Ersehnte Worte

11.03.2010
Den 100 Liebesgedichten, die Michael Lentz jetzt unter dem Titel "Offene Unruh" vorlegt, ist jenes Zittern eingeschrieben, von dem Liebende wissen. "Mein Ruh ist hin" – so beschreibt es Gretchen in Goethes "Faust". Lentz greift den Gedanken von der verlorenen Ruhe in seinen Gedichtband auf, den er in zehn Kapitel gegliedert hat.
"Ich zittre und merkte / ich bin verliebt", heißt es in einem Gedicht. Ruhe findet das lyrische Ich selten. Durch die Liebe ist es wie die Unruh einer Uhr in Schwung geraten.

Die fehlende Ruhe ist in diesen Gedichten ein Zeichen dafür, dass die Liebe keinen Stillstand duldet. Mit allen Sinnen ist das lyrische Ich auf ein Du fixiert und reagiert auf jedes Wort der Geliebten empfindlich. Von zarten wird es umschmeichelt, verletzende hinterlassen Narben. Liebende müssen lernen, mit diesen Worten umzugehen, mit den Trunkenen und Nüchternen ebenso wie mit den Zärtlichen und den Hingedonnerten. Vor allem aber ist das lyrische Subjekt in den Gedichten von Michael Lentz irritiert, wenn ihm das vielsagende Schweigen der Geliebten Rätsel aufgibt. Wenn es nicht zu deuten versteht, warum kein Wort über jene Lippen kommt, an denen es hängt. "dein schweigen ist kolossal / es ist ein Mörser und zermörsert mich" heißt es in dem Gedicht "an niemand". Wenn jedes Wort fehlt, wenn nichts gesagt wird, dann befindet sich das lyrische Ich im freien Fall: "Was ist das denn für eine art / nicht zu antworten". Scheinbar wartet es "nur" Worte, aber wer ersehnte Worte vermisst, der stirbt im kalten Schweigen tausend Tode. Und besorgt wird nachgefragt: "ob die worte in dir vielleicht nur klemmen".

Michael Lentz spielt in den 100 Gedichten alle Stimmungslagen der Liebe durch und spart keine Töne aus. Weder die verheißenden, wenn die Liebe vor lauter Glück in den höchsten Tonlagen besungen wird noch die trauernden, wenn Ungewissheit das lyrische Ich schier verzweifeln lässt: "in den höchsten tönen / will unsere liebe gesungen sein / und in den höchsten tönen singen wir / die tiefsten mit / und singen in den tiefsten die höchsten".

Ratlosigkeit ein weiteres starkes Gefühl, dem der Autor in den Gedichten nachgeht. Lentz fragt immer wieder nach - und dabei hinterfragt er. Kein Gefühl wird einfach akzeptiert, sondern Stimmungslagen werden seziert, weil es herauszufinden gilt, was es mit diesem bewegten und nie gleichen Gefühlszustand auf sich hat. Aber mit gleicher Intensität schreibt er auch dem Liebesgefühl hinterher, wenn es Anstalten macht, sich zu verflüchtigen. Darin besteht die Spannung in diesem Gedichtband.

Erfasst von einem starken Gefühl unternimmt Lentz eine Reise, die ins Ungewisse führt. Das macht ihn oft ratlos und versetzt ihn immer wieder in "Unruh". Gerade weil hier jemand spricht, der er sich an keiner Stelle seines Gefühls sicher ist und nur zu gut weiß, dass ihn die Liebe bei nächster Gelegenheit verlassen kann, zittert man mit ihm mit. Ohne sich zu verstecken, sondern 'offen' und somit ungeschützt wird in diesen Gedichten über Liebesglück und -leid gesprochen. Die Lektüre dieser Gedichte wird zu einem Erlebnis, weil man lesend an einem Wechselbad der Gefühle teilhat. Das ist hochgradig irritierend und könnte nur noch dadurch eine Steigerung erfahren, würde man die Gedichte von Michael Lentz vorgetragen hören.

Über den Autor: Der 1964 in Düren geborene Michael Lentz ist nicht nur Musiker, sondern auch Professor am Literaturinstitut in Leipzig. Er promovierte 1999 mit einer Arbeit über "Lautpoesie und –Musik nach 1945. Legendär sind die Lesungen von Michael Lentz, der es versteht, seine Texte zu Gehör zu bringen. Der Lyriker schreibt aber auch Prosa. Für seine Erzählung "Muttersterben" erhielt er 2001 den Ingeborg-Bachmann-Preis. 2003 erschien sein erster Roman mit dem Titel "Liebeserklärung" und 2007 folgte "Pazifik-Exil". Nun legt Michael Lentz mit "Offene Unruh" wieder einen Lyrik-Band vor.


Besprochen von Michael Opitz

Michael Lentz, Offene Unruh – 100 Liebesgedichte,
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010, 176 Seiten, 16,95 Euro.
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