Erster Weltkrieg

Die Urkatastrophe verstehen

Die ersten deutschen Soldaten überqueren zu Beginn des 1. Weltkriegs 1914 die französische Grenze.
Deutsche Soldaten überqueren zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 die französische Grenze. © picture alliance / dpa
Rezensiert von Winfried Sträter · 29.12.2013
Er fegte die alte Welt hinweg und haftet seit vier Generationen im kollektiven Gedächtnis: der Große Krieg. Sein Beginn wurde von vielen noch euphorisch begrüßt. An seinem Ende waren zu bilanzieren: 17 Millionen Tote, eine in Trümmer gestürzte Weltordnung und ungestillte Revanchegelüste. Der Erste Weltkrieg veränderte alles. Herfried Münkler schildert diese «Urkatastrophe» des 20. Jahrhunderts.
Bemerkenswerter Auftakt eines Buches über den Ersten Weltkrieg: Es beginnt 1991, auf dem Balkan. In den Balkankriegen nach der Auflösung Jugoslawiens "zeichneten sich erneut die innereuropäischen Konfliktlinien von 1914 ab", schreibt Herfried Münkler: Der Erste Weltkrieg ist kein Ereignis einer fernen Vergangenheit, sondern ein Geschehen, das uns in seinen Wirkungen bis heute erschreckend nahe ist.
Wie wenig wir begriffen haben, was damals geschah, hat Christopher Clark eindrucksvoll belegt. Die Bilder von der Entstehung dieses Krieges waren noch geprägt von den Deutungsmustern, die nach 1918 in die Welt gesetzt wurden. Wie Clark zeichnet auch Münkler ein komplexeres Bild von der Entstehung des "Großen Krieges", allerdings kommt das deutsche Kaiserreich nicht ganz so ungeschoren davon wie bei Clark. Kritisch sieht er vor allem die Rolle des deutschen Militärs und das Verhältnis zwischen Militär und Politik. Die strategischen Planungen der Reichswehr versperrten der Politik die Wege, um die Julikrise 1914 noch politisch zu lösen: "Der Generalstab und nicht die Regierung entschied, welche politischen Optionen zur Verfügung standen."
An diesem Punkt wird bereits ein Muster sichtbar, das sich durch den ganzen Krieg ziehen wird und das Münkler treffend analysiert: "Die Geschichte des Krieges stellt einen Lernprozess dar, der sich auf unterschiedlichen Ebenen vollzogen hat: Es gab ein taktisches Lernen, ein strategisches Lernen, ein politisches Lernen." Die Deutschen lernten im Bereich der militärischen Taktik, aber ihren Akteuren fehlte der Sinn für politisches Lernen. Das erwies sich nicht nur beim Kriegsausbruch als verhängnisvoll, sondern im gesamten Kriegsverlauf.
Bereit zum totalen Krieg
Noch Anfang 1918, als der Friedensvertrag mit Russland verhandelt wurde, öffnete sich für das Deutsche Reich eine Tür für einen Ausstieg aus dem Krieg ohne demütigende Niederlage. Das Auswärtige Amt kämpfte vergeblich um eine diplomatische Lösung. Stattdessen setzte sich die Oberste Heeresleitung - General Ludendorff - mit einer aggressiven und riskanten Kriegsstrategie durch, die wenige Monate später in den militärischen Zusammenbruch mündete. Ludendorff war der Kopf einer neuen Generation von politisierenden Kriegern, die der "Große Krieg" hervorgebracht hatte: rücksichtslos gegenüber der eigenen Gesellschaft wie auch gegenüber allen herkömmlichen Regeln internationaler Beziehungen, innenpolitisch bereit zum totalen Krieg, außenpolitisch zur skrupellosen Expansion nach Osten.
Münkler unternimmt mit seinem Buch den groß angelegten Versuch, den Krieg 1914 - 18 in seiner ganzen Komplexität zu erfassen - und dies ist ihm auf beeindruckende Weise gelungen. Das Phänomen der Kriegsbegeisterung, die Rolle der Intellektuellen und Meinungsmacher, das Scheitern des Schlieffenplans, das Grauen in den Schützengräben, See- und Luftkrieg, britische, französische, russische Strategien, der Niedergang der k.u.k.-Monarchie und des Osmanischen Reiches, die Metamorphose der deutschen Heldenbilder während der Kriegsjahre: das sind einige Stichworte, die andeuten mögen, wie breit das Buch angelegt ist. Gewiss: Es enthält Strecken konventioneller Kriegsverlaufsdarstellungen. Wahrscheinlich sind sie in einem Buch, das den großen Krieg zum Thema hat, unvermeidlich.
Eine Welt von Feinden
Aber Münkler ändert rasch die Perspektive, bezieht literarische und Augenzeugen-Zitate ein, wechselt damit auch den Stil der Darstellung, weckt immer wieder neue Aufmerksamkeit und überrascht seine Leser. So bemerkt und begründet er, dass ausgerechnet Deutschland das größte Problem hatte zu begründen, warum es in den Weltkrieg zog. Das wiederum hatte unabsehbare Konsequenzen: Die Leere füllten Kriegszieldebatten, die unkontrollierbar wurden, aberwitzige Eroberungsgelüste weckten und dadurch den Krieg anheizten. Das ist eine der vielen scharfsinnigen Beobachtungen, die den Gewinn der Lektüre dieses Buches ausmachen.
Allerdings ist es kein Buch über „die Welt 1914 bis 1918“, wie der Untertitel verheißt. Vielmehr liefert Münkler eine breit angelegte politikwissenschaftliche Analyse des Ersten Weltkrieges als politisches Ereignis. Politiker und Militärs kalkulierten mit dem Krieg, um Großmachtstatus zu verteidigen (die Habsburger Monarchie, Russland) oder das aufstrebende Deutschland in die Schranken zu weisen (Großbritannien, Frankreich) oder sich gegen eine Welt von Feinden zu behaupten (Deutschland). Sie alle unterschätzten die Unkalkulierbarkeit des Krieges: "Die politischen Eliten (haben) sich schlichtweg verrechnet und vom Krieg etwas erwartet, was dieser zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr zu bieten hatte: einen Sieg auf ganzer Linie."
Das ist die Botschaft dieses Buches: Ein Jahrhundert später haben wir noch – beziehungsweise wieder - mit den ungelösten Konflikten, den Hinterlassenschaften dieses Krieges zu tun und stehen vor der Herausforderung, diese politisch zu lösen, ohne Krieg ins Kalkül einzubeziehen. Am Ende dieses Buches ahnt man, wie groß diese Herausforderung heute ist, trotz der desillusionierenden Erfahrungen der letzten hundert Jahre.

Herfried Münkler: Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918.
Rowohlt, Berlin 2013
928 Seiten, 29,95 Euro

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