser Woche ist Johann Baptist Metz im Alter von 91 Jahren gestorben – der Begründer der "Neuen Politischen Theologie" galt als einer der bedeutendsten und einflussreichsten katholischen Theologen des 20. Jahrhunderts. Er hätte bestimmt einiges zum heutigen Datum zu sagen gehabt, denn am 8. Dezember 1869 begann das 1. Vatikanische Konzil, einberufen von Papst Pius IX. Rund 770 Kardinäle und Bischöfe berieten zehn Monate über die theologische und politische Ausrichtung der katholischen Kirche.

Nur Autorität und Gehorsam können die Kirche retten

Wir beschäftigen uns ausführlich mit der Bedeutung des Ersten Vatikanums und den Folgen, die bis heute zu spüren sind. Dazu begrüße ich ganz herzlich den Priester und emeritierten Professor für Dogmatik an der Universität München, Peter Neuner. Herr Neuner, wie würden Sie jemandem, der mit Kirchengeschichte nicht besonders vertraut ist, kurz und knapp sagen, warum das Erste Vatikanische Konzil so bedeutend war?
Peter Neuner: Das Erste Vatikanische Konzil hat zunächst einmal Antworten gegeben auf die Herausforderungen, vor die sich die Kirche im 19. Jahrhundert gestellt sah. Man hatte den Eindruck, nur eine neue Betonung der Autorität und des Gehorsams kann unsere Welt vor dem Zusammenbruch und dem Untergang retten.
Jabs: Dass die katholische Kirche im 19. Jahrhundert in die Defensive geriet, war nicht zuletzt eine Nachwirkung der Französischen Revolution. Die Philosophie der Aufklärung übte scharfe Kritik an der Macht des Glaubens. Die Kirche zog sich daraufhin in eine Wagenburg der Antimoderne zurück, wie Michael Hollenbach im folgenden Beitrag über die Vorgeschichte des Ersten Vatikanischen Konzils aufzeigt.
Jabs: Herr Neuner, Sie zitieren in Ihrem Buch über das Erste Vatikanum Heinrich Heine: "Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen." Bringt diese Ansicht auf den Punkt, wovor die katholische Kirche Angst hatte?
Neuner: Ja, noch mehr Angst bestand davor: Was wird aus diesen Idealen der Neuzeit, der Moderne, sprich der Aufklärung? Und die Französische Revolution bot ein abschreckendes Beispiel, wie diese hohen Ideale umschlagen können in ihr Gegenteil.
Peter Neuner, Theologe und emeritierter Professor für Dogmatik an der Universität München.
Peter Neuner, Theologe und emeritierter Professor für Dogmatik an der Universität München.© privat
So war man überzeugt – und das war die Hauptherausforderung, vor der sich Pius IX. und die mit ihm in Überstimmung stehenden Bischöfe sahen –, nur die Bekräftigung von Autorität und die Forderung von Gehorsam kann wieder eine menschenwürdige, eine gerechte Gesellschaftsordnung heraufführen, die diesen Herausforderungen, die diesen Schwierigkeiten Widerstand leisten kann.

Göttliche Ordnung drängt demokratische Werte zurück

Jabs: Das klingt aus heutiger Sicht gesehen ganz schön hart und absolut.
Neuner: Ja, natürlich. Und die Äußerungen, die wir von den Päpsten im 19. Jahrhundert hören und lesen – sowohl Pius IX. als auch schon der Vorgänger, Gregor der XVI. –, da können wir nur mit Erschrecken zur Kenntnis nehmen, wie hier Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, demokratische Ordnung, wie dies alles als mit göttlicher Ordnung unvereinbar zurückgewiesen wird. Im Zweiten Vatikanum sind diese Dinge, die diese Päpste im 19. Jahrhundert verworfen haben, mit hohen Worten zum Ideal auch der Kirche erklärt worden.
Jabs: Autorität, Gehorsam und Souveränität wurden zu Kernbegriffen des Ersten Vatikanischen Konzils. Als Hirte und Lehrer aller Christen erhielt der Papst die Macht verliehen, kraft seines Amtes "ex cathedra" über die Geltung von Glaubens- oder Sittenlehren zu entscheiden. Im folgenden Beitrag erläutert Michael Hollenbach dieses sogenannte Unfehlbarkeitsdogma.
Jabs: Herr Neuner, warum hat es denn in den fast 150 Jahren nach dem Ende des Ersten Vatikanischen Konzils nicht mehr solche Ex-cathedra-Entscheidungen gegeben?
Neuner: Ja, das ist eine schwierige Frage. Mir scheint, man muss das am ehesten so erklären, dass es insgesamt in der Unfehlbarkeitserklärung des Papstes nicht so sehr darum gegangen ist, die ursprüngliche apostolische Botschaft unverfälscht zu bewahren, sondern man wollte eine möglichst umfassende Autorität definieren, und eine umfassendere als eine unfehlbare Autorität - eine Instanz, die diese Autorität hat –, lässt sich nun mal nicht denken.

Aura der Unüberbietbarkeit

Jabs: Kann man sagen, dass - auch wenn es nicht mehr ex-cathedra-Entscheidungen gab - das Papstamt in den folgenden Jahrzehnten durch die Art, wie seine Schriften und seine Worte interpretiert wurden, eine Aura der Unfehlbarkeit, ein Flair der Unantastbarkeit entwickelt hat, so dass Kritik und Abweichung schwierig bis vielleicht sogar unmöglich wurden?
Neuner: Ja, genau das war die unmittelbare Konsequenz. Alles, was vom Papst kam, eventuell auch alles, was von römischen Dikasterien, von der römischen Kurie kam, wurde mit einer Aura der Unüberbietbarkeit, der Hingabe, eines religiösen Gehorsams verbunden, und das machte die Diskussion oft sehr schwierig. Auch in der Theologie war es dann die römisch vorgegebene Richtlinie: Was vom römischen Lehramt entschieden ist, ist nicht mehr der Diskussion anheimgegeben, sondern das ist durch Autorität, durch göttliche Autorität letztlich bekräftigt und bestätigt.
Papst Pius IX (Giovanni Maria Mastai Ferretti 1792-1878) spricht auf dem Ersten Vatikanischen Konzil zu den Kardinälen, zeitgenössische Abbildung einer französischen Zeitung
Papst Pius IX. spricht auf dem Ersten Vatikanischen Konzil zu den Kardinälen, zeitgenössische Abbildung in einer französischen Zeitung.© imago / Photo12 / Ann Ronan Picture Library
Jabs: Herr Neuner, wie war kurz nach dem Konzil eigentlich das Verhältnis zum Staat? Ich könnte mir vorstellen, dass viele Könige und später Parlamente einen unfehlbaren Papst eher als Bedrohung angesehen haben, oder?
Neuner: Oh ja, das war vor allem dann von Bismarck her so gesehen, es kam zum Kulturkampf, der dann allerdings nicht zugunsten des preußischen Staates und zu Bismarcks Intentionen ausgegangen ist. Man muss ja bedenken, noch bestand der Kirchenstaat, wenn er auch im Zusammenbrechen war - und auch nachdem er zusammengebrochen war, haben ja die Päpste den Anspruch auf den Kirchenstaat weithin erhoben.

Durch Unfehlbarkeit zum absolutistischen Monarchen

Es war der Eindruck, der Papst ist Souverän eines fremden Staates, und gerade durch seine Unfehlbarkeit ist er absolutistischer König, absolutistischer Monarch, mehr herausgehoben und absoluter als irgendein anderer absoluter Monarch in unserer Welt, in unserer Geschichte. Und die Bischöfe erschienen, mehr durch Primatsäußerungen als durch die Unfehlbarkeitserklärung, als seine Delegierten, seine Beamten.
Und so stellte sich tatsächlich die Frage für die Staaten in Deutschland, ob eigentlich ein Bischof als Beamter des Kirchenstaates loyaler Bürger des preußischen Staates oder des bayrischen Königreiches sein kann. Es stellte sich die Frage der Loyalität der Bischöfe, und sie waren massiv herausgefordert.
Jabs: Das Unfehlbarkeitsdogma war nicht die einzige Entscheidung des Ersten Vatikanischen Konzils, die die katholische Kirche bis heute prägen sollte. Der Anspruch, dass der Papst die oberste Gerichtsbarkeit der katholischen Kirche innehat, wirkt vielleicht noch stärker nach, wie Michael Hollenbach im folgenden Beitrag erläutert.
Jabs: Herr Neuner, in Ihrem Buch beschreiben Sie ausführlich die Folgen des Ersten Vatikanums, auch für das Zweite Vatikanische Konzil, das am elften Oktober 1962 begann. Sie geben Beispiele, warum an manchen Stellen das zweite Konzil das erste bestätigt hat. Veränderungen gab es zwar an einer Aufwertung der Laien, dass alle in der Kirche gleich sein sollen, in einer Aufwertung der Ortskirchen, in der Bestätigung von Religionsfreiheit, aber im Kern bleibt es bei der Unfehlbarkeit und einer starken Rolle des Papstes. Wurde also seine innerkirchliche Macht als Oberhaupt mit universaler Gewalt noch gefestigt?
Neuner: Ich glaube, man muss hier unterscheiden zwischen den beiden Dogmen des Ersten Vatikanums, also dem Universalprimat und der Unfehlbarkeit. Die Diskussion hat sich sehr auf die Unfehlbarkeit konzentriert – ich meine, das ist nicht unbedingt sachgerecht, denn kein Mensch rechnet ja im Ernst damit, dass es noch zu unfehlbaren Ex-cathedra-Erklärungen kommt.

Souveränität des Papstes bleibt geltendes Kirchenrecht

Dagegen die Frage nach der Rechtsordnung, die ist nun tatsächlich vom Ersten Vatikanum in die kirchliche Rechtsordnung unmittelbar übernommen worden. Diese Aussagen, die ja auch im Beitrag von Michael Hollenbach zitiert werden, sind in das kirchliche Gesetzbuch, den Codex Iuris Canonici, von 1917 aufgenommen worden, und wir finden sie auch wieder im neuen Codex nach dem Zweiten Vatikanum, also im kirchlichen Rechtsbuch von 1983. Das ist nach wie vor kirchliche Rechtsordnung.
Natürlich hat sich die Kirche deutlich verändert, und die Päpste seit Johannes XXIII., der das Zweite Vatikanum einberufen hat, sind in ihrer Amtsführung mit Pius IX., Gregor XVI. im 19. Jahrhundert natürlich gar nicht zu vergleichen, das ist eine andere Welt. Aber dennoch, selbst wenn im neuen Kirchenrecht, im derzeit geltenden Kirchenrecht, davon gesprochen wird, dass der Papst sein Amt ausübt in Gemeinschaft mit den Bischöfen, auf die Bischöfe hört - dort, wo es ernst wird, ist er frei, wie er und ob er und in welcher Weise er den Rat der Bischöfe zur Kenntnis nimmt oder auch aus eigener Machtvollkommenheit entscheidet.
Der Einzug der Bischöfe in den Petersdom zur Eröffnung des 2. Vatikanischen Konzils in Rom.
Einzug der Bischöfe in den Petersdom in Rom zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils 1962.© picture-alliance / dpa
Das ist zum Beispiel geschehen damals 1968 in der verhängnisvollen Enzyklika Humanae vitae über die Familienplanung. Dies ist in ähnlicher Weise geschehen in den Auseinandersetzungen um die Schwangerenberatung in Deutschland, wo nun die Päpste – auf der einen Seite war es Paul VI., später Johannes Paul II. – gegen den dezidierten Mehrheitswillen der Bischöfe entschieden haben und die Bischöfe sich dem beugen mussten.

Neubewertung der Dogmen steht aus

Jabs: Sie schreiben ja auch in Ihrem Buch, dass die Kirche unter Johannes Paul II. so zentralistisch wie nie zuvor wurde und dass Benedikt XVI. diesen Weg fortgesetzt hat. War also im Endeffekt doch das Erste Vatikanische Konzil immer noch prägend für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts?
Neuner: Zweifellos. Wir haben dieses Konzil noch nicht so gelesen, dass wir es nun aus dem Geist des Zweiten Vatikanums neu interpretieren müssten. Das Zweite Vatikanum lebt ja in einer völlig anderen geistigen Welt – nicht mehr die Abkehr, nicht mehr die Zurückweisung, nicht mehr die Verurteilung, sondern die Öffnung auf die Welt, das Erkennen der Zeichen der Zeit. Papst Johannes XXIII. hat aufgerufen, sich auf die Geschichte zu besinnen, die ein Lehrmeister ist für uns, auch für die Kirche, so dass aus dieser Erkenntnis der geschichtlichen Notwendigkeiten dann auch Notwendigkeiten entstehen für kirchliche Lehre, für die kirchliche Botschaft und für ihre zeitgemäße und menschengerechte Interpretation und Ausführung.
Das ist ein ganz anderer Ansatz, zwischen dem Ersten Vatikanum und dem Zweiten Vatikanum hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Die Aufgabe aber nun, auch die Aussagen des Ersten Vatikanums aus dem Blickwinkel, aus dem Licht, aus den Erkenntnissen des Zweiten Vatikanums neu zu lesen, eine re-lecture, eine Reevaluierung der päpstlichen Dogmen des Ersten Vatikanums vorzunehmen, diese Aufgabe steht noch vor uns, und der haben wir uns erst sehr anfanghaft gestellt.

Papst Franziskus will verändern und stößt auf Widerstand

Jabs: Und stellt sich dieser re-lecture, wie Sie sagen, Papst Franziskus? Denn unter ihm scheint sich doch etwas zu verändern?
Neuner: Ja, Gott sei Dank. Papst Franziskus – und das geht nicht leicht, stößt hier auf erheblichen Widerstand – bemüht sich, die Kirche erstens zu dezentralisieren: Im Ersten Vatikanum war alle Macht beim Papst, also ganz zentralisiert. Papst Franziskus gibt sehr viele Aufgaben, sehr viel Entscheidungsbefugnis an die Regionen, an die Bischofskonferenzen zurück und erwartet von hier aus Entscheidungen und auch Anregungen, die in der Gesamtkirche dann fruchtbar gemacht werden können.
Das ist in der Amazonas-Synode nun in exemplarischer Weise geschehen, und das wird ganz sicher im sogenannten Synodalen Weg hier in Deutschland auch so geschehen müssen, dass von der Region aus den einzelnen Bezirken nun neue Anregungen kommen, die dann, in geeigneter Weise, für die Kirche als Ganze rezipiert werden können, oder dass auch unterschiedliche Formen, unterschiedliche Realisierungen des einen kirchlichen Rechts in unterschiedlichen Regionen möglich sind. Warum sollte man sich nicht vorstellen können, dass das kirchliche Gesetzbuch eine Rahmenordnung darstellt, in die hinein dann in den einzelnen Regionen unterschiedliche konkrete Regelungen stattfinden können und stattfinden müssen?
Jabs: Aber wäre es auch möglich, dass die konservativen Kräfte, die gern in den alten Machtstrukturen verharren, die katholische Kirche doch so beibehalten, wie sie jetzt ist, oder vielleicht sogar wieder zurückführen zu ihren früheren Ursprüngen?
Neuner: Ja, wir erleben das ja, dass es gewollt wird. Die Frage ist, ob sie sich durchsetzen können. Ich hoffe sehr, dass die Anregungen des Papstes für eine Dezentralisierung, für eine Regionalisierung, für konkrete Herausforderungen, die eben auch von unten kommen, so dass nicht nur eine Willensbildung stattfindet von oben nach unten, Frucht tragen, dass sie sich durchsetzen können. Natürlich steht der Papst auch in der Situation, dass er hier ganz massiv Widerspruch erfährt.

Sorge vor einem III. Vatikanum

Jabs: Glauben Sie, dass es einmal vielleicht ein drittes Vatikanisches Konzil geben wird, das die katholische Kirche grundlegend verändern könnte?
Neuner: Es gibt Stimmen, die darauf hoffen. Ich bin mir nicht ganz sicher, was ich mir wünschen würde und wünschen wollte. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass ein drittes Vatikanisches Konzil eben auch durch die Mehrheitsverhältnisse nicht zuletzt in der Kurie wieder sehr viel mehr vom Geist des Ersten Vatikanums aufgreift und realisiert und sich eine ideale Einheit vorstellt, wie sie das Erste Vatikanum glaubte, umschreiben zu können und festzuhalten.
Also, ich bin mir nicht ganz sicher, wie ein solches Konzil dann laufen würde. Ich wäre nicht ohne Sorge, dass es wieder in konservative Bahnen zurückfallen wird. Denn es ist ja nun zweifellos für jemanden, der für die Einheit der universalen Kirche verantwortlich ist, das Amt universalkirchlicher Einheit lebt – und das ist nun mal die Aufgabe der römischen Kurie –, natürlich sehr viel leichter, sich eine Einheit im Sinne des Ersten Vatikanums vorzustellen als eine höchst differenzierte und vielgestaltige Einheit mit vielen Zentrifugalkräften, wo es schwierig ist, das Ganze eben zusammenzuhalten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Peter Neuner: "Der lange Schatten des I. Vatikanums. Wie das Konzil die Kirche heute noch blockiert"
Herder Verlag, Freiburg 2019
240 Seiten, 28 Euro

Mehr zum Thema